Der Dokumentarfilm „When Lightning Flashes Over the Sea” von Eva Neymann ist eine poetische Meditation über den traumähnlichen Rhythmus des Alltags in Odesa, den sich die Bewohner*innen trotz des russischen Angriffskrieges erhalten.
Der junge Fadey träumt von einer Geburtstagsfeier mit „einem mittelgroßen Schokoladenkuchen“, einem Vorraum, in dem seine Gäste hungrig werden können, Mojitos für alle und Taxis, die die Leute anschließend nach Hause bringen. Seine Gedanken, die er vor sich hin murmelt, von einem Mikrofon an seiner Kleidung eingefangen, überschlagen sich wie die Wellen des nahen Schwarzen Meeres, während Fadey Innenhöfe durchstreift, in den Händen ein Absperrband, das im salzigen Wind von Odesa weht.
Trotz der scheinbar sorglosen Momente, die die ukrainische Regisseurin Eva Neymann in „When Lightning Flashes Over the Sea” einfängt, liegt über allem eine beklommene Stimmung: leere Wohnungen, dunkle Straßen während der ständigen Stromausfälle und das allgegenwärtige Dröhnen der Luftschutzsirenen. Der im Forum der Berlinale 2025 uraufgeführte Dokumentarfilm geht über traditionelle Erzählungen des Krieges hinaus: In einer Sammlung von Momentaufnahmen, die zwischen Herbst 2022 und April 2024 entstanden sind, erzählt der Film von einzigartigen menschlichen (und tierischen) Schicksalen vor der Kulisse der kriegsversehrten Odesaer Fassaden.
Für Neymann ist Odesa nicht nur das Setting dieses Projekts, sondern schon immer die Stadt ihrer Träume, wie sie dem Publikum nach der Vorführung im silent green Kulturquartier erzählt. Die Arbeiten der in der Region Saporižžja geborenen Regisseurin zeugen von ihrer Faszination für Odesa: Alle ihre bisherigen Werke sind in dieser Stadt lokalisiert. Als 2022 die russische Großinvasion begann, zog es Neymann noch einmal an die Schwarzmeerküste. Sie wollte die der Stadt und ihren Bewohner*innen aufgezwungenen Veränderungen unter dem Eindruck des Angriffskrieges mit ihrer Kamera festhalten.
Visuell besticht „When Lightning Flashes Over the Sea” durch seine formalen Kunstgriffe. Neymanns Kamera fängt Odesa in verträumten Bildern ein: das Spiel von Licht und Schatten, Sonnenstrahlen, die durch Blätter fallen, statische Aufnahmen, die zufällige Begegnungen dokumentieren. Die Klanglandschaft – von klassischer und Straßenmusik bis hin zum Heulen der Luftalarme – zieht die Zuschauer*innen hinein ins Stadtgeschehen.
Der Film stellt ein Kaleidoskop an Charakteren vor: eine verwitwete alte Frau, die sich um Straßenkatzen kümmert; eine Shoah-Überlebende, die – vor dem Hintergrund der neuen historischen Katastrophe – von der Zeit des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust erzählt; eine Geflüchtete aus Abchasien, die in einem Lokal schuftet. Während sie die Erfahrung des Georgisch-Abchasischen-Krieges weiter in ihren Albträumen verfolgt, muss ihr Sohn „Nikuscha“, wie sie ihn liebevoll nennt, nun in diesem neuen Krieg kämpfen. Am Telefon besprechen sie alltägliche Details: Hat er gegessen? War der Kebab in Fladenbrot oder Teig eingewickelt? Diese kleinen Gespräche bieten flüchtige Momente der Normalität inmitten der harten Lebensrealität.
In diesen persönlichen Begegnungen rückt für die Regisseurin besonders das Thema Träume in den Vordergrund – gerade im Krieg sind sie für Neymann die sicherste Zuflucht für Hoffnung. In ihrem Berlinale-Kommentar beschreibt sie Träume als Ort innerer Freiheit, der es ermöglicht, mehr zu sein als nur ein Opfer der Umstände. Doch was die Protagonist*innen in Dialogen mit der Regisseurin über ihre nächtlichen Träume erzählen, gleicht vielmehr Albträumen: Sehnsucht, die Unmöglichkeit des Nachhausekehrens, Bilder vergangener Traumata und längst vergangener Kriege. Ironischerweise unterscheidet das Russische – die von der Mehrheit der Bevölkerung Odesas gesprochene Sprache – klar zwischen dem im Schlaf Erlebten und dem, was man sich in der Realität wünscht. Diese Unterscheidung verschwimmt in der deutschen Übersetzung Traum – dabei werden Wünsche und die nächtlichen Heimsuchungen des Unterbewusstseins untrennbar miteinander verwoben. Und so, wie ihr Innerstes durch die Tragödien der Gegenwart und Vergangenheit navigiert, werfen einsame Passant*innen ihre Silhouetten an die Wände der in Dunkelheit versunkenen Stadt, geleitet vom Kegel kleiner Taschenlampen – und von der Filmkamera, die in den Übergangsmomenten durch die nächtlichen Straßen Odesas streift und in stillen, fast surrealen Aufnahmen von Schatten und Lichtreflexen verweilt.
Eine Wahrsagerin sagt mit Tarotkarten das Ende des Krieges voraus: Bis Neujahr werde es ruhiger, im Frühling sei der „Papierkram” – also die juristische Grundlage für das Kriegsende – bereit. Der junge Fadey gibt eine ähnliche Prophezeiung: Die Träume bewahrheiteten sich, wenn „dichter Nebel sich auflöst, der Schnee schmilzt und die Blitze über dem Meer einschlagen“. Doch so hoffnungsvoll diese Visionen auch klingen – der Film, der über eineinhalb Jahre hinweg gedreht wurde, setzt nicht auf ein baldiges Ende des Krieges, dem der Frühling und ein Neuanfang folgen könnte. In einem Interview mit Christiane Büchner und Barbara Wurm (Berlinale Forum), veröffentlicht auf der Seite des Instituts für Film- und Videokunst e.V. arsenal, sagt Neymann, sie habe eines verstanden: „Dass sich die Lage wieder ändern würde.” Ihr Film soll also über einen konkreten Moment hinausweisen und „nicht entweder vom Höhepunkt der Euphorie oder dem Höhepunkt der Verzweiflung oder gar dem Rückzug der Gefühle” handeln.
Neymann hat ein berührendes Zeit- und Ortsdokument geschaffen, das die Stadt am Schwarzen Meer mitsamt ihrer Bewohner*innen nicht nur in ihrer Verletzlichkeit zeigt, sondern auch in ihrer Fähigkeit, trotz des Krieges weiter zu träumen – und sich damit vor dem Abgleiten in die Verzweiflung zu schützen. „When Lightning Flashes Over the Sea” erinnert uns daran, dass Träume nicht nur Sinn zum Leben geben, sondern auch am Leben halten.
When Lightning Flashes Over the Sea, R: Eva Neymann, Deutschland/Ukraine 2025, 124 Min.
Beitragsbild: „When Lightning Flashes Over the Sea“ von Eva Neymann. © Blue Monticola Film (Quelle aller Bilder im Beitrag: https://www.berlinale.de/de/2025/programm/202506075.html#gallery_gallery-filmstills-1)