Unvorstellbarkeit, Fassungslosigkeit, Sprachlosigkeit. Dies sind die Worte, die den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine begleiten. Sie bilden den Kern eines stetig anwachsenden Massivs von Expertenkommentaren, Stellungnahmen, Meinungsäußerungen, Tweets und Posts, Berichterstattung und Dokumentation, die in all ihren unterschiedlichen Formen eben dieses Unvorstellbare in Prognosen und Analysen auflösen wollen, die im Zustand elementarer Erschütterung nach Deutungsmustern und Gewissheiten suchen und die nach Worten ringen, um Ereignisse auf den Begriff zu bringen, die sich gegen jede Verbegrifflichung sperren.
Die Erfahrung von Sprachlosigkeit verbindet sich zumeist mit dem stummen Entsetzen angesichts der Gewalt von Krieg und Besatzung, angesichts des Grauens von Tod und Zerstörung. Hier droht die Gewissheit, dass Sprechen ein Akt des Verstehens und Sinnbildens ist, zu versagen. Teil dieser Erfahrung ist aber auch ein Bewusstsein dafür, in welchem Maß der russische Feldzug gegen die Ukraine im Namen der „Russischen Welt“ geführt wird. Was sich als Schutz von russischer Sprache und Kultur auf dem Territorium der Ukraine ausgibt, negiert mit dem politisch souveränen Existenzrecht der Ukraine und ihrer Bürger*innen auch ihr Sprachrecht. Hier setzt sich eine Geschichte des Linguozids fort, die weit mehr betrifft als ein Lexikon repressierter Wörter. Und Teil dieser Erfahrung ist schließlich die drängende Frage nach der Legitimität von Rede, der eigenen und der fremden. Von der Pflicht, nicht zu schweigen, ist viel gesprochen worden. Wer aber hat das Recht zu sprechen – und in welcher Sprache? Hier hat jedes Wort Rechenschaft darüber abzulegen, ob nicht im Sprechakt selbst neue Gewalt verübt wird.
Am 2. April publizierte das Internetmagazin „Majdan“ ein Gedicht von Iryna Shuvalova, das unmittelbar in das Geflecht dieser Fragen hineinführt. Shuvalova reagiert in ihren Versen auf die Bilder aus Buča, die nach dem Abzug der russischen Truppen aus dem Ort weltweit Entsetzen auslösten und dazu führten, dass Russland nicht nur aus dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen ausgeschlossen wurde, sondern auch durch den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen aufgenommen wurden. In Shuvalovas Gedicht, das unmittelbar vertont und in den sozialen Netzwerken vielfach geteilt wurde, tritt an die Stelle der Argumentation institutionalisierten Rechtsprechens die Reflexion des individuellen Sprachrechts:
якщо мене не вбивають
чи маю право я
говорити із тими кого вбивають
на рівних
чи маю я право боліти
якщо не маю рани
скаржитись
якщо не маю втрати
чи маю право
на безсоння
коли тут
не чути сирен
близькість смерті тепер
лежить між нами на столі
як хлібина
із запеченим усередині ножем
якщо мене не вбивають
що я можу сказати
тим кого
так
адже переломившися через смерть
мова стає сама на себе не схожа
і ось –
ми з тобою вже не говоримо
однією
і зрештою
якщо мене не вбивають
чи маю право я
хотіти тримати тебе
так само міцно
як звикла тримати перед тим
коли не вбивали ще жодну з нас
Wenn man mich nicht tötet
habe ich das Recht
mit denen zu sprechen die getötet werden
von gleich zu gleich
habe ich das Recht zu leiden
obwohl ich keine Wunden habe
zu klagen
obwohl ich nichts verloren habe
habe ich das Recht
auf Schlaflosigkeit
auch wenn hier
keine Sirenen zu hören sind
Todesnähe liegt jetzt
zwischen uns auf dem Tisch
wie ein Laib Brot
in den ein Messer eingebacken ist
wenn man mich nicht tötet
was kann ich sagen
zu denen die
es schon sind
denn zerbrochen durch den Tod
ähnelt sich die Sprache selbst nicht mehr
und nun
sprechen wir schon nicht mehr miteinander
in einer
und letztlich
wenn man mich nicht tötet
habe ich das Recht
dich halten zu wollen
so sehr
wie ich dich zuvor immer hielt
als noch keine von uns getötet wurde
Übersetzung: Susanne Strätling
Wer darf über oder für die Opfer soldatischer Gewalt sprechen, dessen Leben ihr nicht selbst zum Opfer gefallen ist? Wer kann etwas über den Schmerz der Verwundung sagen, dessen Körper nicht selbst von Waffen getroffen wurde? Wer weiß etwas über die Kakophonie des Krieges zu berichten, der sie nicht mit eigenen Ohren gehört hat? Dies sind die Fragen, denen sich jedes Sprechen zu stellen hat. Und als wäre damit nicht schon jedes mögliche Wort fragwürdig geworden, schließt Shuvalova noch eine weitere Frage an. Sie betrifft nicht das Wer, das sprechende Subjekt und seine Legitimation, sondern die Versehrung der Sprache selbst. Was heißt es, wenn Sprache in ihrer Fähigkeit zur Annäherung an die Wirklichkeit und zur Herstellung von Nähe zwischen Sprechenden scheitert, weil sie „zerbrochen durch den Tod“ sich selbst nicht mehr ähnlich ist?
Shuvalovas Verse nehmen uns die Verantwortung, eine Antwort auf diese Fragen zu finden, nicht ab. Was sie uns aber geben, ist eine Erinnerung daran, dass im Sprechen nur dann etwas mitgeteilt werden kann, wenn es aus der Erfahrung der Teilhabe heraus geschieht.
Quelle des Beitragsbildes: © Uranibor, URL: https://en.wikipedia.org/wiki/File:Shuvalova1.jpg