http://www.novinki.de

Andrić ist Serbe – Es blieb uns nichts anderes übrig, als einen Anwalt einzuschalten

Posted on 30. Januar 2013 by novinki

Interview mit Dragan Dragojlović, Leiter der Ivo-Andrić-Stiftung in Belgrad und Schriftsteller

novinki: Die Feier zum 50. Jubiläum der Vergabe des Nobelpreises an Ivo Andrić wird von einem Gerichtsprozess überschattet, der zwischen der Ivo-Andrić-Stiftung und dem kroatischen Kulturverein Matica hrvatska aus Sarajevo ausgefochten wird. Ihre Stiftung hat die Matica hrvatska verklagt, weil sie vier Werke Andrićs in der Reihe „Kroatische Literatur Bosnien-Herzegowinas in 100 Bänden“ veröffentlichte. Die Stiftung wehrt sich gegen die Zuordnung Andrićs zur kroatischen Literatur. Warum?

Dragan Dragojlović: Der Rechtsstreit dauert noch an, aber er begann bereits vor einigen Jahren. Die Matica hrvatska aus Sarajevo wandte sich an die Stiftung mit der Bitte, vier Werke von Andrić in der Reihe „Kroatische Literatur Bosnien-Herzegowinas in 100 Bänden“ zu drucken. Andrić hat indes seine Wahl getroffen: Über 97% seiner Werke verfasste er im serbischen Ekavisch. Er entschied sich nicht nur dafür, Teil der serbischen Literatur, sondern auch der serbischen Nation zu sein. Die Stiftung steht auf dem Standpunkt, dass die Wahl Andrićs respektiert werden muss. Es geht also nicht darum, dass wir als Stiftung oder Verwaltungsrat Andrić zu einem serbischen Schriftsteller erklären, sondern es ist einfach unsere moralische Verpflichtung, Andrićs Taten und Entscheidungen Rechnung zu tragen. Im Einklang damit erteilte die Stiftung keine Genehmigung, seine Werke in der erwähnten Reihe zu publizieren. In einem Brief wurde erläutert, dass es in dieser Reihe nicht, in jeder anderen aber ginge. Dennoch erschienen die Bücher in dieser Reihe, ohne dass man uns benachrichtigte. Wir erfuhren davon nachträglich per Zufall. Wir bemühten uns zunächst um eine friedliche Einigung. Doch es gab keine Antwort und so blieb uns nichts anderes übrig, als einen Anwalt einzuschalten und ihn zu bitten, die erforderlichen rechtlichen Schritte einzuschlagen. Ich kann mich ärgern oder nicht damit einverstanden sein, wenn Sie mir etwas verweigern, aber das berechtigt mich noch nicht dazu, mir das Verweigerte zu nehmen. Die Ivo-Andrić-Stiftung ist der alleinige Inhaber der Autorenrechte von Andrić. Egal, welche Motive hier im Spiel sind, niemand kann sich diese Rechte ohne unsere Zustimmung nehmen. Aus juristischer Sicht ist die Sache klar. Jemand bemächtigte sich der Rechte, die ihm verweigert wurden. Das Schlimme dabei ist, dass dieser jemand in der Vergangenheit Mitglied des Verwaltungsrates der Stiftung war. Er wusste ganz genau, wie die Dinge funktionieren, es war eine vorsätzliche Tat. Wir zogen vor Gericht nicht deshalb, weil es um die Matica hrvatska von Bosnien-Herzegowina ging, sondern um unsere Rechte zu schützen. Wir haben auch einmal den Verleger Dereta aus Belgrad verklagt, der sich gegenüber den Vertragsverpflichtungen taub stellte. Niemand steht über den Rechten. Dann wird das Gericht eingeschaltet, da gibt es keine andere Wahl. Unser Anwalt aus Sarajevo hat die Klage eingereicht, und das erste Urteil fiel zu unseren Gunsten aus, denn die Sache war offensichtlich. Die andere Seite hat Widerspruch eingelegt und der Fall ist jetzt beim Kantonalgericht. Wir wissen nicht, wie lange es dauern wird, denn das ist der Balkan. Wäre es nicht der Balkan, wäre der Fall schon abgeschlossen. Inzwischen wird bestritten, dass die Autorenrechte Ivo Andrićs bei der Stiftung liegen, und zwar von dem Mann, der Mitglied des Verwaltungsrates der Stiftung war. Warum war er denn jahrelang Mitglied einer Institution, die illegal und illegitim ist? Es wurden Geschichten darüber lanciert, dass Andrićs Testament zehn Seiten beinhalte, und in Wirklichkeit geht es um nicht einmal eine Seite mit vier Punkten. Das Wesentliche ist: Nach allem, was passiert ist, können Serben und Kroaten keinen Streit über Dinge gebrauchen, die unstrittig sind. Denn solange es uns gibt, werden wir in diesen Breitengraden – Serben, Kroaten und alle ehemaligen Jugoslawen – nebeneinander leben. Ist es denn nicht besser zusammenzuarbeiten, wo es geht, statt zu hadern, wo es dazu keinen Grund gibt? Denn niemand hier bestreitet, dass Andrić in einer katholischen, einer kroatischen Familie zur Welt kam. Aber für die Zugehörigkeit zu einer Nationalliteratur ist es unerheblich, in was für einer Familie man geboren wurde, ob man katholisch, orthodox, muslimisch oder vielleicht nicht gläubig ist. Ivo Andrić ist ja nicht der Einzige, der in einer ethnisch-religiösen Umgebung aufwuchs, um sich dann später für etwas anderes zu entscheiden. In der Weltliteratur gibt es eine ganze Reihe von Schriftstellern, die in einem Volk geboren wurden und sich der Sprache eines anderen Volkes bedienten. Nehmen Sie nur Joseph Conrad, den großen britischen Schriftsteller, der seiner Geburt nach Pole ist. Der bedeutende amerikanische Dichter Charles Simic kam hier in der Nachbarschaft, 200 Meter entfernt, zur Welt, als Kind orthodoxer, serbischer Eltern. Er schreibt aber in englischer Sprache, er ist ein amerikanischer Dichter. Es wäre doch verrückt, zu behaupten, er sei ein serbischer Dichter. Wie kann er denn ein serbischer Dichter sein, wenn er auf Englisch schreibt? Man kann von seiner serbischen Herkunft sprechen, die ist allerdings für die Literatur unerheblich. In Australien gibt es einen Serben aus der Šumadija, Wongar heißt er. Geboren wurde er als Sreten Božić, seine Texte unterschreibt er aber mit „B. Wongar“. Man hält ihn in der Regel für einen Aborigine, weil er viel über die Aborigines geschrieben hat. Ich kenne ihn persönlich, wir waren befreundet, als ich in Australien lebte. Der Mann hat Englisch gelernt und schreibt nur auf Englisch. Folglich ist er ein australischer Schriftsteller. Seine serbische Herkunft ist unwichtig. Und zu unserer Situation: Wir lebten lange in einem Land, in dem es die serbokroatische Sprache gab. Und wir nannten uns alle jugoslawische Schriftsteller, ich selbst habe auch nie gesagt, ich sei ein serbischer Schriftsteller. Wo sind die Schriftsteller geblieben, als das Land von der Bildfläche verschwand? Sie sind in der Sprache geblieben, in der sie schrieben. Das ist das Wesentliche. Der Schriftsteller gehört zu der Literatur, in deren Sprache er schreibt.

n.: Handelt es sich um den ersten Gerichtsprozess dieser Art?

D.D.: Die Stiftung hat auch früher keine Genehmigungen für solche nationalen Zuordnungen erteilt. Wenn ich Kroate wäre, würde ich es vielleicht auch bedauern, dass Andrić sich dafür entschieden hat, serbischer Schriftsteller zu sein. Aber was soll man da machen? Die Sache ist abgeschlossen, der Mann ist tot, man kann nichts mehr korrigieren. Und diejenigen, die am Leben sind, haben vor allem die Pflicht, den Willen der Toten zu achten. Wir als Stiftung, die Andrić ja gegründet hat, damit sie sich um sein Werk und seinen Namen kümmert, haben keine andere Wahl. Ich zeige Ihnen Kopien von Dokumenten, in denen er explizit erklärt, er sei serbisch. 1942, als der Verlag Srpska književna zadruga ihn bat, eines seiner Werke drucken zu lassen, antwortete er in einem Brief: „Als serbischer Erzähler würde ich unter normalen Umständen mein Einverständnis erklären, aber in diesen Kriegszeiten tue ich es nicht.“ Das war sehr mutig von ihm, denn 1942 regierte hier Milan Nedić in Zusammenarbeit mit Deutschland. Andrić lehnte ab und setzte damit sein Leben aufs Spiel. Dann ein Beispiel aus dem Jahr 1947, als die Matica hrvatska aus Zagreb einen Band mit seinen Erzählungen herausbrachte. Sobald er das Paket mit den Büchern erhalten hatte, verfasste er einen Brief an die Matica hrvatska: „Sobald ich die Bücher aufschlug, erkannte ich, dass unzulässige Dinge gemacht wurden.“ Die Matica hrvatska hatte nämlich seine ekavische Sprache kroatisiert – „hleb“ wurde in „kruh“ korrigiert, „voz“ in „vlak“ usw. Es ist ausgeschlossen, dass Ivo Andrić 1947 nicht wusste, in welcher Sprache er schrieb, ebenfalls ist es nicht möglich, dass die Leute von der Matica hrvatska dies nicht wussten. Als Andrić in diesem Brief ankündigte, dass er über das unzulässige Verfahren den Schriftstellerverband Jugoslawiens informieren würde, entschuldigte sich die Matica hrvatska mit der Behauptung, der Lektor trage die Verantwortung. Eine neue Auflage mit 5000 Exemplaren wurde gedruckt – so, wie Andrić schrieb, ekavisch. In Andrićs Personalausweis aus dem Jahr 1951 – damals wurde in Personalausweisen auch die Nationszugehörigkeit angegeben – steht: „Nationszugehörigkeit: serbisch“. Das ist ein persönliches Dokument, das er täglich mit sich trug. Aus dem Jahr 1951 stammt ebenfalls sein Militärausweis, hier steht in der Rubrik Nationszugehörigkeit auch „Serbe“. Das kann ich Ihnen zeigen.

n.: Könnten Sie das kopieren?

D.D.: Selbstverständlich, das sind öffentliche Dokumente, die aus Museen stammen. Hier, sehen Sie, sein Personalausweis: „Nationszugehörigkeit: serbisch“. Oder hier der Beschluss, als er in den Bund der Kommunisten aufgenommen wurde. Der Beschluss ist von Freitag, dem 13. Dezember 1954. Es heißt: „Die Hauptorganisation des Bundes der Kommunisten Serbiens beim Schriftstellerverband Serbiens beschließt nach der Diskussion in der Sitzung vom 13. Dezember 1954 folgendes: Genosse Ivo Andrić, geboren 1892 in Travnik, Beruf Schriftsteller, Nationszugehörigkeit serbisch, wird Mitglied im Bund der Kommunisten Jugoslawiens.“ Hier haben wir das Aufnahmeblatt, das jeder Kandidat ausfüllen musste: „Nationszugehörigkeit: serbisch“. Das hat er eigenhändig in kyrillischer Schrift ausgefüllt und unterschrieben, hier sehen Sie: Ivo Andrić. Wir sollten hier weder etwas unterschlagen noch hinzufügen. Der Mann hatte seine Entscheidung getroffen. Das Dokument wird im Museum Jugoslawiens, der Personalausweis sowie der Militärausweis im Andrić-Museum aufbewahrt. Was soll man jetzt machen? Sollten Serben und Kroaten über Sachen streiten, die absolut absurd sind? Wir haben die Kopien der Dokumente in Večernje novosti, dem auflagenstärksten Blatt in Serbien, abdrucken lassen, denn viele hier, auch diejenigen, die sich mit Andrić beschäftigen, kannten sie nicht. Wir wollten die Menschen einfach mit den Tatsachen bekannt machen.

n.: In Zagreb argumentiert man, dass Andrić Befürworter einer integralen jugoslawischen Nation gewesen sei. Seiner Wahl des Ekavischen wird keine große Bedeutung beigemessen, man hält sie für einen Ausdruck des integralen Jugoslawentums bzw. der Verwirklichung der Idee von Jovan Skerlić, wonach die Serben die kyrillische Schrift und die Kroaten die ijekavische Aussprache aufgeben sollten, damit alle sich des Ekavischen und der lateinischen Schrift bedienen könnten. In Zagreb wird betont, dass Andrić nie ausdrücklich bestritt, zur kroatischen Literatur zu gehören, bzw. nie ausdrücklich sagte, ein nur serbischer Schriftsteller zu sein. Doch Ihres Erachtens lässt sich Andrić nicht als Jugoslawe oder Kroate charakterisieren?

D.D.: Es ist unbestritten, dass Andrić in seiner Jugend ein integraler Jugoslawe war. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als viele Serben begannen, sich als Jugoslawen eintragen zu lassen, deklarierte sich dieser integrale Jugoslawe Ivo Andrić als Serbe, im Personalausweis, im Militärausweis und im Aufnahmeblatt des Bundes der Kommunisten. Das ist derselbe Mann, nur hier älter und reifer. Man kann darüber denken, was man will, ich bestehe nur auf den Tatsachen, die so sind wie sie sind, und die ihre Bedeutung haben.

n.: Wie deuten Sie die Verwandlung des integralen Jugoslawen Andrić in einen Serben?

D.D.: Ich kann nichts dazu sagen, warum er das getan hat, ich kann aber sagen, dass er diese Verwandlung vollzogen hat. Was waren seine Motive? Er war ein Mensch, der wenig erzählte und erklärte. Ich bin auch neugierig, warum er sich als Serbe erklärte. Er war ein außerordentlich intelligenter, gebildeter Mann mit einem ausgeprägten historischen Bewusstsein, ein seltener Kenner des Balkans und des Lebens überhaupt. Fünfzig Jahre nach dem Nobelpreis werden seine Werke nicht nur in Europa übersetzt und gelesen, sondern von Brasilien über Korea bis Japan. Nehmen wir Korea – ein ganz anderer Kulturkreis, eine andere Tradition, eine andere Religion, alles ist anders, aber sie lesen Andrićs Bücher. Warum? Weil diese so lebensnah sind. Die Leser dort müssen die Informationen, über die wir verfügen, nicht haben, aber sie spüren die Energie des Lebens. Ein Mensch mit solcher Kenntnis des Lebens und der Geschichte hat seine Wahl getroffen. Das kann kein Zufall sein und sicher hat ihn niemand dazu überredet. Aber auf die Frage nach dem Warum habe ich keine Antwort, denn er hinterließ keine Erklärung. Mir als Leiter der Ivo-Andrić-Stiftung bleibt nichts anderes übrig, als auf Tatsachen hinzuweisen und alle Menschen dazu aufzurufen, nicht über Sachen zu streiten, die sich nicht ändern lassen. Andrić hat sich der serbischen Sprache bedient und sich als Serbe deklariert. Ich bin auch neugierig warum, habe aber keine Antwort parat.

n.: Zu jugoslawischen Zeiten galt Ivo Andrić als eine Brücke zwischen den Nationen. Heute würden ihn manche Bosniaken, wenn er noch am Leben wäre, nach Den Haag schicken. Man wirft ihm vor, Hass gegenüber dem Islam geschürt zu haben – z.B. durch die brutale Beschreibung der Pfählung eines serbischen Bauern durch die osmanischen Herrscher in der Brücke über die Drina (Na Drini ćuprija). Manche Serben versuchten gerade anhand seiner Literatur ausländische Politiker davon zu überzeugen, dass ein Zusammenleben der Serben, Muslime und Kroaten in Bosnien nicht möglich sei. Auch der norwegische Terrorist Anders Breivik beruft sich auf Andrić, um seine These, dass es für den Islam keinen Platz in Europa gibt, zu erhärten. Wie konnten die Bücher von Ivo Andrić zu einer Waffe in den Konflikten zwischen den bosnischen Nationen werden?

D.D.: Nicht Andrić ist das Problem, sondern die Interpreten. Er hat die Wahrheit geschrieben, er hat die Tatsachen benannt. Die Literatur muss, um angenommen zu werden, authentisch sein. Als Andrić über die Pfählung schrieb, hatte er keine Rache an den Muslimen im Sinn. Die Serben wissen, dass sie 400 Jahre lang gepfählt wurden, es geht nicht nur um diesen Helden an der Brücke. Aber wir wollen doch nicht ständig zurückblicken. Diejenigen, die Andrić kritisieren, schweigen über jene muslimischen Figuren bei Andrić, die phantastische, außerordentliche Menschen verkörpern. Wenn Sie Teile aus einer Einheit herausziehen und sie nach Ihrem Gusto interpretieren, können Sie aus jedem einen Teufel machen. Und Andrić ist in der Tat ein Schriftsteller der Wahrheit, nicht des Hasses. Ihn trifft keine Schuld an den Tatsachen. Und warum wir ihn für unsere politischen Ziele instrumentalisieren wollen? Das steht auf einem anderen Blatt. Viele, die ihn interpretieren, haben kein einziges seiner Werke gelesen. Aber das ist der Balkan. Gäbe es diesen Balkan nicht, wäre Andrić wiederum nicht so ein großer Schriftsteller. Ich bin überhaupt nicht der Meinung, dass Andrić, wenn er die Serben oder die Muslime oder wen auch immer kritisiert, einen Streit auslösen möchte. Seine Botschaft lautet: „Meine Herrschaften, schauen Sie in die Zukunft und nicht in die Vergangenheit, soll denn wieder Blut fließen?“

n.: Wie würden Sie die politische Botschaft von Andrićs Werk zusammmenfassen? War er ein Freund oder ein Feind des multikulturellen Bosnien?

D.D.: Andrićs Botschaft ist nicht der Hass. Er möchte den Leser dazu bringen, zu sagen, wollen wir diesen Kreis nicht endlich schließen? So lese ich Andrić. Für diejenigen, die sie erkennen wollen, sind seine Botschaften klar. Man klammert sich an eine Sache, die Pfählung, aber das gab es tatsächlich 400 Jahre lang. Dürfen wir das denn nicht sagen? Andrić hat über diese Dinge nicht geschrieben, damit sie sich wiederholen, sondern er sagt: „Meine Herren, Brüder, Genossen, damit müssen wir Schluss machen.“ So sehe ich Andrić. Wenn er den Hass schüren wollte, würde ihn doch niemand lesen. Niemand will den Hass, alle wollen die Wahrheiten des Lebens sehen.

Das Interview führten Ksenija Cvetković-Sander und Martin Sander.
Übersetzung von Ksenija Cvetković-Sander

Andrić ist Serbe – Es blieb uns nichts anderes übrig, als einen Anwalt einzuschalten - novinki
Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Andrić ist Serbe – Es blieb uns nichts anderes übrig, als einen Anwalt einzuschalten

Inter­view mit Dragan Dra­go­j­lović, Leiter der Ivo-Andrić-Stif­tung in Bel­grad und Schriftsteller

novinki: Die Feier zum 50. Jubi­läum der Ver­gabe des Nobel­preises an Ivo Andrić wird von einem Gerichts­pro­zess über­schattet, der zwi­schen der Ivo-Andrić-Stif­tung und dem kroa­ti­schen Kul­tur­verein Matica hrvatska aus Sara­jevo aus­ge­fochten wird. Ihre Stif­tung hat die Matica hrvatska ver­klagt, weil sie vier Werke Andrićs in der Reihe „Kroa­ti­sche Lite­ratur Bos­nien-Her­ze­go­winas in 100 Bänden“ ver­öf­fent­lichte. Die Stif­tung wehrt sich gegen die Zuord­nung Andrićs zur kroa­ti­schen Lite­ratur. Warum?

Dragan Dra­go­j­lović: Der Rechts­streit dauert noch an, aber er begann bereits vor einigen Jahren. Die Matica hrvatska aus Sara­jevo wandte sich an die Stif­tung mit der Bitte, vier Werke von Andrić in der Reihe „Kroa­ti­sche Lite­ratur Bos­nien-Her­ze­go­winas in 100 Bänden“ zu dru­cken. Andrić hat indes seine Wahl getroffen: Über 97% seiner Werke ver­fasste er im ser­bi­schen Eka­visch. Er ent­schied sich nicht nur dafür, Teil der ser­bi­schen Lite­ratur, son­dern auch der ser­bi­schen Nation zu sein. Die Stif­tung steht auf dem Stand­punkt, dass die Wahl Andrićs respek­tiert werden muss. Es geht also nicht darum, dass wir als Stif­tung oder Ver­wal­tungsrat Andrić zu einem ser­bi­schen Schrift­steller erklären, son­dern es ist ein­fach unsere mora­li­sche Ver­pflich­tung, Andrićs Taten und Ent­schei­dungen Rech­nung zu tragen. Im Ein­klang damit erteilte die Stif­tung keine Geneh­mi­gung, seine Werke in der erwähnten Reihe zu publi­zieren. In einem Brief wurde erläu­tert, dass es in dieser Reihe nicht, in jeder anderen aber ginge. Den­noch erschienen die Bücher in dieser Reihe, ohne dass man uns benach­rich­tigte. Wir erfuhren davon nach­träg­lich per Zufall. Wir bemühten uns zunächst um eine fried­liche Eini­gung. Doch es gab keine Ant­wort und so blieb uns nichts anderes übrig, als einen Anwalt ein­zu­schalten und ihn zu bitten, die erfor­der­li­chen recht­li­chen Schritte ein­zu­schlagen. Ich kann mich ärgern oder nicht damit ein­ver­standen sein, wenn Sie mir etwas ver­wei­gern, aber das berech­tigt mich noch nicht dazu, mir das Ver­wei­gerte zu nehmen. Die Ivo-Andrić-Stif­tung ist der allei­nige Inhaber der Autoren­rechte von Andrić. Egal, welche Motive hier im Spiel sind, nie­mand kann sich diese Rechte ohne unsere Zustim­mung nehmen. Aus juris­ti­scher Sicht ist die Sache klar. Jemand bemäch­tigte sich der Rechte, die ihm ver­wei­gert wurden. Das Schlimme dabei ist, dass dieser jemand in der Ver­gan­gen­heit Mit­glied des Ver­wal­tungs­rates der Stif­tung war. Er wusste ganz genau, wie die Dinge funk­tio­nieren, es war eine vor­sätz­liche Tat. Wir zogen vor Gericht nicht des­halb, weil es um die Matica hrvatska von Bos­nien-Her­ze­go­wina ging, son­dern um unsere Rechte zu schützen. Wir haben auch einmal den Ver­leger Dereta aus Bel­grad ver­klagt, der sich gegen­über den Ver­trags­ver­pflich­tungen taub stellte. Nie­mand steht über den Rechten. Dann wird das Gericht ein­ge­schaltet, da gibt es keine andere Wahl. Unser Anwalt aus Sara­jevo hat die Klage ein­ge­reicht, und das erste Urteil fiel zu unseren Gunsten aus, denn die Sache war offen­sicht­lich. Die andere Seite hat Wider­spruch ein­ge­legt und der Fall ist jetzt beim Kan­to­nal­ge­richt. Wir wissen nicht, wie lange es dauern wird, denn das ist der Balkan. Wäre es nicht der Balkan, wäre der Fall schon abge­schlossen. Inzwi­schen wird bestritten, dass die Autoren­rechte Ivo Andrićs bei der Stif­tung liegen, und zwar von dem Mann, der Mit­glied des Ver­wal­tungs­rates der Stif­tung war. Warum war er denn jah­re­lang Mit­glied einer Insti­tu­tion, die illegal und ille­gitim ist? Es wurden Geschichten dar­über lan­ciert, dass Andrićs Tes­ta­ment zehn Seiten beinhalte, und in Wirk­lich­keit geht es um nicht einmal eine Seite mit vier Punkten. Das Wesent­liche ist: Nach allem, was pas­siert ist, können Serben und Kroaten keinen Streit über Dinge gebrau­chen, die unstrittig sind. Denn solange es uns gibt, werden wir in diesen Brei­ten­graden – Serben, Kroaten und alle ehe­ma­ligen Jugo­slawen – neben­ein­ander leben. Ist es denn nicht besser zusam­men­zu­ar­beiten, wo es geht, statt zu hadern, wo es dazu keinen Grund gibt? Denn nie­mand hier bestreitet, dass Andrić in einer katho­li­schen, einer kroa­ti­schen Familie zur Welt kam. Aber für die Zuge­hö­rig­keit zu einer Natio­nal­li­te­ratur ist es uner­heb­lich, in was für einer Familie man geboren wurde, ob man katho­lisch, orthodox, mus­li­misch oder viel­leicht nicht gläubig ist. Ivo Andrić ist ja nicht der Ein­zige, der in einer eth­nisch-reli­giösen Umge­bung auf­wuchs, um sich dann später für etwas anderes zu ent­scheiden. In der Welt­li­te­ratur gibt es eine ganze Reihe von Schrift­stel­lern, die in einem Volk geboren wurden und sich der Sprache eines anderen Volkes bedienten. Nehmen Sie nur Joseph Conrad, den großen bri­ti­schen Schrift­steller, der seiner Geburt nach Pole ist. Der bedeu­tende ame­ri­ka­ni­sche Dichter Charles Simic kam hier in der Nach­bar­schaft, 200 Meter ent­fernt, zur Welt, als Kind ortho­doxer, ser­bi­scher Eltern. Er schreibt aber in eng­li­scher Sprache, er ist ein ame­ri­ka­ni­scher Dichter. Es wäre doch ver­rückt, zu behaupten, er sei ein ser­bi­scher Dichter. Wie kann er denn ein ser­bi­scher Dichter sein, wenn er auf Eng­lisch schreibt? Man kann von seiner ser­bi­schen Her­kunft spre­chen, die ist aller­dings für die Lite­ratur uner­heb­lich. In Aus­tra­lien gibt es einen Serben aus der Šuma­dija, Wongar heißt er. Geboren wurde er als Sreten Božić, seine Texte unter­schreibt er aber mit „B. Wongar“. Man hält ihn in der Regel für einen Abori­gine, weil er viel über die Abori­gines geschrieben hat. Ich kenne ihn per­sön­lich, wir waren befreundet, als ich in Aus­tra­lien lebte. Der Mann hat Eng­lisch gelernt und schreibt nur auf Eng­lisch. Folg­lich ist er ein aus­tra­li­scher Schrift­steller. Seine ser­bi­sche Her­kunft ist unwichtig. Und zu unserer Situa­tion: Wir lebten lange in einem Land, in dem es die ser­bo­kroa­ti­sche Sprache gab. Und wir nannten uns alle jugo­sla­wi­sche Schrift­steller, ich selbst habe auch nie gesagt, ich sei ein ser­bi­scher Schrift­steller. Wo sind die Schrift­steller geblieben, als das Land von der Bild­fläche ver­schwand? Sie sind in der Sprache geblieben, in der sie schrieben. Das ist das Wesent­liche. Der Schrift­steller gehört zu der Lite­ratur, in deren Sprache er schreibt.

n.: Han­delt es sich um den ersten Gerichts­pro­zess dieser Art?

D.D.: Die Stif­tung hat auch früher keine Geneh­mi­gungen für solche natio­nalen Zuord­nungen erteilt. Wenn ich Kroate wäre, würde ich es viel­leicht auch bedauern, dass Andrić sich dafür ent­schieden hat, ser­bi­scher Schrift­steller zu sein. Aber was soll man da machen? Die Sache ist abge­schlossen, der Mann ist tot, man kann nichts mehr kor­ri­gieren. Und die­je­nigen, die am Leben sind, haben vor allem die Pflicht, den Willen der Toten zu achten. Wir als Stif­tung, die Andrić ja gegründet hat, damit sie sich um sein Werk und seinen Namen küm­mert, haben keine andere Wahl. Ich zeige Ihnen Kopien von Doku­menten, in denen er explizit erklärt, er sei ser­bisch. 1942, als der Verlag Srpska književna zadruga ihn bat, eines seiner Werke dru­cken zu lassen, ant­wor­tete er in einem Brief: „Als ser­bi­scher Erzähler würde ich unter nor­malen Umständen mein Ein­ver­ständnis erklären, aber in diesen Kriegs­zeiten tue ich es nicht.“ Das war sehr mutig von ihm, denn 1942 regierte hier Milan Nedić in Zusam­men­ar­beit mit Deutsch­land. Andrić lehnte ab und setzte damit sein Leben aufs Spiel. Dann ein Bei­spiel aus dem Jahr 1947, als die Matica hrvatska aus Zagreb einen Band mit seinen Erzäh­lungen her­aus­brachte. Sobald er das Paket mit den Büchern erhalten hatte, ver­fasste er einen Brief an die Matica hrvatska: „Sobald ich die Bücher auf­schlug, erkannte ich, dass unzu­läs­sige Dinge gemacht wurden.“ Die Matica hrvatska hatte näm­lich seine eka­vi­sche Sprache kroa­ti­siert – „hleb“ wurde in „kruh“ kor­ri­giert, „voz“ in „vlak“ usw. Es ist aus­ge­schlossen, dass Ivo Andrić 1947 nicht wusste, in wel­cher Sprache er schrieb, eben­falls ist es nicht mög­lich, dass die Leute von der Matica hrvatska dies nicht wussten. Als Andrić in diesem Brief ankün­digte, dass er über das unzu­läs­sige Ver­fahren den Schrift­stel­ler­ver­band Jugo­sla­wiens infor­mieren würde, ent­schul­digte sich die Matica hrvatska mit der Behaup­tung, der Lektor trage die Ver­ant­wor­tung. Eine neue Auf­lage mit 5000 Exem­plaren wurde gedruckt – so, wie Andrić schrieb, eka­visch. In Andrićs Per­so­nal­aus­weis aus dem Jahr 1951 – damals wurde in Per­so­nal­aus­weisen auch die Nati­ons­zu­ge­hö­rig­keit ange­geben – steht: „Nati­ons­zu­ge­hö­rig­keit: ser­bisch“. Das ist ein per­sön­li­ches Doku­ment, das er täg­lich mit sich trug. Aus dem Jahr 1951 stammt eben­falls sein Mili­tär­aus­weis, hier steht in der Rubrik Nati­ons­zu­ge­hö­rig­keit auch „Serbe“. Das kann ich Ihnen zeigen.

n.: Könnten Sie das kopieren?

D.D.: Selbst­ver­ständ­lich, das sind öffent­liche Doku­mente, die aus Museen stammen. Hier, sehen Sie, sein Per­so­nal­aus­weis: „Nati­ons­zu­ge­hö­rig­keit: ser­bisch“. Oder hier der Beschluss, als er in den Bund der Kom­mu­nisten auf­ge­nommen wurde. Der Beschluss ist von Freitag, dem 13. Dezember 1954. Es heißt: „Die Haupt­or­ga­ni­sa­tion des Bundes der Kom­mu­nisten Ser­biens beim Schrift­stel­ler­ver­band Ser­biens beschließt nach der Dis­kus­sion in der Sit­zung vom 13. Dezember 1954 fol­gendes: Genosse Ivo Andrić, geboren 1892 in Travnik, Beruf Schrift­steller, Nati­ons­zu­ge­hö­rig­keit ser­bisch, wird Mit­glied im Bund der Kom­mu­nisten Jugo­sla­wiens.“ Hier haben wir das Auf­nah­me­blatt, das jeder Kan­didat aus­füllen musste: „Nati­ons­zu­ge­hö­rig­keit: ser­bisch“. Das hat er eigen­händig in kyril­li­scher Schrift aus­ge­füllt und unter­schrieben, hier sehen Sie: Ivo Andrić. Wir sollten hier weder etwas unter­schlagen noch hin­zu­fügen. Der Mann hatte seine Ent­schei­dung getroffen. Das Doku­ment wird im Museum Jugo­sla­wiens, der Per­so­nal­aus­weis sowie der Mili­tär­aus­weis im Andrić-Museum auf­be­wahrt. Was soll man jetzt machen? Sollten Serben und Kroaten über Sachen streiten, die absolut absurd sind? Wir haben die Kopien der Doku­mente in Večernje novosti, dem auf­la­gen­stärksten Blatt in Ser­bien, abdru­cken lassen, denn viele hier, auch die­je­nigen, die sich mit Andrić beschäf­tigen, kannten sie nicht. Wir wollten die Men­schen ein­fach mit den Tat­sa­chen bekannt machen.

n.: In Zagreb argu­men­tiert man, dass Andrić Befür­worter einer inte­gralen jugo­sla­wi­schen Nation gewesen sei. Seiner Wahl des Eka­vi­schen wird keine große Bedeu­tung bei­gemessen, man hält sie für einen Aus­druck des inte­gralen Jugo­sla­wen­tums bzw. der Ver­wirk­li­chung der Idee von Jovan Skerlić, wonach die Serben die kyril­li­sche Schrift und die Kroaten die ije­ka­vi­sche Aus­sprache auf­geben sollten, damit alle sich des Eka­vi­schen und der latei­ni­schen Schrift bedienen könnten. In Zagreb wird betont, dass Andrić nie aus­drück­lich bestritt, zur kroa­ti­schen Lite­ratur zu gehören, bzw. nie aus­drück­lich sagte, ein nur ser­bi­scher Schrift­steller zu sein. Doch Ihres Erach­tens lässt sich Andrić nicht als Jugo­slawe oder Kroate charakterisieren?

D.D.: Es ist unbe­stritten, dass Andrić in seiner Jugend ein inte­graler Jugo­slawe war. Nach dem Zweiten Welt­krieg, als viele Serben begannen, sich als Jugo­slawen ein­tragen zu lassen, dekla­rierte sich dieser inte­grale Jugo­slawe Ivo Andrić als Serbe, im Per­so­nal­aus­weis, im Mili­tär­aus­weis und im Auf­nah­me­blatt des Bundes der Kom­mu­nisten. Das ist der­selbe Mann, nur hier älter und reifer. Man kann dar­über denken, was man will, ich bestehe nur auf den Tat­sa­chen, die so sind wie sie sind, und die ihre Bedeu­tung haben.

n.: Wie deuten Sie die Ver­wand­lung des inte­gralen Jugo­slawen Andrić in einen Serben?

D.D.: Ich kann nichts dazu sagen, warum er das getan hat, ich kann aber sagen, dass er diese Ver­wand­lung voll­zogen hat. Was waren seine Motive? Er war ein Mensch, der wenig erzählte und erklärte. Ich bin auch neu­gierig, warum er sich als Serbe erklärte. Er war ein außer­or­dent­lich intel­li­genter, gebil­deter Mann mit einem aus­ge­prägten his­to­ri­schen Bewusst­sein, ein sel­tener Kenner des Bal­kans und des Lebens über­haupt. Fünfzig Jahre nach dem Nobel­preis werden seine Werke nicht nur in Europa über­setzt und gelesen, son­dern von Bra­si­lien über Korea bis Japan. Nehmen wir Korea – ein ganz anderer Kul­tur­kreis, eine andere Tra­di­tion, eine andere Reli­gion, alles ist anders, aber sie lesen Andrićs Bücher. Warum? Weil diese so lebensnah sind. Die Leser dort müssen die Infor­ma­tionen, über die wir ver­fügen, nicht haben, aber sie spüren die Energie des Lebens. Ein Mensch mit sol­cher Kenntnis des Lebens und der Geschichte hat seine Wahl getroffen. Das kann kein Zufall sein und sicher hat ihn nie­mand dazu über­redet. Aber auf die Frage nach dem Warum habe ich keine Ant­wort, denn er hin­ter­ließ keine Erklä­rung. Mir als Leiter der Ivo-Andrić-Stif­tung bleibt nichts anderes übrig, als auf Tat­sa­chen hin­zu­weisen und alle Men­schen dazu auf­zu­rufen, nicht über Sachen zu streiten, die sich nicht ändern lassen. Andrić hat sich der ser­bi­schen Sprache bedient und sich als Serbe dekla­riert. Ich bin auch neu­gierig warum, habe aber keine Ant­wort parat.

n.: Zu jugo­sla­wi­schen Zeiten galt Ivo Andrić als eine Brücke zwi­schen den Nationen. Heute würden ihn manche Bos­niaken, wenn er noch am Leben wäre, nach Den Haag schi­cken. Man wirft ihm vor, Hass gegen­über dem Islam geschürt zu haben – z.B. durch die bru­tale Beschrei­bung der Pfäh­lung eines ser­bi­schen Bauern durch die osma­ni­schen Herr­scher in der Brücke über die Drina (Na Drini ćuprija). Manche Serben ver­suchten gerade anhand seiner Lite­ratur aus­län­di­sche Poli­tiker davon zu über­zeugen, dass ein Zusam­men­leben der Serben, Mus­lime und Kroaten in Bos­nien nicht mög­lich sei. Auch der nor­we­gi­sche Ter­ro­rist Anders Breivik beruft sich auf Andrić, um seine These, dass es für den Islam keinen Platz in Europa gibt, zu erhärten. Wie konnten die Bücher von Ivo Andrić zu einer Waffe in den Kon­flikten zwi­schen den bos­ni­schen Nationen werden?

D.D.: Nicht Andrić ist das Pro­blem, son­dern die Inter­preten. Er hat die Wahr­heit geschrieben, er hat die Tat­sa­chen benannt. Die Lite­ratur muss, um ange­nommen zu werden, authen­tisch sein. Als Andrić über die Pfäh­lung schrieb, hatte er keine Rache an den Mus­limen im Sinn. Die Serben wissen, dass sie 400 Jahre lang gepfählt wurden, es geht nicht nur um diesen Helden an der Brücke. Aber wir wollen doch nicht ständig zurück­bli­cken. Die­je­nigen, die Andrić kri­ti­sieren, schweigen über jene mus­li­mi­schen Figuren bei Andrić, die phan­tas­ti­sche, außer­or­dent­liche Men­schen ver­kör­pern. Wenn Sie Teile aus einer Ein­heit her­aus­ziehen und sie nach Ihrem Gusto inter­pre­tieren, können Sie aus jedem einen Teufel machen. Und Andrić ist in der Tat ein Schrift­steller der Wahr­heit, nicht des Hasses. Ihn trifft keine Schuld an den Tat­sa­chen. Und warum wir ihn für unsere poli­ti­schen Ziele instru­men­ta­li­sieren wollen? Das steht auf einem anderen Blatt. Viele, die ihn inter­pre­tieren, haben kein ein­ziges seiner Werke gelesen. Aber das ist der Balkan. Gäbe es diesen Balkan nicht, wäre Andrić wie­derum nicht so ein großer Schrift­steller. Ich bin über­haupt nicht der Mei­nung, dass Andrić, wenn er die Serben oder die Mus­lime oder wen auch immer kri­ti­siert, einen Streit aus­lösen möchte. Seine Bot­schaft lautet: „Meine Herr­schaften, schauen Sie in die Zukunft und nicht in die Ver­gan­gen­heit, soll denn wieder Blut fließen?“

n.: Wie würden Sie die poli­ti­sche Bot­schaft von Andrićs Werk zusamm­men­fassen? War er ein Freund oder ein Feind des mul­ti­kul­tu­rellen Bosnien?

D.D.: Andrićs Bot­schaft ist nicht der Hass. Er möchte den Leser dazu bringen, zu sagen, wollen wir diesen Kreis nicht end­lich schließen? So lese ich Andrić. Für die­je­nigen, die sie erkennen wollen, sind seine Bot­schaften klar. Man klam­mert sich an eine Sache, die Pfäh­lung, aber das gab es tat­säch­lich 400 Jahre lang. Dürfen wir das denn nicht sagen? Andrić hat über diese Dinge nicht geschrieben, damit sie sich wie­der­holen, son­dern er sagt: „Meine Herren, Brüder, Genossen, damit müssen wir Schluss machen.“ So sehe ich Andrić. Wenn er den Hass schüren wollte, würde ihn doch nie­mand lesen. Nie­mand will den Hass, alle wollen die Wahr­heiten des Lebens sehen.

Das Inter­view führten Kse­nija Cvet­ković-Sander und Martin Sander.
Über­set­zung von Kse­nija Cvetković-Sander