Belarus im Jahr 2020. Nur wenige Wochen bis zur dramatischen Präsidentschaftswahl. Ein Taxifahrer und eine Taxifahrerin: Er gegen Lukaschenko, sie für ihn. Nicht anders die Fahrgäste. Was erwarten sie alle von der Wahl und worauf hoffen sie?
Der Dokumentarfilm Maršrut perestroen (engl. The Route Recalculated) des Regisseurs Maksim Shved aus dem Jahr 2020 stellt uns den jungen Pavel aus der belarusischen Hauptstadt Minsk und die etwa 50-jährige Anna Michajlovna aus der Kleinstadt Baranavičy vor. Beide Taxifahrer_innen hören in ihren Autos Radio. Pavel hört politische Podcasts und Gespräche über alternative Kandidaten, in Anna Michajlovnas Wagen sind Nachrichten offizieller Sender zu hören. Im Laufe des Films erfahren wir, dass sich Pavel politische Veränderungen wünscht und gegen Diktator Alexander Lukaschenko trotz der Gefahr verhaftet zu werden protestieren will. Anna Michajlovna hingegen sehnt sich nach Stabilität und möchte für Lukaschenko abstimmen. Sie versteht nicht, wofür Menschen auf die Straße gehen und welche Art von Veränderungen sie wollen. Sie glaubt, dass Lukaschenko das Richtige für sie und ihr Land tut.
Maksim Shveds informativer Dokumentarfilm steht in einer Reihe von Filmen über die Proteste in Belarus im Jahre 2020, wie Smelost‘ (dt. Courage, 2021) von Aliaksei Paluyan , Mara (2022) von Sasha Kulak und Minsk (2021) von Boris Guts. Er hält fest, was vor der Wahl in Belarus im Sommer 2020 bereits in der Luft hing und dokumentiert zudem einige der friedlichen Demonstrationen zur Unterstützung der oppositionellen Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja .
Im Mittelpunkt der Handlung stehen Dialoge zwischen den Fahrgästen, die mit mehreren, im Innenraum des Taxis befestigten, Kleinkameras gefilmt wurden. So haben wir fast während des ganzen Films die Möglichkeit, den Gesprächen in den beiden Taxis zu folgen und eine Illusion des unmittelbaren Miterlebens vor Ort zu bekommen. Nur am Ende steigen wir mit den Taxifahrer_innen aus den Autos aus, um an der Wahl teilzunehmen und geraten dann mitten hinein in den Wirbel des Protests.
Die Idee von Shved ähnelt der im Spielfilm Night on Earth von Jim Jarmusch (1991), dessen Komposition auf Gesprächen in Taxis in fünf Städten der Welt basiert, oder dem Film Taxi des iranischen Regisseurs Jafar Panahi (2015), in dem Dialoge im Auto die politische Situation im Staat verdeutlichen. In diesen Filmen wird das Taxi zu einem intimen Raum, in dem Vertrauen zwischen den Protagonist_innen entsteht. In Maršrut perestroen existiert der Taxi-Raum parallel zum brutalen öffentlichen Raum mit seinen politischen Institutionen und wird zu einem Ort, in dem man sich frei äußern kann. In diesem Mikrokosmos treffen Menschen mit völlig unterschiedlichen Ansichten aufeinander. Einige Taxifahrgäste wünschen sich die sogenannte „Stabilität“, die ihnen Diktator Lukaschenko verspricht. Andere, meist junge Menschen, sehnen sich nach grundsätzlichen politischen Veränderungen wie Machtwechsel, Wiederherstellung der Meinungsfreiheit und Einhaltung der Menschenrechte.
Die agonale Symmetrie der Handlung in Maršrut perestroen lässt nachempfinden, wie dramatisch die belarusische Gesellschaft gespalten ist. „Was haben sie euch versprochen?“ – fragt Anna Michajlovna skeptisch, als sich zwei Jungen mit weiß-rot-weißen Fahnen, die von einer Demo mit Zichanoŭskaja kommen, in ihr Auto setzen. Sie ist überzeugt, dass die Demonstrierenden von „Terroristen“ aus dem Ausland mobilisiert wurden und will ihnen deswegen nicht trauen. „Hoffnung auf Veränderung“, kommt die wage Antwort der Jungen. Ein anderer, pro Lukaschenko gestimmter Fahrgast ist überzeugt, dass sein Kandidat gar keine besondere Unterstützung nötig habe. Die öffentliche Unterstützung Lukaschenkos und seiner Regierung ist in Wahlplakaten omnipräsent. Durch die Augen der Taxifahrgäste sehen wir ideologisch aufgeladene Propagandaplakate an der Windschutzscheibe vorbeiziehen: „Ich würde gerne zur Armee gehen“; „Batka, geh voran, das Volk ist mit dir“.
Die versprochene Stabilität ist aber eine Illusion, was sich auch im Stadtbild zeigt: Während Kinder friedlich im Park spielen, ziehen sich Bereitschaftspolizist_innen und Panzer an großen Versammlungsplätzen zusammen. Diese Koexistenz von friedlichen Menschen und von Gewalt ausübenden Vertreter_innen staatlicher Institutionen macht deutlich, wie stark politische Unterdrückung den Alltag in Belarus bestimmt. Später wird sie in den wochenlang andauernden gewaltsamen Provokationen gegen friedlich protestierende Bürger_innen Belarus zum Ausdruck kommen.
Am 10. November, dem Tag, an dem der Film Maršrut perestroen auf dem FilmFestival Cottbus gezeigt wurde, hat das Innenministerium von Belarus den Slogan der Regimegegner_innen für ein freies Belarus „Živye Belarus“ mit Nazi-Symbolik gleichgesetzt. „Živye Belarus“ laut zu sagen, gilt seither dem belarusischen Gesetz zufolge als extremistisch. „Man weiß nie, ob man verhaftet wird oder nicht, sie lassen dich ständig Angst spüren“, sagte der Regisseur nach der Filmvorführung in Cottbus. Am Ende des Films erfahren die Zuschauer_innen die tragischen Lebensumstände der Taxifahrgäste, die sich gegen das Regime gestellt haben. Jemand wurde verhaftet, jemand emigrierte, jemand musste wegen der politischen Ansichten seinen Job aufgeben. Der Regisseur und der Kameramann wurden selbst während der Proteste in Minsk auf der Straße verhaftet und mussten ins Exil.
Am letzten Drehtag, dem Tag der Wahl, sieht man überall Gefangenentransporter mit der Aufschrift „Menschen“. Sie versperren den Autos den Weg, weshalb das Navigationsgerät die Fahrroute ständig ändern muss. Die überall entstehenden Sackgassen entsprechen der Hoffnungslosigkeit, die sich nach dem Sieg Lukaschenkos und der brutalen Niederschlagung der Proteste im Stadtraum und im ganzen Land verbreitet. Und doch scheinen manche Fahrgäste überzeugt davon, dass der Wandel noch bevorsteht, die Route also tatsächlich berechnet werden kann.
Maksim Shved: MARSHRUT PERESTROEN (The Route Recalculated). Belarus, 2020, 52 min.