Das griechische Kino hat seit der Finanzkrise einige Schocktherapien durchlaufen: Psychedelische Sexparties und inzestuöse Familienbeziehungen wurden zu beliebten Standardthemen in der Filmbewegung um Regisseur Yorgos Lanthimos. Penny Panagiotopoulos wagt mit ihrem Spielfilmdebüt Wishbone nun einen empathischen Stilwandel, der das Land endlich in seiner hoffnungslosen Erschöpfung abbildet.
Wenn die 2010er Jahre der griechischen Gesellschaft eine irritierende Erkenntnis aufzwangen, dann wohl die, dass sich Massentourismus und soziale Krise nicht ausschließen. Während die Menschen Häuser und Jobs verloren, entstanden gleichzeitig Luxus-Wohnungen und Edelrestaurants für diejenigen, die sich nur ein bis zwei Wochen im Land aufhielten. Wer sich aber für den Zustand der Gesellschaft interessierte, wer die Folgen von 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit sowie von verfallenden Schulen und Universitäten beobachten wollte, konnte von griechischen Innenstädten nur enttäuscht werden. Ein paar beschmierte Wände und die nur halb gefüllten Vorlesungen autonom-studentischer Bewegungen blieben die einzigen Zeichen im öffentlichen Raum, die auf Wut und Langeweile deuteten. Die Krise verlagerte sich in die Peripherie, raus aus den von internationalen Laptop-Arbeiter*innen gefluteten Innenstädten hinein in die Vororte und Außenbezirke, in denen man üblicherweise weder auf Tourist*innen noch auf aufregende Kulturveranstaltungen trifft.
An einem dieser vergessenen Orte am Stadtrand beginnt die Geschichte von Wishbone in sozialkritischer Tonlage: Die Abendsonne scheint auf ein leeres Kiesbett auf dem eine Handvoll junger Erwachsener auf ihren Motorrädern und Autos herumdriften – vor menschenleeren Kränen und Fabriken, die aussehen, als würden sie längst nicht mehr betrieben werden. Die Motoren brummen lautstark über die Szene, als wollten sie losschreien und fortrasen. Aber am Ende drehen sie sich doch nur im Kreis. Als läge an den trostlosesten Orten, abseits der hippen Wohlstandszivilisation, ein Hauch von Freiheit, obwohl es, bei ehrlicher Betrachtung, vor allem Monotonie und Missmut sind, die die jungen Männer und Frauen hier austragen.
Einzig die Farben bringen eine sanfte, melancholische Wärme in die eher kühle Gesellschaftsbeobachtung. Denn ohne das Pastellorange der Abenddämmerung würde die Szene nur einem Blick in die industrielle Depression gleichen. So aber schimmert leise Hoffnung durch die laut-brummende Unzufriedenheit des Mikrokosmos, dem sich Regisseurin Penny Panagiotopoulou annähert.
Diese farbliche Sonnenuntergangswärme umgibt auch den Protagonisten, Kosta, einen auf den ersten Blick gewöhnlichen Spätzwanziger mit Drei-Tage-Bart und Lederjacke, der eng umschlossen mit seiner Freundin Stella auf seinem Motorrad durch das Nachtlicht der engen Straßen rast und, ganz egal ob in der Öffentlichkeit oder nicht, vorzugsweise noch auf seinem Gefährt zum Sex übergehen würde. Die Beziehung wirkt allen sichtbaren Widerständen zum Trotz harmonisch. Auch in der Familie, die gezwungenermaßen als Generationen-WG zusammenlebt, sind die Probleme nicht auf den ersten Blick sichtbar. Den Baum, den sein verstorbener Vater im Garten des Familienhauses gepflanzt hat, pflegt Kosta mit Liebe und ohne Pestizide. Seine Nichte Niki, gerade im Grundschulalter, wächst sorgenlos und mit zugewandten Eltern auf. Kein Tag vergeht ohne träumerischen Sonnenuntergang, eine Ode an die Schönheit im Einfachen und an die Hoffnung, die Kosta anfangs noch zu tragen scheint.
Damit gibt der Film zunächst eine Illusion wieder, die der durchindividualisierten, (spät-)kapitalistischen Gesellschaft zugrunde liegt: Vorstellungen und Wünsche können selbst unter prekären Bedingungen in Erfüllung gehen. Das eigene Glück wird zu einer Frage von Eigenleistung und Perspektive. Alles also nur halb so wild mit der sozialen und ökonomischen Krise, könnte man denken.
In diese Sehnsucht nach Selbstwirksamkeit tritt aber nach und nach eine Handlung, in der Bemühungen nicht mehr belohnt werden und die Figuren zunehmend in Konkurrenz um die begrenzte Ressource Kapital und das durch sie erkaufte Glück geraten: Der psychisch leidenden Schwiegermutter wird erst dann Wohlwollen entgegengebracht, als der Vater nicht mehr da ist und sich plötzlich jemand um die kleine Niki kümmern muss. Kostas Freundin ist nur so lange bereit, mit ihm zusammen zu bleiben, wie er die hedonistischen Studi-Abende ihrer Kommiliton*innen nicht durch persönliche Gefühlsbelastungen stört. Und während seiner Schichten als Sicherheitsmann in einem staatlichen Krankenhaus werden Ärzt*innen in Todesfällen auf Schmerzensgeld verklagt, selbst wenn jeder anwesenden Person klar ist, dass niemand etwas gegen den Tod hätte ausrichten können. Dass also der existenzielle Wettbewerb ums finanzielle Überleben in die Gemeinwohlinstitution Krankenhaus verlagert wird, sollte nicht als narratives Stilmittel verstanden werden, sondern als bewusste Fußnote zur sozialen Wirklichkeit des Landes. Wie konnte es dazu kommen?
Die Antwort darauf wird im gesamten Film nicht laut ausgesprochen. Womöglich, weil sie in jedem vermittelten Bild schon enthalten ist: in den abgearbeiteten Gesichtern, den dysfunktionalen Krankenhäusern, der Erschöpfung in Liebesbeziehungen. Offenbar ist in den vergangenen 15 Jahren in Griechenland mehr zerbrochen als nur die Staatsfinanzen. Wishbone zeigt eine Gesellschaft, die mit Rechtstreue und Verlässlichkeit gebrochen und sich stattdessen mit Zynismus arrangiert hat. Der Glaube an eine bessere Zukunft wird nie sichtbar, nicht einmal in eskapistischen Ausnahmemomenten auf dem Motorrad.
Filmstills. Bildquelle: Sofia International Film Festival, https://siff.bg/en/movies/balkan-competition/wishbone.
In einer der Anfangsszenen ziehen Kosta und Niki am V-förmigen Schlüsselbeinknochen eines frisch gekochten Vogels – die Person, die den größeren Knochenteil abbricht, hat danach einen Wunsch frei (daher auch der Titel des Films). Niki verkündet ihren Wunsch aber schon vorher, nämlich, dass sie ihre Mutter öfter sehen möchte. Die Art und Weise, wie ihr Wunsch erfüllt wird, lässt das Publikum ähnlich ratlos zurück wie Kosta, den sein persönliches Dilemma entgegen aller Erwartungen in die Korruption führt. Es bleibt aber bemerkenswert, mit welchem Motiv Panagiotopoulou ihren Helden zum Anti-Helden transformiert: Es sind nicht Habgier, Neid und Narzissmus, die Kosta mit dem Tod spielen lassen (ganz im Gegensatz zu seinem Antagonisten Dona), sondern sein ungestilltes Bedürfnis nach Sicherheit für seine Familie. Das macht ihn zwar nicht zu einem Engel, aber zumindest zu einem Menschen, für den Anteilnahme möglich ist.
Mit diesem Stil vollzieht der Film auch einen radikalen Bruch mit dem griechischen Indie-Kino der letzten 15 Jahre. Die Einsicht, dass es globale Finanzmärkte herzlich wenig interessiert, welchen antiken oder emotionalen Wert die Gegenstände und Orte besitzen, die im Zentrum des eigenen Lebens stehen, hat in Europa – einem Kontinent, der bis heute mit den sozialen Konsequenzen der unkontrollierten „trickle-down-economics“ kämpft – während der Finanzkrise die natürlichste aller Reaktionen ausgelöst: Desillusion. Ein Gefühl, wie es das Oscar-nominierte Psychodrama Dogtooth von Yorgos Lanthimos (seine letzten Filme: Kinds of Kindness oder Poor Things) im griechischen Kino erstmalig formuliert hat, was seitdem zahlreiche Nachahmungsversuche ausgelöst hat.
Die Filme dieser desillusionierten „Greek Weird Wave“ wurden zunehmend düsterer und misanthropischer. Der Mensch verliert darin seine Rolle als selbstbestimmtes Subjekt und wird in erster Linie zu einer sinnentfremdeten Maschine, die sich gehorsam an die Eingaben der Erwartungswalze hält und dabei das Individuum erbarmungslos zerbröselt. In Attenberg (2010) von Athina Rachel Tsangari erlebt die tumbe Protagonistin eine willkürliche, sexuelle Anziehung zu Tieren. In Lanthimos‘ letztem griechischen Film Alpen (2013) ersetzt ein vierköpfiges Team verstorbene Angehörige ihrer „Klienten“ und ahmt deren Gewohnheiten nach – auch im Bett. In Yorgos Zois‘ Arcadia (2024), der letztes Jahr auf der Berlinale und in Sarajevo aufgeführt wurde, begibt sich ein Ärzte-Paar für die Aufklärung eines tödlichen Unfalls in eine psychedelische Traumwelt, in der die Verstorbenen als Geister ihre Zeit mit – Überraschung – gelangweiltem Sex ertragen. In anderen Worten: Die „Greek Weird Wave“ hielt sich stets im Abstrakten auf und zoomte im Zweifel aus dem physischen Leid der Menschen eher heraus statt hinein.
Was als Kommentar auf den abgestumpften Zustand einer ausverkauften Gesellschaft Beachtung fand, hat manche Teile des Publikums auch abgestoßen. Der zynische Humor, mit dem sich griechische Filmemacher*innen durch unzugängliche Protagonist*innen über die soziale Krise in ihrem Land erheben, musste immer mit der Kritik auskommen, dass die Filme einen unweigerlich elitären Blick reproduzierten: Von einer kulturellen Aristokratie, die auf ein entmenschlichtes Leben herabschaut, aber keine emotionale Beziehung zu den betroffenen Menschen aufbaut und dadurch nicht nach Empathie, sondern vor allem nach voyeuristischem Humor schreit. „Gazing only, feeling nothing.“
Penny Panagiotopoulo wagt mit Wishbone einen mutigen Perspektivwandel. Die Menschen, denen sie sich nähert, sind genauso korrupt, selbstbezogen und zynisch wie in den Filmen der oben beschriebenen „Greek Weird Wave“. Aber sie ergänzt diese harten Realitäten um ein paar Lichtstrahlen, sie setzt die Hoffnungslosigkeit in den richtigen sozialen Kontext. Die Menschen sind korrupt, weil sie sonst obdachlos werden. Sie sind selbstbezogen, weil ihre Depressionen ihnen jeden Blick für andere rauben. Und sie sind zynisch, weil in Griechenland zwar Luxushotels und Tavernen für Tourist*innen entstehen, aber die Wartezeiten in Krankenhäusern trotzdem einen ganzen Tag einnehmen und eher lebensbedrohend als lebenserhaltend für die Patient*innen sind. Damit erreicht Panagiotopoulo etwas, wogegen sich die Lanthimos-Jünger stets geweigert haben: Augenhöhe zu den eigenen Figuren.
Wishbone erweist sich als verspätete, aber gelungene Anmerkung zur sozialen Realität des Landes, in dem es spielt. Dass der Film in diesem Nest aus moralischen Fallen weder von seinem humanistischen Ton noch von seinen warmen Dämmerungsfarben abrückt, macht ihn zur einzig möglichen Reaktion auf die kollektive Desillusion: Zu einer Aufforderung zur Hoffnung, auch wenn es streng genommen keinen Grund dafür gibt.

Wishbone (griechischer/internationaer Titel), R: Penny Panagiotopoulou, Griechenland 2024, 123 Min.
Quelle des internationales Filmplakats: crew-united.com
Quelle des Beitragsbilds (Filmstill): https://cineuropa.org/en/newsdetail/470416/.


