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Einblicke in das 26. FilmFestival für osteuropäisches Kino in Cottbus

Posted on 4. April 2017 by Irine Beridze und Agnes Bressa
Im Rahmen des studentischen novinki-Projekts „Filmkritisches Schreiben“ haben Studierende der Universität Potsdam im November 2016 das 26. FilmFestival für osteuropäisches Kino in Cottbus besucht. Ein Bericht über das Event sowie mehrere Filmbesprechungen geben Einblicke in das Programm der letzten Ausgabe des Festivals.

Im Rahmen des studentischen novinki-Projekts „Filmkritisches Schreiben“ haben Studierende der Universität Potsdam im November 2016 das 26. FilmFestivalfür osteuropäisches Kino in Cottbus besucht. Ein Bericht über das Event sowie mehrere Filmbesprechungen geben Einblicke in das Programm der letzten Ausgabe des Festivals.

 

Das Programm des Cottbuser FilmFestivals war 2016 besonders vielfältig: Neben den drei wichtigen Sektionen (Wettbewerb Spielfilm, Wettbewerb Kurzfilm und U18 Wettbewerb Jugendfilm) wurden in den weiteren Programmsektionen ca. 200 Filme aus rund 35 Ländern gezeigt. Die Filme decken – vom slowakischen Horrorfilm Socialistický Zombi Mord  (Socialist Zombie Massacre, 2014) bis zum rumänischen Western Câini  (Hunde, 2016) aus dem Wettbewerb – alle denkbaren Filmgenres ab. Die internationale Festivaljury hat aus zwölf Spielfilmen des osteuropäischen Kinos diesmal den russischen Film Zoologija (Zoologie, 2016) des jungen Regisseurs Ivan Tverdovskiy als Gewinner ausgewählt. Einer der Festival-Schwerpunkte lag auf dem sozialistischen Kuba.  Außerdem widmete sich das Festival in der Sektion Specials dem Thema Spuren suchen: deutsch-tschechisch-polnische Geschichte(n) im Wandel. Filmische Auseinandersetzungen mit dem Zweiten Weltkrieg sowie mit der Nachwende- und Postsowjetzeit wurden wiederum mit Brüche/Zäsuren und Brückenbauen in den Fokus gerückt.

 

Wettbewerb: vom experimentellen bis zum Mainstream-Kino

Überraschend unkonventionell wirkt der Spielfilm Svi Severni Gradovi (All the Cities of the North, 2016) von Dane Komljen aus Serbien. Er ragte deutlich aus dem Festivalprogramm heraus und erweiterte das klassische Verständnis des Genres Spielfilm im Wettbewerb maßgebend. In den verlassenen postsozialistischen Orten, umgeben von industriellen Ruinen, entdecken die Filmprotagonisten Kommunikationsmöglichkeiten, die jenseits des Sprachlichen liegen und für die Zuschauer_innen einen großen Reflexionsraum eröffnen. Durch die statischen Kameraeinstellungen und teilweise sehr lange Sequenzen sowie Szenen, die von der klassischen Malerei inspiriert zu sein scheinen, werden die Räume zum Experimentierfeld und bieten den Figuren eine besondere Plattform zum Leben und Handeln. Die weiteren Filme aus dem Wettbewerb warteten mit leichter zugänglichen Themen und dynamischerer Darstellung auf. Der ungarische Film Tiszta szívvel  (Kills on Wheels, 2016) von Attila Till und die polnische Komödie Planeta Singli (Planet Single, 2016) von Mitja Okorn arbeiten mit humorvollen Szenen und einfachen Handlungsstrukturen. Sie sorgten für einen unterhaltsamen Ausgleich zu den Art-House-Filmen und wurden schließlich als Publikumslieblinge ausgezeichnet.

Der Gewinnerfilm Zoologija (Zoologie, 2016)des jungen russischen Regisseurs Ivan Tverdovskiy stellt eine kafkaeske Figur in den Mittelpunkt seiner Handlung. Natascha (Natalia Pavlenkova wurde bei der Preisverleihung für ihre Rolle mit dem Preis in der Kategorie Für eine herausragende Darstellerin ausgezeichnet) lebt zusammen mit ihrer alten Mutter in einer Wohnung, hat keine Freund_innen und wird zur Witzfigur ihrer Kolleg_innen – schon bevor die Welt etwas über ihr Geheimnis weiß. Der abrupte Wechsel von Komik zu Tragik in der Handlung schafft ein intensives Filmerlebnis, das die Zuschauer_innen auch nach dem Ende des Films lange nicht loslässt.

Der Film des ungarischen Regisseurs und Schauspielers Szabolcs Hajdu Ernelláék Farkaséknál (It`s not the Time of my Life, 2016) spielt in der Budapester Wohnung des Regisseurs und lässt eine kammerspielartige Atmosphäre entstehen, die den Zuschauer_innen eine besondere Nähe zu den Filmprotagonist_innen erlaubt. Der Besuch der Schwester wirkt wie ein Katalysator, der das in der Familie lange Verschwiegene und Verdrängte zur Sprache kommen lässt.

Der rumänische Wettbewerbsbeitrag Câini  (Hunde, 2016) von Bogdan Mirică wiederum spielt mit den Genre-Mustern des Westerns. Ein alter Polizist versucht in einem rumänischen Dorf Ordnung zu halten. Die Situation gerät aber bald außer Kontrolle. Durch die skurrilen Szenen und beeindruckenden Landschaftsaufnahmen aus der rumänischen Einöde gelingt es dem Regisseur, eine genrespezifische Atmosphäre auch fern des „wilden Westens“ zu erzeugen.

 

Filme aus Polen

Unter den polnischen Produktionen erregten insbesondere die Kurzfilme Aufmerksamkeit, darunter die Abschlussarbeiten von Absolvent_innen der 2010 gegründeten Gdynia Film School (Horyzonty Gdyni ). Die Arbeiten gehören zu ganz verschiedenen Genres und beeindrucken nicht nur durch ihre thematische Bandbreite, sondern auch durch neuartige Ästhetiken (z.B. bei der Darstellung postsozialistischer Ruinen und Landschaften) sowie faszinierende schauspielerische Leistungen. Der polnische Wettbewerbsfilm Ostatnia Rodzina (The Last Family, 2016) von Jan P. Matuszyński wurde sowohl in Polen als auch auf dem Festival in Cottbus mit besonderer Spannung erwartet, da er die tragisch-skurrile Familiengeschichte des bekannten Malers Zdzisław Beksiński aufgreift. Für seine Rolle als Sohn des Malers, Tomasz Beksiński, bekam der polnische Schauspieler Dawid Ogrodnik den Preis für einen herausragenden Darsteller. Gezeigt wurden außerdem die fesselnde Familiengeschichte Panie Dulskie (Die Damen Dulski, 2015) von Filip Bajon und das tragikomische Familiendrama Moje córki krowy  (Meine doofen Töchter, 2015) von Kinga Dębska.

 

Filme aus Georgien

Georgien war dieses Jahr mit zwei Kinoproduktionen im Wettbewerb vertreten. Der Film Skhvisi Sakhli (Das Haus der anderen, 2016) von Rusudan Glurjidze beschäftigt sich mit dem georgisch-abchasischen Krieg Anfang der 1990er Jahre und spielt in einem verlassenen Dorf in Georgien. Durch das im zeitgenössischen Kino kaum noch verwendete 4:3-Format bekam der Film einen besonderen Retro-Touch und überzeugte durch fast schon poetische Landschaftsaufnahmen. Eine völlig andere Problematik greift der Film Anas Ckhovreba  (Annas Leben, 2016) von Nino Basilia auf. Im Zentrum der Handlung steht die Figur der jungen, alleinerziehenden Mutter, die einerseits mit unterschiedlichen Gelegenheitsjobs über die Runden zu kommen versucht, andererseits ihren autistischen Sohn und ihre demenzkranke Großmutter betreuen muss. Den Ausweg aus dieser existenziellen und finanziellen Sackgasse sieht die Protagonistin in der Flucht nach Amerika. Was machen extreme Armut und totale Hoffnungslosigkeit auf eine bessere Zukunft mit Menschen und ihrer Moral? Der Film arbeitet mit tragikomischen Szenen und sanftem Humor, ohne dabei ins Kitschige oder Pathetische abzudriften.

 

Jüdische Spuren

Im Programm des FilmFestival Cottbus 2016 gab es auch einige Filme, die sich in unterschiedlichen Genres mit der jüdischen Kultur und Geschichte beschäftigen. Premiere auf dem Festival hatte der Film Wir sind Juden aus Breslau(Deutschland, 2016) von Karin Kaper und Dirk Szuszies. Er ist im Rahmen des Jugend-Workshops Ostatni Żydzi w Breslau (Die letzten Juden in Breslau) entstanden und zeigt Begegnungen zwischen Jugendlichen und Zeitzeug_innen. Die Filmemacher_innen beleuchten in ihrer Arbeit die jüdische Geschichte Breslaus und konzentrieren sich dabei insbesondere auf die Zeit der Ermordung der jüdischen Bevölkerung sowie auf und die aktuelle Situation der jüdischen Kultur in der Stadt.

In der Sektion Specials waren darüber hinaus zwei weitere Filme zu sehen, die von der Rückkehr an verlassene Orte erzählten. In ihrem Debütfilm Rückkehr in die windige Stadt (Deutschland, 2013) beschäftigt sich Kristina Forbat mit ihrem ostslowakischen Geburtsort Košice. Košice war vor dem Zweiten Weltkrieg durch viele Kulturen geprägt, dort haben u.a. Slowak_innen, Pol_innen, Ukrainer_innen, Deutsche, Ungar_innen und Jüd_innen gelebt. Der zweite Film Reversing Oblivion (USA, 2016) von Ann Michel und Philip Wilde rekonstruiert die Familiengeschichte der Regisseurin, die sich auf die Suche nach ihren jüdischen Wurzeln begibt. Die Geschichte dreht sich um einen verlassenen und wiederbesiedelten Hof in Oberschlesien und wird mit Humor und Leichtigkeit erzählt.

Für eine interessante (auch räumliche) Abwechslung sorgte beim Festival außerdem der israelische Film Ha-Mashgichim  (God´s Neighbors, 2012) von Meni Yaesh. Als der fromme Avi die säkulare Miri kennenlernt, steht er vor einer schwierigen Entscheidung: entweder seinen strengen chassidischen Lebensstil oder seine Freundin aufgeben. Der Film erzählt von einer Jugend in Israel, die zwischen strengen religiösen Dogmen und Säkularisierung gespalten ist.

 

Filme aus Tschechien

Und zum Schluss: In der Kategorie Specials wurde der schwarz-weiße Animationsfilm Alois Nebel (Tschechien, 2011) von Tomáš Luňák gezeigt. Die politischen Ereignisse des Jahres 1989 in Prag werden kontrastiv zum Leben in einem kleinen Ort und zur Figur des Fahrdienstleiters Alois dargestellt, der für einen provinziellen tschechischen Bahnhof zuständig ist. Vergangenheit und Gegenwart kommen in diesem Umbruchsjahr zusammen, um noch einmal an die verdrängten Verbrechen zu erinnern und gegen das Vergessen anzukämpfen. Der letzte Festivalfilm war ebenfalls eine tschechische Produktion – Wilsonov (Wilsonstadt, 2015) von Tomáš Mašín. Der Abschlussfilm spielt während des Ersten Weltkrieges und stellt den amerikanischen FBI-Spezialisten Aaron Food in den Mittelpunkt der Handlung.

 

Festivalfazit

Das 26. FilmFestival Cottbus präsentierte eine Vielfalt an filmischen Stoffen. Kein Festival kann ein Gesamtbild des aktuellen Kinos aus Osteuropa zeichnen, aber trotzdem ließen sich in Cottbus länderübergreifende filmische Tendenzen und aktuelle thematische Schwerpunkte beobachten. So stand 2016 das Individuum verstärkt im Mittelpunkt. Nach wie vor setzen sich die osteuropäischen Regisseur_innen intensiv mit dem Zweiten Weltkrieg, dem Sozialismus und der postsozialistischen Zeit auseinander. Zwar war die Problematik der (erzwungenen) Migration beim Festival in einigen Sektionen präsent, trotzdem blieb der Eindruck, dass sich die osteuropäische Kinematografie wenig mit den aktuellen weltweiten Migrationsprozessen und Flüchlingsthematiken beschäftigt. Überraschend wenig Platz innerhalb des Programms nahmen außerdem die Filme aus der Ukraine ein. Jenseits des Hauptprogramms bot das Rahmenprogramm auch diesmal viele interessante und inspirierende Gesprächsrunden mit Filmemacher_innen, Schauspieler_innen und Produzent_innen aus unterschiedlichen osteuropäischen Ländern an. Cottbus ist eine wunderbare Film-Stadt mit vielen Spielstätten, die eine besondere Atmosphäre ausstrahlen und das Filmerlebnis noch intensiver machen.

 

Filmbesprechungen:

Socialist Zombie Massacre von Franziska Korte
Socialistický Zombi Mord (2014) war als Horrorfilm der einzige Vertreter seines Genres beim Filmfestival Cottbus 2016. Schon im Vorfeld wurde er als besonderer Genrefilm angepriesen. Die Neugierde war also groß. Wie der brechend volle Raum der Kammerbühne bewies, zog es viele Zuschauer_innen zu dem slowakischen low-budget Zombiefilm, der sich selbst nicht allzu ernst nimmt. mehr

 

Die Polizei ist tot von Katharina Gucia
Der Hund heißt Polizei und ist auf dem rumänischen Dorf ein vermeintlich verlässlicher Beschützer – anders als die gegenüber kriminellen Strukturen scheinbar machtlose Dorfpolizei. Ob der alte, todkranke Polizist Hogaș das Böse stoppen kann, erzählt Bogdan Mirică vor einer großartigen Landschaft in seinem ersten Spielfilm Câini (Hunde). mehr

 

Gefallene Helden von Franziska Eichmeier
Man mische ein dunkles Kapitel junger kubanischer Geschichte mit einem 08/15- Sportlerdrama, füge ein wenig Liebe, widerwillige Freundschaft, Solidarität und eine Trainingsmontage hinzu und fertig ist Pavel Girouds El Acompañante. Girouds Film versucht ein bisschen zu viele Genres zu bedienen. Trotzdem überzeugt das Drama durch starke schauspielerische Leistungen und eine ungewöhnliche Geschichte.  mehr

 

Killerkommando im Rollstuhl von Janina Semenova
Querschnittsgelähmt? Egal! In Kills On Wheels sitzt der Auftragskiller im Rollstuhl. Der Film des ungarischen Regisseurs Attila Till ist kurios, spannend und lustig zugleich – und kommt zum Glück ohne Mitleid aus. mehr

 

Vom Suchen nach Nähe von Elisabeth Müller
AbsolventInnen der Filmschule Gdynia zeigen in fünf Kurzfilmen Gespür für alltägliche und nicht so alltägliche Probleme des Lebens wie Drogen, Abtreibung, Pubertät und Auswanderung. mehr

 

Bittersüßes – über Leben und Tod von Olga Pokrzywniak
Was ist so komisch an einer sterbenden Mutter, einem kranken Vater und deren Töchtern, die sich dauernd streiten? Wer sich unter Kinga Dębskas Tragikomödie Moje córki krowy (Meine doofen Töchter, 2015) ein düsteres Familiendrama vorstellt, wird positiv überrascht sein. mehr

 

Wach auf! von Paula Sawatzki
In Annas Leben ist der Traum von der vermeintlich besseren Welt namens USA zum Greifen fern. Der georgische Film Anas Ckhovreba (Annas Leben) von Nino Basilia lässt spüren, was es bedeutet, wenn eine alleinerziehende Frau für die Zukunft ihres Sohnes und sich selbst kämpft, doch auch, dass tickende Zeitbomben nicht immer hochgehen müssen. mehr

 

Gottes rechte Hände von Anja Schulze
Alkohol, Drogen, Elektromusik und religiöser Extremismus in Israel. Der Film Ha-mashgichim (God’s Neighbors, 2012) liefert einen Einblick in das jüdische Glaubensleben der radikaleren Art. mehr

Einblicke in das 26. FilmFestival für osteuropäisches Kino in Cottbus - novinki
Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Ein­blicke in das 26. Film­Fes­tival für ost­eu­ro­päi­sches Kino in Cottbus

Im Rahmen des stu­den­ti­schen novinki-Pro­jekts „Film­kri­ti­sches Schreiben“ haben Stu­die­rende der Uni­ver­sität Potsdam im November 2016 das 26. Film­Fes­ti­valfür ost­eu­ro­päi­sches Kino in Cottbus besucht. Ein Bericht über das Event sowie meh­rere Film­be­spre­chungen geben Ein­blicke in das Pro­gramm der letzten Aus­gabe des Festivals.

 

Das Pro­gramm des Cott­buser Film­Fes­ti­vals war 2016 beson­ders viel­fältig: Neben den drei wich­tigen Sek­tionen (Wett­be­werb Spiel­film, Wett­be­werb Kurz­film und U18 Wett­be­werb Jugend­film) wurden in den wei­teren Pro­gramm­sek­tionen ca. 200 Filme aus rund 35 Län­dern gezeigt. Die Filme decken – vom slo­wa­ki­schen Hor­ror­film Socia­li­stický Zombi Mord  (Socia­list Zombie Mas­sacre, 2014) bis zum rumä­ni­schen Wes­tern Câini  (Hunde, 2016) aus dem Wett­be­werb – alle denk­baren Film­genres ab. Die inter­na­tio­nale Fes­ti­val­jury hat aus zwölf Spiel­filmen des ost­eu­ro­päi­schen Kinos diesmal den rus­si­schen Film Zoo­lo­gija (Zoo­logie, 2016) des jungen Regis­seurs Ivan Tver­dovskiy als Gewinner aus­ge­wählt. Einer der Fes­tival-Schwer­punkte lag auf dem sozia­lis­ti­schen Kuba.  Außerdem wid­mete sich das Fes­tival in der Sek­tion Spe­cials dem Thema Spuren suchen: deutsch-tsche­chisch-pol­ni­sche Geschichte(n) im Wandel. Fil­mi­sche Aus­ein­an­der­set­zungen mit dem Zweiten Welt­krieg sowie mit der Nach­wende- und Post­so­wjet­zeit wurden wie­derum mit Brüche/Zäsuren und Brü­cken­bauen in den Fokus gerückt.

 

Wett­be­werb: vom expe­ri­men­tellen bis zum Mainstream-Kino

Über­ra­schend unkon­ven­tio­nell wirkt der Spiel­film Svi Severni Gra­dovi (All the Cities of the North, 2016) von Dane Komljen aus Ser­bien. Er ragte deut­lich aus dem Fes­ti­val­pro­gramm heraus und erwei­terte das klas­si­sche Ver­ständnis des Genres Spiel­film im Wett­be­werb maß­ge­bend. In den ver­las­senen post­so­zia­lis­ti­schen Orten, umgeben von indus­tri­ellen Ruinen, ent­de­cken die Film­prot­ago­nisten Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mög­lich­keiten, die jen­seits des Sprach­li­chen liegen und für die Zuschauer_innen einen großen Refle­xi­ons­raum eröffnen. Durch die sta­ti­schen Kame­ra­ein­stel­lungen und teil­weise sehr lange Sequenzen sowie Szenen, die von der klas­si­schen Malerei inspi­riert zu sein scheinen, werden die Räume zum Expe­ri­men­tier­feld und bieten den Figuren eine beson­dere Platt­form zum Leben und Han­deln. Die wei­teren Filme aus dem Wett­be­werb war­teten mit leichter zugäng­li­chen Themen und dyna­mi­scherer Dar­stel­lung auf. Der unga­ri­sche Film Tiszta szívvel  (Kills on Wheels, 2016) von Attila Till und die pol­ni­sche Komödie Pla­neta Singli (Planet Single, 2016) von Mitja Okorn arbeiten mit humor­vollen Szenen und ein­fa­chen Hand­lungs­struk­turen. Sie sorgten für einen unter­halt­samen Aus­gleich zu den Art-House-Filmen und wurden schließ­lich als Publi­kums­lieb­linge ausgezeichnet.

Der Gewin­ner­film Zoo­lo­gija (Zoo­logie, 2016)des jungen rus­si­schen Regis­seurs Ivan Tver­dovskiy stellt eine kaf­ka­eske Figur in den Mit­tel­punkt seiner Hand­lung. Nata­scha (Natalia Pav­len­kova wurde bei der Preis­ver­lei­hung für ihre Rolle mit dem Preis in der Kate­gorie Für eine her­aus­ra­gende Dar­stel­lerin aus­ge­zeichnet) lebt zusammen mit ihrer alten Mutter in einer Woh­nung, hat keine Freund_innen und wird zur Witz­figur ihrer Kolleg_innen – schon bevor die Welt etwas über ihr Geheimnis weiß. Der abrupte Wechsel von Komik zu Tragik in der Hand­lung schafft ein inten­sives Film­erlebnis, das die Zuschauer_innen auch nach dem Ende des Films lange nicht loslässt.

Der Film des unga­ri­schen Regis­seurs und Schau­spie­lers Sza­bolcs Hajdu Ernel­láék Far­ka­sé­knál (It‘s not the Time of my Life, 2016) spielt in der Buda­pester Woh­nung des Regis­seurs und lässt eine kam­mer­spiel­ar­tige Atmo­sphäre ent­stehen, die den Zuschauer_innen eine beson­dere Nähe zu den Filmprotagonist_innen erlaubt. Der Besuch der Schwester wirkt wie ein Kata­ly­sator, der das in der Familie lange Ver­schwie­gene und Ver­drängte zur Sprache kommen lässt.

Der rumä­ni­sche Wett­be­werbs­bei­trag Câini  (Hunde, 2016) von Bogdan Mirică wie­derum spielt mit den Genre-Mus­tern des Wes­terns. Ein alter Poli­zist ver­sucht in einem rumä­ni­schen Dorf Ord­nung zu halten. Die Situa­tion gerät aber bald außer Kon­trolle. Durch die skur­rilen Szenen und beein­dru­ckenden Land­schafts­auf­nahmen aus der rumä­ni­schen Einöde gelingt es dem Regis­seur, eine gen­re­spe­zi­fi­sche Atmo­sphäre auch fern des „wilden Wes­tens“ zu erzeugen.

 

Filme aus Polen

Unter den pol­ni­schen Pro­duk­tionen erregten ins­be­son­dere die Kurz­filme Auf­merk­sam­keit, dar­unter die Abschluss­ar­beiten von Absolvent_innen der 2010 gegrün­deten Gdynia Film School (Hory­zonty Gdyni ). Die Arbeiten gehören zu ganz ver­schie­denen Genres und beein­dru­cken nicht nur durch ihre the­ma­ti­sche Band­breite, son­dern auch durch neu­ar­tige Ästhe­tiken (z.B. bei der Dar­stel­lung post­so­zia­lis­ti­scher Ruinen und Land­schaften) sowie fas­zi­nie­rende schau­spie­le­ri­sche Leis­tungen. Der pol­ni­sche Wett­be­werbs­film Ost­atnia Rod­zina (The Last Family, 2016) von Jan P. Matus­zyński wurde sowohl in Polen als auch auf dem Fes­tival in Cottbus mit beson­derer Span­nung erwartet, da er die tra­gisch-skur­rile Fami­li­en­ge­schichte des bekannten Malers Zdzisław Bek­siński auf­greift. Für seine Rolle als Sohn des Malers, Tomasz Bek­siński, bekam der pol­ni­sche Schau­spieler Dawid Ogrodnik den Preis für einen her­aus­ra­genden Dar­steller. Gezeigt wurden außerdem die fes­selnde Fami­li­en­ge­schichte Panie Dulskie (Die Damen Dulski, 2015) von Filip Bajon und das tra­gi­ko­mi­sche Fami­li­en­drama Moje córki krowy  (Meine doofen Töchter, 2015) von Kinga Dębska.

 

Filme aus Georgien

Geor­gien war dieses Jahr mit zwei Kino­pro­duk­tionen im Wett­be­werb ver­treten. Der Film Skhvisi Sakhli (Das Haus der anderen, 2016) von Rusudan Glur­jidze beschäf­tigt sich mit dem geor­gisch-abcha­si­schen Krieg Anfang der 1990er Jahre und spielt in einem ver­las­senen Dorf in Geor­gien. Durch das im zeit­ge­nös­si­schen Kino kaum noch ver­wen­dete 4:3‑Format bekam der Film einen beson­deren Retro-Touch und über­zeugte durch fast schon poe­ti­sche Land­schafts­auf­nahmen. Eine völlig andere Pro­ble­matik greift der Film Anas Ckho­v­reba  (Annas Leben, 2016) von Nino Basilia auf. Im Zen­trum der Hand­lung steht die Figur der jungen, allein­er­zie­henden Mutter, die einer­seits mit unter­schied­li­chen Gele­gen­heits­jobs über die Runden zu kommen ver­sucht, ande­rer­seits ihren autis­ti­schen Sohn und ihre demenz­kranke Groß­mutter betreuen muss. Den Ausweg aus dieser exis­ten­zi­ellen und finan­zi­ellen Sack­gasse sieht die Prot­ago­nistin in der Flucht nach Ame­rika. Was machen extreme Armut und totale Hoff­nungs­lo­sig­keit auf eine bes­sere Zukunft mit Men­schen und ihrer Moral? Der Film arbeitet mit tra­gi­ko­mi­schen Szenen und sanftem Humor, ohne dabei ins Kit­schige oder Pathe­ti­sche abzudriften.

 

Jüdi­sche Spuren

Im Pro­gramm des Film­Fes­tival Cottbus 2016 gab es auch einige Filme, die sich in unter­schied­li­chen Genres mit der jüdi­schen Kultur und Geschichte beschäf­tigen. Pre­miere auf dem Fes­tival hatte der Film Wir sind Juden aus Breslau(Deutsch­land, 2016) von Karin Kaper und Dirk Szus­zies. Er ist im Rahmen des Jugend-Work­shops Ost­atni Żydzi w Breslau (Die letzten Juden in Breslau) ent­standen und zeigt Begeg­nungen zwi­schen Jugend­li­chen und Zeitzeug_innen. Die Filmemacher_innen beleuchten in ihrer Arbeit die jüdi­sche Geschichte Bres­laus und kon­zen­trieren sich dabei ins­be­son­dere auf die Zeit der Ermor­dung der jüdi­schen Bevöl­ke­rung sowie auf und die aktu­elle Situa­tion der jüdi­schen Kultur in der Stadt.

In der Sek­tion Spe­cials waren dar­über hinaus zwei wei­tere Filme zu sehen, die von der Rück­kehr an ver­las­sene Orte erzählten. In ihrem Debüt­film Rück­kehr in die win­dige Stadt (Deutsch­land, 2013) beschäf­tigt sich Kris­tina Forbat mit ihrem ost­slo­wa­ki­schen Geburtsort Košice. Košice war vor dem Zweiten Welt­krieg durch viele Kul­turen geprägt, dort haben u.a. Slowak_innen, Pol_innen, Ukrainer_innen, Deut­sche, Ungar_innen und Jüd_innen gelebt. Der zweite Film Rever­sing Obli­vion (USA, 2016) von Ann Michel und Philip Wilde rekon­stru­iert die Fami­li­en­ge­schichte der Regis­seurin, die sich auf die Suche nach ihren jüdi­schen Wur­zeln begibt. Die Geschichte dreht sich um einen ver­las­senen und wie­der­be­sie­delten Hof in Ober­schle­sien und wird mit Humor und Leich­tig­keit erzählt.

Für eine inter­es­sante (auch räum­liche) Abwechs­lung sorgte beim Fes­tival außerdem der israe­li­sche Film Ha-Mash­gi­chim  (God´s Neigh­bors, 2012) von Meni Yaesh. Als der fromme Avi die säku­lare Miri ken­nen­lernt, steht er vor einer schwie­rigen Ent­schei­dung: ent­weder seinen strengen chas­si­di­schen Lebens­stil oder seine Freundin auf­geben. Der Film erzählt von einer Jugend in Israel, die zwi­schen strengen reli­giösen Dogmen und Säku­la­ri­sie­rung gespalten ist.

 

Filme aus Tschechien

Und zum Schluss: In der Kate­gorie Spe­cials wurde der schwarz-weiße Ani­ma­ti­ons­film Alois Nebel (Tsche­chien, 2011) von Tomáš Luňák gezeigt. Die poli­ti­schen Ereig­nisse des Jahres 1989 in Prag werden kon­trastiv zum Leben in einem kleinen Ort und zur Figur des Fahr­dienst­lei­ters Alois dar­ge­stellt, der für einen pro­vin­zi­ellen tsche­chi­schen Bahnhof zuständig ist. Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart kommen in diesem Umbruchs­jahr zusammen, um noch einmal an die ver­drängten Ver­bre­chen zu erin­nern und gegen das Ver­gessen anzu­kämpfen. Der letzte Fes­ti­val­film war eben­falls eine tsche­chi­sche Pro­duk­tion – Wil­sonov (Wil­son­stadt, 2015) von Tomáš Mašín. Der Abschluss­film spielt wäh­rend des Ersten Welt­krieges und stellt den ame­ri­ka­ni­schen FBI-Spe­zia­listen Aaron Food in den Mit­tel­punkt der Handlung.

 

Fes­ti­val­fazit

Das 26. Film­Fes­tival Cottbus prä­sen­tierte eine Viel­falt an fil­mi­schen Stoffen. Kein Fes­tival kann ein Gesamt­bild des aktu­ellen Kinos aus Ost­eu­ropa zeichnen, aber trotzdem ließen sich in Cottbus län­der­über­grei­fende fil­mi­sche Ten­denzen und aktu­elle the­ma­ti­sche Schwer­punkte beob­achten. So stand 2016 das Indi­vi­duum ver­stärkt im Mit­tel­punkt. Nach wie vor setzen sich die ost­eu­ro­päi­schen Regisseur_innen intensiv mit dem Zweiten Welt­krieg, dem Sozia­lismus und der post­so­zia­lis­ti­schen Zeit aus­ein­ander. Zwar war die Pro­ble­matik der (erzwun­genen) Migra­tion beim Fes­tival in einigen Sek­tionen prä­sent, trotzdem blieb der Ein­druck, dass sich die ost­eu­ro­päi­sche Kine­ma­to­grafie wenig mit den aktu­ellen welt­weiten Migra­ti­ons­pro­zessen und Flüch­lings­the­ma­tiken beschäf­tigt. Über­ra­schend wenig Platz inner­halb des Pro­gramms nahmen außerdem die Filme aus der Ukraine ein. Jen­seits des Haupt­pro­gramms bot das Rah­men­pro­gramm auch diesmal viele inter­es­sante und inspi­rie­rende Gesprächs­runden mit Filmemacher_innen, Schauspieler_innen und Produzent_innen aus unter­schied­li­chen ost­eu­ro­päi­schen Län­dern an. Cottbus ist eine wun­der­bare Film-Stadt mit vielen Spiel­stätten, die eine beson­dere Atmo­sphäre aus­strahlen und das Film­erlebnis noch inten­siver machen.

 

Film­be­spre­chungen:

Socia­list Zombie Mas­sacre von Fran­ziska Korte
Socia­li­stický Zombi Mord (2014) war als Hor­ror­film der ein­zige Ver­treter seines Genres beim Film­fes­tival Cottbus 2016. Schon im Vor­feld wurde er als beson­derer Gen­re­film ange­priesen. Die Neu­gierde war also groß. Wie der bre­chend volle Raum der Kammerbühne bewies, zog es viele Zuschauer_innen zu dem slo­wa­ki­schen low-budget Zom­bie­film, der sich selbst nicht allzu ernst nimmt. mehr

 

Die Polizei ist tot von Katha­rina Gucia
Der Hund heißt Polizei und ist auf dem rumä­ni­schen Dorf ein ver­meint­lich ver­läss­li­cher Beschützer – anders als die gegen­über kri­mi­nellen Struk­turen scheinbar macht­lose Dorf­po­lizei. Ob der alte, tod­kranke Poli­zist Hogaș das Böse stoppen kann, erzählt Bogdan Mirică vor einer groß­ar­tigen Land­schaft in seinem ersten Spiel­film Câini (Hunde). mehr

 

Gefal­lene Helden von Fran­ziska Eichmeier
Man mische ein dunkles Kapitel junger kuba­ni­scher Geschichte mit einem 08/15- Sport­ler­drama, füge ein wenig Liebe, wider­wil­lige Freund­schaft, Soli­da­rität und eine Trai­nings­mon­tage hinzu und fertig ist Pavel Girouds El Acom­pa­ñante. Girouds Film ver­sucht ein biss­chen zu viele Genres zu bedienen. Trotzdem überzeugt das Drama durch starke schau­spie­le­ri­sche Leis­tungen und eine unge­wöhn­liche Geschichte.  mehr

 

Kil­ler­kom­mando im Roll­stuhl von Janina Semenova
Quer­schnitts­ge­lähmt? Egal! In Kills On Wheels sitzt der Auf­trags­killer im Roll­stuhl. Der Film des unga­ri­schen Regis­seurs Attila Till ist kurios, span­nend und lustig zugleich – und kommt zum Glück ohne Mit­leid aus. mehr

 

Vom Suchen nach Nähe von Eli­sa­beth Müller
Absol­ven­tInnen der Film­schule Gdynia zeigen in fünf Kurz­filmen Gespür für all­täg­liche und nicht so all­täg­liche Pro­bleme des Lebens wie Drogen, Abtrei­bung, Pubertät und Aus­wan­de­rung. mehr

 

Bittersüßes – über Leben und Tod von Olga Pokrzywniak
Was ist so komisch an einer ster­benden Mutter, einem kranken Vater und deren Töch­tern, die sich dau­ernd streiten? Wer sich unter Kinga Dębskas Tra­gi­ko­mödie Moje córki krowy (Meine doofen Töchter, 2015) ein düs­teres Fami­li­en­drama vor­stellt, wird positiv überrascht sein. mehr

 

Wach auf! von Paula Sawatzki
In Annas Leben ist der Traum von der ver­meint­lich bes­seren Welt namens USA zum Greifen fern. Der geor­gi­sche Film Anas Ckho­v­reba (Annas Leben) von Nino Basilia lässt spüren, was es bedeutet, wenn eine allein­er­zie­hende Frau für die Zukunft ihres Sohnes und sich selbst kämpft, doch auch, dass tickende Zeit­bomben nicht immer hoch­gehen müssen. mehr

 

Gottes rechte Hände von Anja Schulze
Alkohol, Drogen, Elek­tro­musik und reli­giöser Extre­mismus in Israel. Der Film Ha-mash­gi­chim (God’s Neigh­bors, 2012) lie­fert einen Ein­blick in das jüdi­sche Glau­bens­leben der radi­ka­leren Art. mehr