Von einem Tag auf den anderen der Heimat Riga entrissen, von der Familie getrennt und in die Fremde verschleppt – so ergeht es Melānija und ihrem Sohn im Juni 1941. „Melānijas hronika“ („The Chronicles Of Melanie“) erzählt eindrucksvoll von der darauffolgenden, sechzehn Jahre andauernden Leidensgeschichte in einem sibirischen Arbeitslager. Mit dem 2016 erschienenen und kommerziell sehr erfolgreichen Film des Regisseurs Viesturs Kairišs wird der lettischen Autorin und Journalistin Melānija Vanaga (1905–1997) ein Denkmal gesetzt.
Im Juni 1941, während der Sowjetisierung Lettlands, tauchen in Melānijas Wohnung in Riga plötzlich sowjetische Soldaten auf, trennen sie von ihrem Mann und sperren sie zusammen mit ihrem achtjährigen Sohn in einen Güterzug. Mit vielen anderen Frauen fahren sie tagelang ohne Pause an ein unbekanntes Ziel. Nach der Ankunft werden sie zunächst auf ein umzäuntes Feld getrieben. Sie müssen Russisch sprechen und werden als Faschist_innen beschimpft. Außerdem werden die Deportierten dazu gezwungen, zu unterschreiben, dass sie für zwanzig Jahre freiwillig umgesiedelt sind. Unter unmenschlichen Bedingungen leben sie hier in Holzhütten und müssen Zwangsarbeit leisten. Der Alltag ist bestimmt von Hunger, Kälte, Demütigung und Krankheiten, auch sexuelle Übergriffe durch die Soldaten sind keine Seltenheit.
Immer wieder erkundigt sich Melānija nach ihrem Mann und bekommt die Antwort, dass er noch am Leben, aber zu zehn Jahren Haft verurteilt worden sei. Sie schreibt ihm regelmäßig Briefe, die sie nicht abschicken kann. Nach Kriegsende kann ihr Sohn nach Riga zurückkehren, sie muss jedoch bleiben. Als zehn Jahre vergangen sind und ihr Mann die Haft schon beendet haben sollte, bekommt sie immer noch die gleiche Auskunft wie zuvor. Ausgezehrt und hoffnungslos verbrennt sie alle Briefe an ihren Mann und unternimmt einen Selbstmordversuch. Doch sie wird gerettet und kommt ins Krankenhaus. Sie erhält einen Brief ihres Sohnes, darin befindet sich ein Foto von ihm in Uniform – er ist in die sowjetische Armee eingetreten. Melānija nimmt sich vor, ihre Geschichte aufzuschreiben: „Damit sie wissen, dass wir existiert haben“. Erst 1957, 16 Jahre nach ihrer Deportation, darf sie im Zuge der Entstalinisierung nach Riga zurückkehren und erfährt dort, dass ihr Mann schon 1942 erschossen wurde.
Der Film ist durchgehend in Schwarz-Weiß gehalten, was dazu verhilft, den Eindruck der Authentizität und Historizität zu verstärken. Von Anfang an ist klar: Wir Zuschauer_innen sehen hier eine Darstellung der Vergangenheit. Aus Melānijas Blickwinkel erleben wir das Gefangensein in der Eintönigkeit der sibirischen Landschaft: Lethargisch durchlebt sie einen Tag nach dem anderen, doch ihr Leben hat keine Farbe mehr, alles ist grau und trist, die karge Landschaft gewinnt dennoch an eigenwilliger Schönheit. Die Schweizer Schauspielerin Sabine Timoteo, die eigens für den Film Lettisch lernte, zieht das Publikum vor allem durch ihre ausdrucksstarke Mimik in ihren Bann. Bemerkenswert ist auch die Klangkulisse des Films: Musik wird kaum eingesetzt. Stattdessen hören wir gedämpfte, verzerrte Töne, die erst leise sind und dann plötzlich laut werden. Als Melānija etwa halbtot im Krankenhaus liegt, hören wir laut ihr Atmen, wie sie nach Luft schnappt und ums Überleben kämpft. Dies alles erzeugt eine fast schon albtraumhafte, sehr eindringliche Atmosphäre. Es herrscht eine düstere Grundstimmung, die durch ein ausgedehntes Erzähltempo und lange Kameraeinstellungen der Landschaften verstärkt wird.
Mit dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 fiel das Baltikum unter Einfluss der Sowjetunion. Konsequent zeigt der Film die Auswirkungen der stalinistischen Zwangsumsiedlungen, bei denen zum Zweck der „ethnischen Säuberung“ vermeintlich politische Gegner, Deutschbalten und Angehörige von anderen Minderheiten deportiert wurden. Auf dieser in der Erinnerungskultur Europas und Deutschlands häufig unbekannt gebliebenen Opfergruppe liegt der Fokus.
Dass der Film auch international auf die Deportationen und ihre Folgen aufmerksam machen will, zeigt sich unter anderem auch an der Wahl einer bekannten Schweizer Schauspielerin als Hauptdarstellerin. Melānijas hronika reiht sich in das nationale Narrativ der Emanzipation ehemaliger sowjetischer Länder als eigenständige Nationen ein und bezieht sich dabei implizit auch auf aktuelle nationale und politische Diskurse, wie die heutige, konfliktbeladene Beziehung Russlands und Lettlands oder auf die Konkurrenz der Erinnerung an die Opfer der stalinistischen Deportationen einerseits und an die des Holocaust andererseits. Dabei darf nicht vergessen werden, dass es erst seit einigen Jahren überhaupt möglich ist, Geschichten zu erzählen, die sich mit diesem Kapitel der lettischen Geschichte befassen. Erst 1991, nach dem Zerfall der Sowjetunion, konnte Melānija Vanaga ihr autobiographisches Buch veröffentlichen, auf dem der Film basiert. Die Aufarbeitung der Traumata die aus den stalinistischen Deportationen resultierten, wird auch durch Filme wie diesen ermöglicht. Seither ist die Erinnerung an die Opfer der stalinistischen Deportationen eines der wichtigsten nationalen Narrative. Trotz des gezeigten spezifischen Schicksals sind die Themen universell: Tod, Verlust der Familie, Deportation, Aufopferung, erzwungene Auslöschung der eigenen Identität und Solidarität unter den Opfern.
Der Ausbruch und das Ende des Zweiten Weltkriegs sind für Melānijas persönliches Schicksal beinahe nebensächlich. Denn sie wird noch vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion deportiert. Die Rückkehr des Sohnes nach Riga macht sie schlussendlich nur noch einsamer; sie selbst bekommt durch die Deportation vom gesellschaftlichen Wandel nach Kriegsende nichts mit.
Der Fokus auf die Hauptfigur und das nationale Narrativ sorgen jedoch dafür, dass andere Opfergruppen nicht behandelt werden und die Täter/Opfer-Darstellung sehr eindimensional bleibt: Die Letten sind gut, die Sowjets böse. Grauzonen gibt es nicht, auch die lettische Kollaboration mit der SS und deutsche Kriegsverbrechen werden nicht erwähnt. Jakob, der einzige Deutsche im Film, wird recht sympathisch dargestellt. Melānija nimmt ihn bei sich auf und kümmert sich um ihn. Beide, Melānija und Jakob, werden von Sowjets als Faschist_innen beschimpft und verbünden sich gegen den gemeinsamen Feind. Auch wenn sie wenig miteinander sprechen, ist ihr Verhältnis doch von gegenseitigem Verständnis geprägt: Gemeinsam rezitieren sie deutsche Gedichte.
Abgesehen von der ‚harmlosen‘ Darstellung der Deutschen gibt es auch eine verharmlosende Aussage über den Holocaust, als eine Frau nach Kriegsende sagt: „Mein Trost ist, dass meine Eltern in den Gaskammern schnell gestorben sind. Im Gegensatz zu meinem Leben in den russischen Lagern.“ Dass die beiden Erinnerungen an den Holocaust und die stalinistischen Deportationen hier gegeneinander ausgespielt werden, ist sicherlich auch historisch problematisch.
Leider wirkt das Heldentum Melānijas manchmal etwas übertrieben und unglaubwürdig. Etwa, als sie ihre Schuhe im eisigen Winter hergibt, um ein Paket an ihren Bruder schicken zu können. Auch leichte Spuren von Pathos und Kitsch werden nicht immer umgangen, wenn ein Kind nach seiner gerade verstorbenen und in einer Trage abtransportierten Mutter schreit oder Melānija immerzu von ihrem Mann träumt und ihm aus letzter Kraft noch Briefe schreibt.
Nichtsdestotrotz werden die physischen und psychischen Qualen und Demütigungen, Ungerechtigkeiten und sexuellen Übergriffe in voller Eindrücklichkeit gezeigt; das Lagerleben wird nicht romantisiert oder instrumentalisiert, sondern Szene für Szene eingefangen. Grausamkeit und Willkür zeigen sich zum Beispiel, wenn die Frauen versuchen das für die Schweine bestimmte Brot in ihren Kleidern zu verstecken. Eine nach der anderen werden sie von einem Aufseher gezwungen, das Brot fallen zu lassen, woraufhin sich die Schweine sofort darauf stürzen.
Eine – trotz einiger dramaturgischer Schwächen – angemessene und berührende Erinnerung an die lettischen Opfer der stalinistischen Deportationen, deren Geschichten hierzulande noch immer zu selten gehört werden.
Kairišs, Viesturs: Melānijas hronika (The Chronicles Of Melanie). Lettland, 2016, 120 Min.