„Diesmal war mir klar, dass die Menschen ‚erwacht‘ waren.“ – ein Gespräch mit Vitalij Aleksejonok

Der aus Belarus stammende und in Deutschland lebende Dirigent Vitalij Aleksejonok  war von der – wie er schreibt – „maßlosen Ungerechtigkeit und skrupellosen Gesetzlosigkeit“ bereits bei der Vorbereitung der Wahlen 2020 in Belarus so tief erschüttert, dass er dann im August nach Minsk reiste, um solidarisch an den dortigen Protesten teilzunehmen. Mit „Die weißen Tage von Minsk. Unser Traum von einem freien Belarus“ tritt er erstmals als Autor in die Öffentlichkeit und liefert auf Basis seiner persönlichen Erfahrungen nicht nur eine Chronik, sondern auch ein nachfühlbares Zeugnis der elektrisierend-verbindenden Emotionen der belarusischen Freiheitsbewegung.  

 

Timo Daus: Vitalij Aleksejonok, mit Ihrem Buch „Die weißen Tage von Minsk“ sind Sie neben Ihrer künstlerischen Tätigkeit als Dirigent auch Autor eines politischen Buches. Wie haben Sie es geschafft, die Emotionen der Protestbewegung in Belarus so eindrücklich an uns Leser_innen weiterzugeben?

Vitalij Aleksejonok: Ich bin Musiker, aktiver Leser, aber kein Schriftsteller. Allerdings hat mir meine Arbeit als Dirigent beim Verfassen des Buchs sehr geholfen. Als Dirigent bin ich es gewohnt, eine dramaturgische Verbindung von Inhalt und Form zu schaffen und gleichzeitig die Wirkung der Präsentation eines Werkes vorauszudenken. Beim Schreiben habe ich sehr viel „learning by doing“ praktiziert, hatte aber immer das Inhaltliche, also meine Eindrücke und Erlebnisse während der Proteste in Belarus, als Leitlinie vor Augen. Ohne selbst die Bewegung live miterlebt zu haben, ohne die Emotionen gefühlt zu haben, hätte ich es nicht gewagt, ein Buch zu veröffentlichen. Den ersten Entwurf habe ich auf Russisch geschrieben und unserer Nobelpreisträgerin Svjatlana Aleksievič mit der Bitte um Durchsicht gegeben. Neben meinen Lektoren war sie die allererste Leserin.

 

Der 1991 in der Nähe von Minsk geborene Dirigent Vitalij Aleksejonok ging 2011 nach Sankt Petersburg, um am dortigen Konservatorium zu studieren. Aktuell ist er Dirigent sowie künstlerischer Leiter des Abaco-Sinfonieorchesters in München, einem seit mehr als 33 Jahren bestehenden Orchester von über 100 Student_innen unterschiedlichster Fachrichtungen, die in ihrer Freizeit „am liebsten symphonische, laute, schwungvolle, träumerische, mitreißende Musik“ machen (so Aleksejonok).

T.D.: In ihren Werken wie Secondhand-Zeit verwendet Svjatlana Aleksievič eine eigene Methode, bei der sie in mehreren Schritten die Inhalte von sehr vielen – wie sie es nennt – „Gesprächen über das Leben“ zu einer Gesamtkomposition verbindet, sodass daraus eine Darstellung individuell-kollektiver Grenzerfahrungen entsteht, die der Nachwelt zur Erinnerung weitergegeben wird. Haben Sie in Aleksievičs Feedback etwas von diesem Vorgehen erkennen können? 

 

V.A.: Tatsächlich verfolge ich eine ähnliche Intention, ich möchte, dass Außenstehende die besonderen Motive und Ziele der belarusischen Freiheitsbewegung verstehen und nicht vergessen. Aleksievič hat mir dazu geraten, das Buch etwas zu kürzen, worüber ich im Nachhinein sehr froh bin.

 

T.D.: Sie beschreiben gleich zu Beginn des Buches, dass Corona ein „Wegbereiter“ der solidarischen Großdemonstrationen war. Das hört sich widersprüchlich an, da man Covid-19 vordergründig mit Distanzhalten und Verbot von Menschenansammlungen verbindet. Wie meinen Sie das mit dem „Wegbereiter“? 

 

V.A.: Das belarusische Regime hat genau – entgegengesetzt beispielsweise zur deutschen Regierung – auf die Pandemie reagiert. In Belarus wurde die Pandemie von Aljaksandr Lukašenka totgeschwiegen, er behauptete, das sei alles eine Psychose. Dass dies nicht der Fall war, erfuhren die Belarus_innen jedoch schnell über die sozialen Netzwerke; die Regierung hatte sich in eine absurde Außenseiterposition gebracht. In der Bevölkerung entstand eine sehr große Solidaritätswelle, und es gelang ganz ohne Hilfe des Regimes, ein Netzwerk gegenseitiger Hilfe und Unterstützung zu organisieren. Das meinte ich, wenn ich vom „Wegbereiter Corona“ gesprochen habe: von dieser „Übung der Solidarität“ haben wir beim Widerstand gegen das undemokratische Vorgehen bei den Präsidentschaftswahlen enorm profitiert. Die Zivilgesellschaft hat gelernt, sich selbst ohne und gegen das Regime zu organisieren.

 

T.D.: Sie haben in Sankt Petersburg studiert, seit 2017 hatten Sie Ihren Lebensmittelpunkt in München bzw. waren unterwegs auf Konzerten. Durch ihre regelmäßigen Besuche in Belarus waren Sie dem Land aber weiter eng verbunden, trotzdem haben Sie 2020 in Minsk eine Veränderung festgestellt?

 

V.A.: Als ich am 4. August 2020 nach Minsk kam, war da etwas ganz Neues. Ich war vollkommen überrascht von den Menschen in Belarus. Früher dachte ich, die meisten wären apolitisch, sie verstanden sich nicht als Zivilgesellschaft, wollten einfach ihrem Leben nachgehen und öffentlich nicht in Erscheinung treten, schon gar nicht bei Vorgängen, von denen sie glaubten, dass sie sie ohnehin nicht beeinflussen könnten. Diesmal war mir klar, dass – auch wenn das romantisch klingt – die Menschen ‚erwacht‘ waren. Ein Gefühl von Solidarität lag in der Luft. Der 4. August war der erste Tag, an dem man seine Stimme abgeben konnte, man musste nicht bis zum eigentlichen Wahltag, dem 9. August, warten. Die Bevölkerung war elektrisiert, das konnte man atmosphärisch spüren. Das hat mich sehr beeindruckt: wie von selbst hatten sich Symbole der Solidarität und Friedfertigkeit etabliert und schnell weit verbreitet. Menschen trugen weiße Armbänder und das Eva-T-Shirt, das ich selbst später auch immer bei Protesten angezogen habe. Wenn man auf die Straße ging, erkannte man sofort, dass man nicht alleine war, es gab einen Zusammenschluss auf visueller Ebene, wodurch man selbst aktiver und mutiger wurde; es gab eine gegenseitige energetische Aufladung, die der Bewegung ihre Größe und Dynamik verliehen hat. Persönlich habe ich das bei meiner ersten Teilnahme an einer Demonstration, am 6. August, gespürt. Wir waren umgeben von Bereitschaftspolizisten, mir wurde klar, wie gefährlich es ist, in Belarus zu demonstrieren. Ich habe dann – und das kann ich mit Worten nur schlecht beschreiben – tief im Inneren gespürt, wie wenig wir, die Belaruss_innen im Ausland, riskieren. Für uns in Deutschland existiert keine oder nur eine geringe Gefahr, selbst wenn wir öffentlich protestieren. In Belarus hingegen musste jeder jeden Tag die Entscheidung treffen, ob sie oder er rausgeht und sich der Gefahr durch das Regime aussetzt. Dass so viele Menschen bereit waren, sich zu zeigen, sich auf einer inoffiziellen Demonstration der Gefahr einer Inhaftierung auszusetzen, hat mich sehr beeindruckt, es hat mich im positivsten Sinne schockiert.

Symbole der Proteste in Belarus

Das Gemälde „Eva“ von Chaim Sutin, einem auf heute belarusischem Gebiet geborenen Expressionisten jüdischer Herkunft, ist eines der derzeit teuersten Kunstwerke in Belarus. Es wurde 2013 von Viktor Babariko für die von ihm gegründete Kunstsammlung der „Belgasprombank erworben. Das Bildmotiv, ein Eva-Porträt, wurde durch die Beschlagnahmung des Bildes zum Freiheitssymbol. „Eva“-Bilder sind Teil zahlreicher Collagen, wurden zum beliebten Motiv auf T-Shirts, Tassen und Aufklebern. „Eva“ wird dabei auch mit Stinkefinger, in gestreifter Sträflingskluft, mit Blumen in der Hand oder hinter Gittern dargestellt, sie wurde zu einem belarusischen Pop-Art-Phänomen.

T.D: Sie beschreiben in Ihrem Buch, dass Sie das Gefühl der Angst beim Vorbeifahren von vermeintlichen OMON-Kleinbussen, in denen willkürlich Demonstrant_innen entführt wurden und werden, auch nach Ihrer Rückkehr nach Deutschland erst langsam abschütteln konnten. Sie sind durch Ihre Buchveröffentlichung eine öffentliche, offen regimekritische Person geworden. Das erfordert Mut.

 

V.A.: Sechs Monate lang ein Buch zu schreiben und es zu veröffentlichen, braucht, finde ich, viel weniger Mut als nur einen einzigen Abend in Belarus auf die Straße zu gehen – jetzt aktuell natürlich ganz besonders.

 

T.D.: In Kommentaren und Chats zu Ihren online veröffentlichten Interviews sind mir kritische Bemerkungen aufgefallen wie z.B. „Wieder einer, der aus der Ferne zündelt. Mit derartigem ‚Mut‘ werden sie den Mustache-Mann mit der Glatze niemals los.“ Oder solche, in denen Ihr Buch als Propaganda abgewertet und ironisch-sarkastisch verhandelt wird. Wie gehen Sie mit solchen Reaktionen um?

"Eva" von Chaim Sutin, hier mit Stinkefinger als Protestsymbol.

V.A.: Davon habe ich nichts gewusst. Würden solche Aussagen mir gegenüber direkt geäußert, wäre es mein Ziel herauszufinden, welche Lebenserfahrungen zu solchen Meinungen geführt haben. Ohne diese Personen unbedingt überzeugen zu wollen, würde ich dennoch mit ihnen reden – so wie ich auch mit AfD-Wähler_innen in Deutschland reden würde. Wenn man Menschen mit fehlgeleiteten Einstellungen nur verachtet oder für dumm erklärt, stärkt das meines Erachtens deren Position. Zwar glaube ich nicht, dass mein persönlich Erlebtes die einzige Wahrheit ist, aber denjenigen, die ohne dabei gewesen zu sein oder sich aus Primärquellen informiert zu haben, die Freiheitsbewegung verurteilen, fehlt die Grundlage für eine Einschätzung. Sie können die Situation doch gar nicht nachempfinden. Daher würde ich sie gerne mit Empathie aufklären, nicht durch Konfrontation. Das halte ich für sehr wichtig.

 

 

T.D.: Sie sind fast durch Zufall Musiker geworden. Infolge einer Asthma-Erkrankung begannen Sie, Posaune zu spielen – Jazz und Unterhaltungsmusik. Heute sind Sie Dirigent klassischer Musik. Wie kam es zu dem Wandel von Unterhaltungsmusik zur Klassik und vom Posaunisten zum Dirigenten?

 

V.A.: Bis vor einer Stunde hatten wir noch eine Probe mit dem Kyiv Symphony Orchestra zu Wagners Tristan und Isolde in Vorbereitung der Auftritte im Festspielhaus Neuschwanstein Ende September in Füssen. Das ist natürlich etwas ganz Anderes als Unterhaltungsmusik. Meine Liebe zur Klassik entwickelte sich ungewöhnlich. Ich hatte keinen Lehrer, der mich an klassische Musik herangeführt hat, auch keine Klavierlehrer_in. Ich habe mir Klavierspielen zunächst vollkommen falsch selbst beigebracht, weshalb ich es später neu lernen musste. Aber ich wollte es lernen, ich habe einen inneren Sog gespürt, der mich in diese Richtung geführt hat. Wenn man etwas so deutlich aus sich selbst „heraushört“, dann – davon bin ich überzeugt – findet man einen Weg, es umzusetzen. Aber man braucht natürlich eine Gelegenheit und die habe ich durch einen Freund erhalten, der mir eine Sammlung von 16 CDs mit klassischer Musik ausgeliehen hat. Seitdem ist mein Leben anders geworden. Gute Musik wirkt, ohne dass Hörer_innen etwas verstehen müssen, lediglich eine Bereitschaft zur Wahrnehmung wird vorausgesetzt. Ich war gleichzeitig aufnahmebereit und vollkommen geschockt – mit sechzehn war ich noch quasi „jungfräulich“, was klassische Musik betraf. Daher hat sie wahrscheinlich so intensiv auf mich gewirkt.

 

T.D.: Musik ist für Sie Kunst, aber hat auch eine gesellschaftlich-politische Komponente: Sie selbst haben tägliche Konzerte vor der Philharmonie in Minsk im August 2020 organisiert, sie haben beim Projekt „Music and Dialogue“ in der Ukraine mitgewirkt. Welche Rolle kann klassische Musik und gemeinsames Musizieren im Rahmen einer politischen Bewegung spielen? 

 

V.A.: Klassische Musik oder Musik generell ist eine abstrakte Kunst, gerade deshalb kann sie stark emotional wirken. Darin liegt eine Chance, aber auch eine Gefahr. Musik kann missbraucht werden, man kann sie wegen des hohen Abstraktionsgrades theoretisch für alles verwenden. Ihr Kontext kann bewusst verändert werden, um bestimmte Wirkungen zu erzeugen. Beispiele dafür sind die Neunte Sinfonie von Beethoven, Bruckners Siebte oder die Instrumentalisierung von Wagners Musik durch die Nationalsozialisten. „Schuldig“ sind dabei nicht die Komponist_innen, sondern immer diejenigen, die diese Musik benutzen. Aber Musik hat natürlich vor allem eine gute Seite, man kann mithilfe von Musik Menschen verbinden. Und das versuche ich zu tun – in ganz normalen Konzerten, aber eben auch in besonderen Projekten. Zum Beispiel durch meine Arbeit als musikalischer Leiter in dem schon erwähnten, bereits seit drei Jahren laufenden Projekt in der Ukraine: Wir arbeiten in unmittelbarer Nähe des Kriegsgebiets, nur zwanzig Kilometer entfernt von den Auseinandersetzungen zwischen Russland – ich nenne es einfach Russland – und der Ukraine. Die Bevölkerung dort ist arm, hat keine positiven Zukunftsaussichten und lebt wegen der Gefahren sehr isoliert. Dabei konnten wir beobachten, wie Musik zum einigenden Brückenbauer wurde – nicht nur für die Spielenden und Singenden aus verschiedenen Ländern einschließlich Russland und der Ukraine, sondern auch für das Publikum. Plötzlich waren die Musiker_innen keine Feind_innen mehr, sondern Kolleg_innen, das Publikum war eine Zuhörerschaft. Diese Erfahrung war für mich etwas sehr, sehr Schönes! Klassische Musik erfordert generell eine gewisse musikalische Reife, um in Menschen Veränderungen zu bewirken. Diese Reife hatten natürlich nicht alle, aber mit unseren Bildungsprojekten und sozialen Aktivitäten konnten wir auch musikalisch noch nicht Ausgebildete ansprechen und viel Positives bewirken. Das finde ich an Musik wirklich wunderbar!

TD: In Kooperation mit den Universitäten Freiburg und Innsbruck fand im Sommersemester 2021 an der Humboldt-Universität zu Berlin das Seminar „Belarus 2020: Revolution der Geduld“ unter Mitwirkung von unmittelbaren Teilnehmer_innen der Proteste in Belarus in Form von Autor_innenlesungen und Expert_innenvorträgen statt. Einige denken, dass die Bewegung bereits wesentliche Ziele erreicht hat und auch heute noch aktiv ist, da gehandelt wird: „wir handeln, denn Spazierengehen ist Handeln.“ Gemeint sind die heimlichen Spaziergänge durch Hinterhöfe. Mir erscheint das ein sehr intellektueller Zugang. In Ihrem Buch schreiben Sie im Kontext des August 2020 von der „belarusischen Freude“ und fordern Leser_innen auf, sich mitzufreuen. Gilt das heute noch oder ist das genau die Naivität, mit der Lukaschenko rechnet und mit der er sehr gut klarkommt, solange Putin hinter ihm steht. Wie schätzen Sie das ein?

Politische Verfolgung in Belarus

In Belarus gibt es mit Stand Oktober 2021 nach der von der Menschenrechtsorganisation VIASNA geführten Liste über 800 politische Gefangene. Den meisten wird wegen der Teilnahme an den friedlichen Protesten „Organisation von und Teilnahme an gemeinsam begangenem Landfriedensbruch“ (§ 342 des Strafgesetzbuchs) oder „Teilnahme an Massenunruhen“ (§ 293 des Strafgesetzbuchs) vorgeworfen. Zahlreiche Personen wurden bereits zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.

 

 

V.A.: Ich weiß nicht, ob Lukaschenko mit dieser Naivität rechnet. Aber ja, die Naivität gab und gibt es tatsächlich, weil wir politisch als Zivilgesellschaft noch so jung sind.  Wie Kinder mussten wir eine neue Welt erst kennenlernen, alles sahen wir bunt und farbenfroh, manchmal aber mit realitätsfremden Augen. Wie in der Pubertät erleben wir jetzt Enttäuschungen. Es ist eine sehr schwierige ethische Frage, ob man sich überhaupt freuen darf, solange es so viele politische Gefangene gibt und Menschen vom Regime umgebracht werden. Ich glaube, wir können uns nicht (mehr) einfach so freuen, manche haben sogar nahe Angehörige verloren, was einen für immer verändert. Auch wenn es viele unterschiedliche Meinungen und Prognosen hinsichtlich der Zukunft gibt, ist meine Überzeugung, dass wir uns auf einem Weg befinden, an dessen Ende wieder Licht scheint! Frustration, Hoffnungslosigkeit, die Aussicht, sich überhaupt nicht mehr freuen zu können, wäre jetzt das Schlimmste. Mit etwas Distanz betrachtet, sieht man, dass wir Belaruss_innen schon sehr, sehr viel in einem einzigen Jahr geschafft haben: Wir sind jetzt in der ganzen Welt anerkannt, nicht das Lukaschenko-Regime. Zum ersten Mal wollen westeuropäische und amerikanische Politiker nicht mit diesem Regime sprechen, sondern mit der belarusischen Oppositionsbewegung. Es wurde verstanden, dass es Oppositionelle als legitime Gesprächspartner gibt. Das ist unumkehrbar. Rückschläge gibt es natürlich; welchen Preis das Weitermachen noch haben wird, ist nicht absehbar. Aber wir müssen jetzt trotzdem weitergehen!

 

T.D.: Sie erwähnen in Ihrem Buch die drei in Belarus existierenden Sprachen: Belarusisch, Russisch und Trassjanka (eine belarusisch-russisch dialektale Mischsprache) sowie deren sich verändernde Bedeutung. Könnte eine gemeinsame Sprache ein verbindendes Element der Freiheitsbewegung werden?

 

V.A.: In der Oppositionsbewegung finden viele unterschiedliche Prozesse gleichzeitig statt, aber sie haben nicht unbedingt etwas mit einer gemeinsamen Sprache zu tun. Identifikation und Solidarität kommt in Belarus m. E. nicht über Sprache zustande. In den letzten Jahrzehnten haben zwar viele Oppositionelle Belarusisch gesprochen, in der aktuellen Bewegung aus alten und jungen Menschen war das aber gerade nicht die wichtigste Sprache. Die vielen jungen Protestierenden haben eher Russisch gesprochen. Aktuell geht es (noch) um Inhalte wie freie Wahlen. Die Frage der späteren Landessprache in einem demokratischen Staat war bis jetzt noch kein Thema. Allerdings hat Belarusisch eine Aufwertung erfahren. Früher war es, genauso wie Trassjanka, die Sprache der Ungebildeten und der Nationalisten, in letzter Zeit ist das Belarusische „in Mode“ gekommen, gilt als stilvoll. Belarusisch zu sprechen, bedeutet, sich zur belarusischen Identität zu bekennen und gegen das Regime zu sein.

 

T.D.: In Ihrem Buch betonen Sie, dass die Bewegung keine Anführer_innen hat, sondern „alles von jedem einzelnen von uns abhängt.“ Können Sie sich auch vorstellen, dass sich einige Belarus_innen leichter mit einem führenden Oppositionellen identifizieren könnten, der ihnen ein konkretes Zukunftsmodell anzubieten hat?

V.A.:  Im Gegenteil glaube ich tatsächlich, dass viele Belarus_innen jetzt keine/n starke/n Anführer_in haben wollen. Sie haben vor 27 Jahren einen gewählt mit der Folge, dass sie seitdem in einer Autokratie leben. Das ist eine Erfahrung, die es schwer macht, wieder an eine Person zu glauben. Es gibt die Gefahr, dass die Macht der gesellschaftlichen Kontrolle entgleitet und es wieder einen Diktator geben kann. Wir wollten 2020 faire Wahlen abhalten, wollten uns äußern, konnten es aber nicht, unsere Stimmen wurden unterdrückt. Viktor Babariko ist seit über einem Jahr im Gefängnis. Er wäre vielleicht einer, der ein demokratischer Führer werden könnte. Meine Utopie ist, dass wir das Stadium zwischen Autokratie und Demokratie überspringen, dass wir, ohne die Erfahrungen der politischen Entwicklung Westeuropas erst nachzuholen, gleich am Ziel der Demokratie z. B. nach Schweizer Vorbild ankommen. Aber dazu sind vielleicht nicht alle bereit.


T.D.: Die politische Situation hat sich mit der erzwungenen Zwischenlandung der Ryanair-Passagiermaschine
am 23. Mai 2021 in Minsk und der damals erfolgten Verhaftung des Oppositionsaktivisten Raman Pratasevič und seiner Freundin Sofija Sapega deutlich zum Schlechteren verändert. Der Einsatz eines OSZE-Sonderbeauftragten für die Wahrung der Menschenrechte in Belarus, ein friedlicher Dialogprozess nach Genfer Modell, die Anklage von Schlüsselfiguren des Lukaschenko-Regimes vor dem Europäischen Strafgerichtshof sowie härtere Wirtschaftssanktionen werden gefordert. Ausbleibende Generalstreiks in Belarus stoßen auf Verwunderung im „Westen“. Was erwarten Sie persönlich von der EU und den USA?

 

V.A.: Nicht wegzusehen, am Ball zu bleiben, zu erkennen, dass Belarus kein fernes Land, sondern ein Nachbar ist, der über ein in Betrieb befindliches Atomkraftwerk in nur 50 Kilometern Entfernung von der Grenze zur EU verfügt. Tschernobyl vor 35 Jahren hat gezeigt, wozu ein Reaktorunfall führen kann. Belarus mit einer unberechenbaren Regierung ist für die EU ein schlechter und gefährlicher Nachbar. Die Entführung des Ryanair-Flugzeugs hat deutlich gemacht, welche direkte Gefahr für EU-Bürger vom Lukaschenko-Regime ausgeht. Trotzdem kommen nicht viel deutlichere Zeichen aus Europa, ich habe mich gefragt, warum nicht mehr Haltung bei der wichtigen Frage der Verletzung von Menschenrechten gezeigt wird. Menschenrechte sind für die EU eigentlich wichtig, aber das ökonomische Denken bewirkt, dass der Außenhandel mit Belarus und natürlich Russland ein entscheidender Faktor ist. Die westeuropäischen Regierungen sind in eine Falle geraten, sie machen sich selbst zu Sklaven eines kapitalistischen Profitdenkens.

 

 

T.D.: Die Exporte von Deutschland nach Belarus betrugen 2020 laut Statistischem Bundesamt nur 0,1%, Importe von Belarus lediglich 0,05% des Gesamtvolumens. Würden Sie sagen, wenn man auf das Geschäft mit Belarus verzichtete, dass dadurch wirklich das Regime zum Einlenken gebracht werden könnte?

 

V.A.: Das könnte vielleicht funktionieren, aber ich kann mich dazu nicht fachkundig äußern. Ein Grundproblem bleibt ohnehin: die Frage der Kommunikation. Es wäre schwierig, der Bevölkerung zu vermitteln, dass die Sanktionen nur gegen die Regierung, die gegen Menschenrechte verstößt, gerichtet sind, und nicht gegen sie selbst. Die russische Propaganda würde das ganz anders erklären, womit die Problematik leider komplex bleibt.

24. Juni 2021: Wirtschaftssanktionen in Kraft
Die EU hat beschlossen, Wirtschaftssanktionen gegen Belarus in Kraft zu setzen. Die Strafmaßnahmen treffen unter anderem die Kali- und Düngemittelindustrie sowie Tabak- und Mineralölunternehmen und den Zugang zum Kapitalmarkt der EU.

T.D.: Vitalij Aleksejonok, vielen Dank für das Gespräch!

V.A.: Ich danke Ihnen für Ihr Interesse. Das ist nicht selbstverständlich.


Timo Daus führte das Gespräch im Juni 2021.

 

Weiterführende Links:

Informationen zu den politischen Gefangenen auf der Seite von „VIASNA human rights center“: https://prisoners.spring96.org/en

Informationen zu den EU-Wirtschaftssanktionen: https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.belarus-eu-setzt-wirtschaftssanktionen-in-kraft.7d4cbca2-0e95-4d7b-8abc-2c06d3c7e419.html

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