„Amerikatsi“: Ein Gefangener in der fremden Heimat

Armenien während der 1940er Jahre: Inmitten der sowjetischen Besatzung entfaltet sich die Geschichte eines Amerikaners, der in einem fremden Land durch Missverständnisse in Gefangenschaft gerät. Amerikatsi (2022) von Michael A. Goorjian überzeugt mit visueller Eleganz, doch seine Darstellung von Unterdrückung und Gefängnisalltag bleibt stellenweise oberflächlich.

 

Ein Mann, dessen Leben von Missverständnissen bestimmt wird, sitzt allein in einer Gefängniszelle und blickt durch ein kleines Fenster auf die Welt jenseits der Mauern. Dieses Fenster ist nicht nur seine Verbindung zur Außenwelt; es wird zu einem Medium, durch das er Menschlichkeit, Hoffnung und Inspiration entdeckt. In Amerikatsi, einem poetischen Drama über Identität, Entfremdung und Zugehörigkeit, übernimmt der armenisch-amerikanische Filmemacher Michael A. Goorjian nicht nur die Regie, sondern verkörpert auch die Hauptfigur, einen Heimatlosen in seinem eigenen Land.

 

In der Nachkriegszeit der späten 1940er kehrt der Protagonist, ein in Amerika aufgewachsener Armenier, in das sowjetisch besetzte Armenien zurück. Doch seine auffällige Krawatte – ein Symbol westlicher Identität – macht ihn verdächtig und wird ihm schließlich zum Verhängnis: Durch sprachliche Barrieren und daraus resultierende, absurde Missverständnisse wird er zu einem Geständnis genötigt und landet hinter Gittern. Diese Prämisse gibt den Ton des Films vor: Amerikatsi ist eine Geschichte voller Kontraste – zwischen Freiheit und Gefangenschaft, Sehnsucht und Realität, Isolation und Verbundenheit.

 

Das zentrale Element des Films ist das kleine Fenster in der Gefängniszelle. Es wird zur Bühne eines wortlosen Dramas: Während der „Amerikaner“ das Leben des Bewohners im Wohnhaus gegenüber, Tigran, beobachtet, entfaltet sich eine stille Kommunikation zwischen den beiden. Der „Amerikaner“ ahmt Tigrans Alltag nach, indem er dessen künstlerische Aktivitäten beobachtet und sich von ihnen inspirieren lässt. Er sieht, wie Tigran in seiner Wohnung Bilder aus Asche und Blumen malt, und beginnt daraufhin selbst, mit Steinen und Scherben ein Muster auf seiner Fensterbank zu legen. Später greift er aktiv in Tigrans Leben ein, indem er Botschaften an ihn schickt und schließlich Antworten von ihm erhält, wodurch ein lautloser Austausch entsteht. Besonders bemerkenswert ist die visuelle Gestaltung dieses schweigsamen Dialogs: Wie in einem Stummfilm erleben wir expressives Spiel und leise Musik, die das Geschehen untermalt. Durch die Nähe zu Mimik und Gestik des Protagonisten sowie die einfühlsame musikalische Begleitung, wird der Zuschauer nicht nur zum Beobachter, er spürt seine Emotionen hautnah – Einsamkeit, Sehnsucht und die Freude über kleinste Verbindungen. Der „Amerikaner“ zeigt dabei eine Mischung aus Sensibilität und Neugier, indem er die Welt um sich aufmerksam beobachtet und kreativ auf sie reagiert. Die Kameraarbeit verstärkt diesen Effekt. Naheinstellungen auf das Fenster kontrastieren mit weiten Totalen des kahlen Gefängnishofs. Die Farben des Films sind dezent, fast blass, wodurch die karge, düstere Atmosphäre der sowjetischen Nachkriegszeit spürbar wird. Dennoch bricht gelegentlich Licht durch, vor allem in Szenen, die Hoffnung symbolisieren –  wie in dem Moment, in welchem Tigran die Vorhänge seiner Fenster öffnet, um dem „Amerikaner“ indirekt zu danken.

 

Quelle dieses Filmstills sowie des Titelbilds: https://www.gorki.de/de/amerikatsi.

 

Ein wesentliches gestalterisches Mittel des Films sind die Sprachbarrieren, die die Kommunikation zwischen den Charakteren und insbesondere zwischen dem Protagonisten und seiner Umgebung erschweren. Der „Amerikaner“ spricht Englisch, eine Sprache, die ihn als Außenseiter in der sowjetischen Gesellschaft kennzeichnet, während die Gefängniswächter Russisch und die Stadtbewohner Armenisch sprechen. Diese Vielsprachigkeit ist nicht nur Element der Handlung, sie macht zudem die tiefere Isolation des Protagonisten spürbar. Sie verstärkt sein Gefühl, nicht dazuzugehören und verdeutlicht seine Schwierigkeiten, sich in einer neuen und fremden Welt zurechtzufinden. Der „Amerikaner“ wird somit in einem Umfeld platziert, in dem er weder sprachlich kommunizieren kann noch die ungeschriebenen Regeln und Gesten der Gesellschaft versteht, was ihn in eine ständige Position des Missverständnisses und der Passivität versetzt. Diese sprachliche Distanz ist jedoch mehr als ein praktisches Hindernis – sie steht für eine komplexe Deplatzierung: das Amerikanische im Armenischen, das Armenische im Sowjetischen und die Identitätskonflikte, die daraus erwachsen. So wird deutlich, dass in Amerikatsi nicht einfach zwei Welten – West und Ost – aufeinanderprallen. Der Film zeigt vielmehr, wie Armenien selbst zwischen den Systemen zerrieben wird und der Protagonist dadurch in einen kulturellen Schwebezustand gerät, in dem Verständigung nur noch in kleinen Gesten und Blicken möglich ist.

 

Trotz dieser Barrieren zeigt der Film jedoch auf eindrucksvolle Weise, dass menschliche Verbindung und Kommunikation weit über sprachliche Grenzen hinausgehen. Die Handlungen und Gesten der Charaktere entwickeln sich zu einer eigenen, beinahe universellen Sprache – zumindest in den Momenten, in denen einfache, menschliche Botschaften wie Dankbarkeit, Freude oder Mitgefühl übermittelt werden können. Besonders in den Szenen zwischen dem „Amerikaner“ und Tigran, in denen beide keine direkten Gespräche führen, aber dennoch eine tiefe, stille Beziehung aufbauen, wird diese nonverbale Kommunikation deutlich. Zuerst sendet der „Amerikaner“ Tigran eine Zeichnung, auf der er ihm zeigt, wo der Schlüssel liegt, den Tigran zuvor vergeblich gesucht hatte. Der Schlüssel wird so zu einem Symbol für das erste Aufbrechen von Distanz zwischen beiden. Als Tigran schließlich den Schlüssel findet, bedankt er sich, indem er dem Amerikaner Essen schickt. Solche ruhigen, aber bedeutungsvollen Gesten verdeutlichen, dass menschliche Verbindung nicht zwangsläufig auf Worten basieren muss.

 

Trotz seiner Stärken bleibt Amerikatsi nicht frei von Schwächen. Der Film greift komplexe Themen wie Unterdrückung und persönliche Freiheit auf, präsentiert sie jedoch oft in einer stark romantisierten Weise. Insbesondere die Gefängnisszenen – in denen der „Amerikaner“ mehr als Beobachter denn als Gefangener erscheint – wirken unrealistisch. Seine Interaktionen mit Tigran, die fast märchenhafte Züge tragen, lassen die Härte des Gefängnisalltags verblassen. Es entsteht der Eindruck, dass das Gefängnis mehr als Kulisse für eine emotionale Geschichte dient, statt eine authentische Darstellung des harten, repressiven Systems zu bieten, in dem der „Amerikaner“ lebt. Während der Film die psychische Belastung und die Isolation des Protagonisten thematisiert, bleibt die Repräsentation der realen Konsequenzen des Gefängnislebens oberflächlich. Diese Schwäche auf der realistischen Ebene wird jedoch durch eine symbolische Lesart teilweise aufgefangen: Das Gefängnis lässt sich auch als Bild für politische Unfreiheit innerhalb der Sowjetunion und für Armeniens Rolle darin verstehen. Der „Amerikaner“, eine Figur zwischen den Welten, verweist aus seiner Perspektive auf einen möglichen Ausweg. Wenn er Tigran auf den verlorenen Schlüssel hinweist, wird das zur Metapher für eine Öffnung – innerlich wie politisch.

 

Amerikatsi ist ein Film über die Kraft von Hoffnung und Kunst in dunkelsten Zeiten. Trotz einiger Schwächen hinsichtlich der Tiefe seiner politischen und sozialen Darstellung überzeugt der Film durch seine visuelle Ästhetik und die universellen Themen von Menschlichkeit und Verbindung. Der Fensterblick wird zur Metapher: für die Sehnsucht nach Freiheit und die Möglichkeit, selbst in Isolation einen Funken Inspiration zu finden. Goorjians Werk ist ein stilles, fast poetisches Drama, das den Zuschauer mit einem Lächeln und einem Hauch von Melancholie zurücklässt.

 

Amerikatsi, Regie: Michael A. Goorjian, Armenien 2022, 116 Min.

Quelle des Filmplakats: https://www.rottentomatoes.com/m/amerikatsi/reviews.

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