Auf dem Berliner Bebelplatz fand Anfang April eine Buchmesse für zensurfreie russischsprachige Literatur statt. Auch, wenn die Messe hinter ihren großen Versprechen zurückblieb, machte unser Autor doch eine unerwartete Neuentdeckung: Der Roman „Schmel“ (Die Hummel) von der jungen Autorin Anja Getman beschreibt das Leben im militarisierten Russland des Jahres 2022 – in einer äsopisch „summenden“ Sprache und aus Perspektive einer authentischen weiblichen Protagonistin.
Vom 3. bis 6. April fand auf dem Bebelplatz die Berliner Buchmesse für russischsprachige (und zensurfreie) Literatur statt: Berlinskaja knižnaja jarmarka russkojazyčnoj literatury. Der Veranstaltungsort war nicht zufällig gewählt: Genau an diesem Platz verbrannten die Nationalsozialisten am 10. Mai 1933 in einem schaurigen Ritual Bücher. Laut den Veranstaltern war das Hauptziel der Messe, „zu zeigen, dass die russische Sprache heute nicht nur eine Sprache der staatlichen Propaganda ist… Sie bleibt auch außerhalb Russlands eine Sprache lebendiger Literaturprozesse – ohne innere oder äußere Zensur, ein Teil des globalen Literaturlebens und ein wichtiges Instrument zur Reflexion der aktuellen historischen Situation.“ Ich fragte mich: Ist ihnen das wirklich gelungen?
Ich besuchte die Messe am Sonntag, dem 6. April. Ein sonniger Frühlingstag, mitten in Berlin, ein heller Altbau mit hohen Decken. Zwei Räume im Erdgeschoss, gefüllt mit einer bunten Menschenschar – ich sah etwa neuzugewanderte IT-Spezialisten mit Kindern oder schon lange ansässige russischsprachige Damen –, die sehnsüchtig den Geist der Gegenwartskultur einatmeten. In einem kleineren Raum standen einige Tische mit größeren oder kleineren Bücherstapeln. Dahinter: junge (freiwillige?) Mitarbeiter*innen und schläfriges Fachpersonal, das ab und zu aufwachte, um über zeitgenössische Poesie zu sprechen, die sonst niemand kannte.
Wenig Neues und fehlende Einigkeit in der russischsprachigen Literaturszene im Exil
Für einen Rundgang durch den Raum mit allen Büchern brauchte ich etwa 15 Minuten – inklusive Gespräche mit Bekannten. Zu den interessanteren Funden zählten für mich Kinderbücher vom Verlag „Samokat“ sowie die Comics des „Memorial“-Verlags. Vieles war sogar in Fremdsprachen übersetzt: Das charmante Kinderbuch Der arbeitslose Baum auf Französisch, Die Geschichte einer alten Wohnung auf Deutsch.
Laut den Organisatoren war das Ziel der Messe, „unzensierte russischsprachige Texte zu präsentieren und zur öffentlichen Diskussion zu stellen, die als Reaktion auf Aggression, Gewalt und Desorientierung entstanden sind, als ein Weg, die Vergangenheit, die zum Krieg führte, neu zu überdenken“. Daher waren die meisten von mir gesehenen Bücher aktuellen politischen Themen gewidmet, wie bei den Verlagen „Memorial“, „Meduza“ und „Freedom Media“.
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- Cover des Bilderbuchs für junge Erwachsene „Die Geschichte einer alten Wohnung“ (Samokat, 2024). Bildquelle: https://samokatbook.ru
Dennoch sah ich nichts grundsätzlich Neues. Immer noch die gleiche, von niemandem benötigte poetische Avantgarde oder populärwissenschaftliche Literatur über Gewalt und Rechtlosigkeit im modernen Russland für 25 Euro pro Buch. Es ist nicht ganz klar, wer das heute kaufen soll, außer neunzigjährigen Experten für zeitgenössische Poesie. Selbst wenn man es wirklich möchte – all das gibt es ohnehin in Hülle und Fülle in Berlin („Babel Books“), Tbilisi („Auditorium“, „Ithaka Books“) und in anderen Zentren des russischen Exils.
Zudem gelang es den Veranstaltern nicht ganz, alle Teile des unabhängigen Buchmarktes zu vereinen. Zum Beispiel fand die geplante Zusammenarbeit mit einer anderen russischsprachigen Messe, dem „Prager Bücher-Turm“, nicht statt. Diese wurde separat bereits im September des Vorjahres ausgetragen und kämpfte mit gleicher Vehemenz gegen die russische Buchzensur, ohne Konkurrenten oder Verbündete anzuerkennen.
Anja Getman mit ihrem Roman „Schmel“: Eine authentische literarische Neuentdeckung
Insgesamt war alles völlig typisch für die russische Intelligencija, der ich mich wohl auch zuzuzähen habe: ewige Streitereien untereinander, alte Gesichter und Parolen, Bücher zu den immer gleichen Themen für ein generisches Publikum. Anstelle eines „lebendigen literarischen Prozesses“ ein Emigranten-Sumpf…
…dachte ich, bis ich in den zweiten Stock der Messe kam. Dort fand die Präsentation des Debütromans von Anja Getman statt: erst 26 Jahre alt, auffallend durch ihr Aussehen, ihre Sprache und erfrischend „real“. Zur Präsentation kamen nur wenige, aber alle Anwesenden hörten gebannt zu.
Ihr Buch „Schmel“ (Die Hummel) ist eine Autofiktion, die auf dem Leben der Autorin in Sankt Petersburg im Jahr 2022 basiert. Die Protagonistin des Romans, Vera, leidet an einer Angststörung, die sich vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs ihrer Ehe und der Ausweitung des Angriffskrieges in der Ukraine verschärft.
Das Buch ist aus der Ich-Perspektive einer unzuverlässigen Erzählerin geschrieben, die den Leser in ihre verrückte Welt eintauchen lässt. Sie habe die Heldin ohne Rücksicht auf das Mitgefühl der Leser geschaffen, erklärt Anja Getman. Ihre Figur Vera trifft idiotische Entscheidungen, kann nicht über ihre Probleme sprechen und klare Grenzen setzen. Sie verlässt ihren Ehemann Kirill ohne Erklärung und erfindet eine gegenseitige Liebe mit einem zufällig getroffenen Klassenkameraden, Kolja. Bei einem Date mit ihm in einer Bar trinkt sie zu viel und erbricht, erlebt vollständige emotionale Erschöpfung und Verdrängung von allem außer ihrer Angst – einem ständigen Summen im Kopf, das wie eine Hummel summt.
Dieses Summen lässt sie während des gesamten Buches nicht los. Es verleitet Vera zu Handlungen, die sie selbst abscheulich findet: Sie versteckt ein Diktiergerät bei ihrer Mitbewohnerin, einer Psychotherapeutin, und verwendet die Geschichten ihrer Klienten für ihre Erzählungen. Es scheint, dass könne nichts den Leser zu dieser Heldin hinziehen, doch das Buch liest sich in einem Zug.
Der Grund: Vera ist unvorstellbar lebendig. Ihre Sprache ist klug, bildhaft und gleichzeitig extrem einfach, voller Schimpfwörter und Humor. Viele ihrer Leser*innen empfanden nicht nur Mitgefühl für die Heldin, sondern wollten sie gar umarmen und vor dieser schrecklichen Welt und vor ihrer tiefsitzenden Angst beschützen, erzählt die Autorin. Zu ihrer eigenen Überraschung konnte ihre Leserschaft in Vera etwas Warmes, Kindliches, Kreatives und Echtes sehen; viele fühlten sich mit Vera verbunden und stießen selbst auf verborgene Angststörungen. Es gibt kein positives Ende, keine Reinigung oder Antwort auf die Frage, was zu tun ist. Es ermöglicht dem Leser, sich in Vera wiederzuerkennen – und zu fühlen, dass er nicht allein war in all der Angst und angesichts der Nachrichtenapokalypse des Jahres 2022.
„Summende“ Ängste in der militarisierten russischen Gegenwart
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine wird im Text zwar nicht direkt genannt, durchdringt jedoch das gesamte Werk, da er Vera zutiefst beunruhigt und beschäftigt. Nachdem sie als Kind im Fernsehen Bilder der Invasion in Georgien im Jahr 2008 gesehen hat, fürchtet sie um ihren Vater und andere Männer, die in den Krieg eingezogen werden könnten. In ihr selbst marschiert eine Kompanie Soldaten – ein Bild, das sich durch den ganzen Roman zieht. Die junge Frau liest Nachrichten über Butscha im Wechsel mit kontextbezogener Instagram-Werbung über Strandurlaub auf Bali und Geschichten von vor dem russischen Kriegsregime flüchtenden Freund*innen und Bekannten. Ihre Angst „summt“ wie nie zuvor während der Mobilisierung: Im Roman werden sie als „Kisselufer“ und „Milchflüsse“ („кисельные берега” и „молочные реки“) beschrieben, die Häuser und Boden erzittern lassen.
Dank dieser äsopischen Sprache konnte „Schmel“ in Russland veröffentlicht werden. Anja Getman war es wichtiger, eine komplexe künstlerische Welt zu schaffen, die für alle Antikriegsrussen verständlich ist, anstatt die „allen ohnehin verständlichen drei Slogans“ zu verwenden, sagt sie auf dem Podium – und meint vermutlich die russischen Protestparolen „Kein Krieg“, „Frieden der Ukraine, Russland die Freiheit“ und „Russland ohne Putin“.
Man kann mit der Autorin diskutieren oder ihr zustimmen – in jedem Fall aber ist ihre Position fest, ruhig und verständlich. Ihr Roman ist nicht perfekt, wie sie selbst zugibt. Das Fehlen eines klaren Handlungsstrangs, die von sozialen Netzwerken abgeschriebene Sprache und stellenweise fehlende Interpunktion können ermüden und dazu führen, dass man flüchtig mit den Augen über die Seiten fliegt.
Zudem fiel es mir als Leser schwer, mich in Veras Lage hineinzuversetzen, da ich weder an ADHS noch an Angststörungen leide. 2022 hielt ich mich zudem nicht in Russland auf und weiß daher nicht, wie sich die Großinvasion auf das Schreiben und die Stimmung im Land auswirkte.
Doch nach Besuch der Berliner unabhängigen Buchmesse im April 2025, denke ich nur daran, dass ich keine alten Slogans und politisch aktuellen Bücher mehr möchte. Ich möchte keine poetischen Experten im Alter von Baratynskij. Ich möchte einfach etwas Neues und Echtes – wie in diesem leise im zweiten Stock präsentierten Buch.
Buchcover des Romans von Anja Getman „Schmel“ (NoAge, 2024),
Bildquelle: https://polyandria.ru/noage/catalog/vse-knigi/shmel/.
Literaturverzeichnis:
Гетьман, Аня. Шмель; Санкт-Петербург: Polyandria NoAge, 2024.
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