Disco-Meerjungfrauen im Blutrausch

Musical trifft Horror: Die Meerjungfrauen aus dem polnischen Film Córki Dancingu (engl. „The Lure”) mischen das Warschauer Nachtleben in grotesker Art und Weise auf. Zwischen Mord und Disco-Glamour wird der Finger in die Wunde menschlicher Abgründe gelegt, denn selbst in der Liebe gilt: „Friss oder Stirb!“

 

Die polnische Regisseurin Agnieszka Smoczyńska hat mit Córki Dancingu  von 2015 ein vielfach prämiertes Werk geschaffen, bei dem sich die Zuschauenden hinterher fragen, was genau sie da eigentlich gesehen haben. Handelt es sich um eine Coming-of-Age-Geschichte mit fantastischen Elementen? Ist es eine feministische Kritik an Ausbeutungsverhältnissen in der Musik- und Clubszene? Oder vielleicht doch nur ein Slasher-Film mit schrägen Musikeinlagen?

 

Im Warschauer Nachtleben der 1980er-Jahre betören zwei junge Schwestern das polnische Partyvolk nicht nur mit ihren Stimmen, sondern auch mit ihrem Auftreten als Meerjungfrauen. Während eines Nachts eine Band am Flussufer feiert, lockt sie mit ihrer Musik die beiden Sirenen Silber (Marta Mazurek) und Gold (Michalina Olszańska) an. Schnell bringen die beiden die Menschen dazu, sie mit an Land zu nehmen. In einem Warschauer Nachtclub werden sie schließlich gezwungen, als „tanzende Töchter“ vor Publikum zu singen, zu tanzen und sich auszuziehen. Im trockenen Zustand verfügen sie über menschliche Beine. Sobald sie nass werden, wachsen ihnen lange aalähnliche Fischschwänze. Ihr Aussehen und ihre Stimmen verdrehen den Menschen die Köpfe. Während Gold dem menschlichen Alltag nur wenig abverlangen kann und wie gewohnt Männer ermordet und ihre Herzen frisst, möchte Silber nicht mehr zurück in ihr altes Leben.

 

Zum Ärger ihrer Schwester fängt sie ein Verhältnis mit dem Bassisten der Band an. In Anlehnung an Hans Christian Andersens Erzählung Die kleine Meerjungfrau lässt sich Silber für ihren Geliebten den Fischschwanz amputieren und Menschenbeine transplantieren. Mit dem Verlust des Schwanzes verliert sie aber gleichermaßen die Stimme und auch das Interesse ihres Geliebten. Dieser verliebt sich stattdessen in eine andere Frau und heiratet diese – womit jedoch ein Meerjungfrauen-Fluch aktiviert wird: Wenn sich eine Meerjungfrau in einen Menschen verliebt und dieser dann eine andere Person heiratet, muss die Meerjungfrau diesen Menschen bis zum Ende der Hochzeitsnacht fressen, oder sie verwandelt sich für immer in Meeresschaum.

 

Die Erzählung verbindet die Romantik aus dem Märchen von der kleinen Meerjungfrau mit Elementen des Schreckens aus der Mythologie der männertötenden Sirenen. Diese Verschmelzung wird in einen Genremix aus Horror und Musical gegossen, der bereits von Anfang an stetig mit den Erwartungen des Publikums spielt: Der Film beginnt im Wasser, wo die Kamera die Perspektive der Sirenen einnimmt. Anschließend fährt sie langsam aus dem Wasser heraus und nimmt aus der Ferne die Band ins Visier, die am Lagerfeuer trinkt und ein melancholisches Lied spielt. Dann schwenkt die Kamera von der Band auf die Sirenen, die mit ihren Köpfen aus dem Wasser ragen und den Bassisten in leisem Singsang bitten, sie ans Ufer zu bringen. Er solle keine Angst haben, sie würden ihn nicht essen, betonen sie. Die schnellen Schnitte zwischen den Sirenen und dem Bassisten, der ihnen langsam näherkommt, deuten an, dass die Meerjungfrauen ihn als Beute erlegen werden. Der Sirenengesang in Kombination mit Instrumentalmusik sowie Wind- und Atemgeräuschen unterstreicht das ungute Gefühl, dass gleich etwas Schreckliches passieren wird. Stattdessen gibt die Sängerin der Band einen Schreckensschrei von sich und die Szenerie wechselt mit einem harten Schnitt in einen 1980er-Jahre Nachtclub, wo die Band – wohlgemerkt unbeschadet – Donna Summers Hit I feel love performt und Partygäste wild tanzen. Die Anfangsszene setzt den Ton für die kommenden anderthalb Stunden: Man weiß nie, was passiert. Und wenn man glaubt zu wissen, was als Nächstes passieren wird, liegt man daneben.

 

Starke Kontraste zwischen der Handlung und den Musicaleinlagen brechen die Sehgewohnheiten, wodurch die simple Erzählung an Spannung gewinnt. Es wird nicht nur mit Erwartungen, sondern auch mit einem ganzen Spektrum an Emotionen gespielt: Zum Beispiel singt Silber, während sie sich den Meerjungfrauenschwanz wegoperieren lässt und das Blut nur so spritzt, apathisch auf dem OP-Tisch liegend eine Liebesballade, die Leidenschaft, Trauer und Hoffnung ausdrückt. Der Kontrast zwischen diesen Gefühlen und dem, was man bei der blutigen Prozedur im sterilen OP-Saal erwarten würde, löst Befremden und Unbehagen aus. Genau dieses Unbehagen zieht sich durch die Szenen, die Mord, Gewalt, Drogen, Sex und Schwesternschaft thematisieren.

 

Der Film überzeugt in erster Linie mit seiner kontrastreichen Inszenierung, mit starken Bildern und den transportierten Emotionen, sowie mit dem Gesang und der Performance der Schauspielerinnen Marta Mazurek und Michalina Olszańska. Positiv hervorzuheben ist die kohärente musikalische Begleitung, die auf dem gleichnamigen Album der polnischen Musikband Ballady i Romanse basiert. Im Grunde handelt es sich dabei nicht um Musicalnummern im klassischen Sinne, sondern um Pop-, Rock- und Electrosongs. Die Melodien und Texte sind sehr  zugänglich.

 

Der experimentelle, die Sehgewohnheiten herausfordernde Charakter des Films, die visuell und auditiv ansprechende Inszenierung und das überzeugende Spiel der Schauspieler*innen ergeben einen Film, der nicht eindeutig definiert werden kann – und muss. Gerade weil mit vielen Irritationen in der Narration, im Schnitt und der Musik gearbeitet wird, entwickelt sich die vorhersehbare Vorlage der kleinen Meerjungfrau zu einem überraschenden Kinoerlebnis, das gut unterhält.

 

Filmposter, Quelle: the moviedb.org

 

Quelle des Beitragsbildes: moviebreak.de

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