Ein unmöglicher Roman. Knjiga o Almiru (Buch über Almir) von Adisa Bašić

In letzten Jahren hat kaum ein Roman in Bosnien und Herzegowina so viel Resonanz bekommen wie der 2024 erschienene und inzwischen schon vergriffene Roman Knjiga o Almiru (Buch über Almir) von Adisa Bašić. Wieso trifft dieses Buch einen gesellschaftlichen Nerv?

 

Im Bildgedächtnis der jugoslawischen Zerfallskriege (1991-1999) sind die Orte Vukovar (Kroatien) und Bijeljina (Bosnien) vor allem durch Ron Havivs fotografischen Blick auf Kriegsverbrecher verbunden. Haviv war derjenige, der die abstrusen Figuren der serbischen paramilitärischen Einheit Tiger, angeführt von Željko Ražnjatović Arkan, während ihrer Terrorkampagnen in Vukovar im November 1991 und in Bijeljina im April 1992 mit der Kamera festhielt. In Knjiga o Almiru (Buch über Almir, 2024), dem ersten Roman der als Lyrikerin bereits bekannten bosnischen Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Adisa Bašić, erhalten diese beiden tragisch verbundenen Orte nun auch literarische Ikonizität.

 

Der Roman handelt von einem tabuisierten Verlust in der Familie von Ado, dem Mann der Erzählerin (und der Autorin!) Adisa, und von ihrer Suche nach der Antwort auf die Frage, wer Ados jüngerer Bruder war. Der ihr unbekannte Schwager Almir Smajić fiel lange vor ihrer Ehe als 23-jähriger Unteroffizier der Jugoslawischen Volksarmee (JNA) in der Schlacht um Vukovar. Sein Tod wäre an sich nichts Ungewöhnliches: Viele starben am Anfang des Kroatienkriegs während der dreimonatigen Belagerung Vukovars und noch mehr nach dem Einmarsch der jugoslawisch-serbischen Truppen und Freischärler. Unter den Toten waren nicht nur Soldaten im Kampf, sondern auch Kriegsgefangene und zivile Opfer. Doch Almirs Tod weicht von der später über die Ereignisse gelegten nationalistischen Denklogik ab. Denn es handelte sich um einen bosnischen Muslim aus Bijeljina, der auf der jugoslawisch-serbischen Seite umkam und dafür von der JNA zum Helden stilisiert wurde. Sogar eine Straße wurde in seiner Heimatstadt nach ihm benannt, was wenige Monate später – nach dem Einfall der mit der JNA paktierenden serbischen Paramilitärs – seine Familie jedoch nicht davor bewahren sollte, aus Bijelina vertrieben zu werden.

 

Was eher als Fantasie einer nach tragischer Überspitzung suchenden Schriftstellerin klingt, wird auch heute noch topografisch bestätigt: In der nach Almir Smajić benannten Straße kann man in Bijeljina weiterhin spazieren gehen. Almirs Familie wird man aber nur einmal jährlich an seinem Grab begegnen, wenn sie dieses zum Todestag aus Sarajevo besuchen kommt. Auf dem Weg dorthin begegnen wir ihr auch im Roman. Dieser Grabbesuch wird zur Spurensuche nach dem vergangenen Leben des umgekommenen jungen Mannes, aber auch nach der durch ethnische Säuberung zerstörten multiethnischen Gemeinschaft Bijeljinas. Almirs Tod erscheint rückblickend als Warnung vor dem bald auch Bosnien erfassenden Krieg. Sein Begräbnis war die letzte Versammlung aller Stadtbewohner*innen – vor der „Aussortierung“ nach der Logik ethnischer „Klassifizierungen“. 

 

Foto: Mitar Sikimić.

 

Wie die mythische Figur Persephone, die einmal jährlich in die Unterwelt hinabsteigt, begibt sich die Erzählerin in den Abgrund des Krieges, um den toten Soldaten vor seinem zweiten Tod – dem sozialen – zu bewahren. Sie will ihn aus dem serbisch-nationalistischen Narrativ über den „guten Muslim, der für die richtige Seite kämpfte“, befreien. Der ganze Roman kann als Protest gegen solche Vereinnahmungsversuche gelesen werden, aber auch gegen die Dämonisierung dieser tragischen Figur, die seinen Glauben an den Erhalt Jugoslawiens mit seinem Leben bezahlte.

 

Es ist Almirs Schwägerin Adisa, die die lang erhoffte soziale Trauerarbeit durch das Brechen des Schweigens leistet und dem Verlust der Familie nach mehr als dreißig Jahren eine akzeptable öffentliche Ausdrucksform gibt. Der Familie begegnen wir am Anfang in einer paralysierten Trauer, gekoppelt an Scham darüber, dass Almir für einen falschen Zweck an der Seite einer bald auch in Bosnien feindlichen Armee kämpfte. Die Erzählerin beginnt der Familie Fragen über Almir zu stellen, wendet sich aber auch an seine vier besten Freunde Stevo, Dragan, Amir und Savo, seine große Liebe Anđa sowie einen Kriegskameraden. Almir lernen wir im Buch als einen liebenswürdigen, neugierigen jungen Mann und Witzbold kennen, der immer bereit ist für ein Abenteuer und dafür, das Unmögliche zu wagen – etwa die Tochter eines Popen zu heiraten oder mitten in der touristischen Hochsaison an der Adria eine Schlafgelegenheit für seine ganze Clique herbeizuzaubern. Zugleich gibt sein der Erzählerin (und der Autorin) von Almirs Mutter zur Verfügung gestelltes Lesetagebuch einen Einblick in die akribisch dokumentierte Lesewelt eines Bücherwurms. Da Almir in keiner Weise dem Stereotyp eines Militärs entspricht, beschäftigt die Erzählerin die Frage nach seiner Berufswahl, die ihm zum Verhängnis wurde.

 

Die Gespräche über Almir evozieren bei den Familienmitgliedern auch Erinnerungen an die unmittelbare Zeit danach: den Versuch, in Bijeljina zu bleiben, und die Unmöglichkeit, dies angesichts des Verlustes des Arbeitsplatzes, täglicher Schikanen oder des Verschwindens von Verwandten zu tun. Das letzte im Roman geschilderte Gespräch ist zugleich das schwierigste. Es findet mit dem Mann der Erählerin im Auto auf dem Rückweg von Bijeljina nach Sarajevo statt. Während Sohn Rejhan friedlich schläft, lässt sich Ado auf die aufwühlenden und zugleich befreienden Fragen seiner Frau ein. Ihn quälen Schuldgefühle, seinen jüngeren Bruder nicht beschützt und aus Kroatien herausgeholt zu haben. Tatsächlich war das Gegenteil der Fall: Es war der tote Almir, der seinen älteren Bruder beschützte, als im April 1992 Arkans Paramilitärs und lokale Freiwillige in die Klinik von Bijeljina eindrangen, in der Ado als Arzt arbeitete. In einem Moment erblickt ihn Arkan und fragt, wer jener Ado denn sei, worauf ein lokaler Handlanger ihm versichert, Ado sei in Ordnung. Ado fügt hinzu:

 

Vielleicht hätten sie mich an diesem Tag getötet, Arkans Männer oder irgendjemand dieser Art. Ich habe in diesem Moment niemanden, der mich beschützt, niemanden. Ich habe nur Almir und seinen Tod.

Možda bi me ubili taj dan, arkanovci ili neko od tih sličnih. Nikog ja nemam u tom trenutku da me zaštiti, nikog. Imam samo Almira i njegovu smrt.

(S. 171. Übersetzt von der Autorin.)

 

Ein anderer Freiwilliger, ein langjähriger Sträfling aus Bijeljina, der nun seinen neuen gesellschaftlichen Rang im Terrorsystem auskostet, schlägt Ado mehrmals mit dem Gewehrkolben ins Gesicht. Paradoxerweise entschließt sich dann einer der Paramilitärs, auf Ado aufzupassen:

 

Er besuchte mich sogar nachts, um sich zu vergewissern, dass es mir gut ging. Ich wachte auf und der Mann saß neben mir, er schlummerte. Ich erinnere mich, dass er mir erzählte, sein Vater sei Reifenmonteur, er kam aus Čačak, glaube ich. Ich beklagte mich bei ihm, dass ich seit ein paar Tagen nicht nach Hause gegangen sei, um mich umzuziehen, und er brachte mir saubere Kleidung. Ein T-Shirt und Boxershorts mit Donald-Duck-Motiv. Surreal. Sie hatten ein Kaufhaus ausgeraubt, und dieser Mann besorgte mir ein T-Shirt und diese Unterwäsche von dort. Ich hatte sie noch Jahre später.

Po noći me čak obilazio da se uvjeri da je sa mnom sve uredu. Ja se probudim, čovjek sjedi kraj mene, kunja. Sjećam se da mi je ispričao da mu je otac vulkanizer, iz Čačka je bio, čini mi se. Ja mu se požalim kako nisam par dana išao kući da se presvučem i on mi donese čist veš. Potkošulju i bokserice sa motivom Paje Patka. Nadrealno. Oni su opljačkali robnu kuću i ovaj je meni otamo dobavio potkošulju i te gaće. Imao sam ih poslije godinama.

(S. 171. Übersetzt von der Autorin.)

 

Das Adjektiv „surreal“ beschreibt wohl in der Tat am treffendsten das Verhältnis dieses Paramilitärs zu Ado. Während die paramilitärischen Einheiten sowie lokale Banden Bijeljina mit Terror überziehen, wird Ado von seinem inzwischen toten Bruder gerettet, indem für ihn die Instrumentalisierung von Almir durch serbisch-jugoslawische Truppen gewissermaßen zum Schutzschild wird.

 

Die sich auf Ado beziehenden Passagen im Roman sind von besonderer Zärtlichkeit und Bewunderung. Dieser Roman ist auch eine Art Liebeserklärung Adisas an ihren Mann, der im Krieg nicht nur einen Bruder und sein ganzes Lebensumfeld, sondern auch seinen Beruf als Arzt nach der Flucht aus Bosnien nach Deutschland verloren hat – nicht aber seine Menschlichkeit! Auffällig sind in Schilderungen der von ihm bezeugten Gewaltakte, dass er die lokalen Täter als schon davor problematische Figuren mit krimineller Biografie identifiziert, denen das Terrorsystem die Gewaltausübung ermöglichte, und eben nicht als ehemalige Freunde und gute Nachbarn. So findet sich bei ihm nicht der in Kriegserzählungen anzutreffende Topos über die ehemaligen Nachbarn, die auf einmal zu Schlächtern wurden, mit der dunklen Botschaft, dass man sich nicht mehr vertrauen kann und soll und dass es ein schwerer Fehler war, dies jemals gemacht zu haben. Diejenigen, die ihm und seiner Familie Gewalt antaten, konnten ihn mit dem ethnisch-rassistischen Denken nicht infizieren. Für seine schwer fassliche menschliche Größe, die seine Frau fasziniert und bisweilen überfordert – ähnlich geht es vermutlich auch den Leser*innen –, spricht auch sein fortdauernder Kontakt mit seiner langjährigen Freundin Meliha, die Milica genannt wird und die sich mit der Serbisierung der Stadt und ihres eigenen Namens arrangiert hat.

 

Foto: Imrana Kapetanović.

 

Durch die Einbindung eines visuellen Teils mit Fotografien und persönlichen Gegenständen am Ende des Romans entzieht Adisa Bašić ihrem Erzählen den Verdacht einer unglaubwürdigen Literarisierung. Die Fotografien von Almirs persönlichen Gegenständen – fotografiert von Imrana Kapetanović – und die von Mitar Sikimić künstlerisch verarbeiteten Aufnahmen des Grabbesuches im Jahr 2024 unterstreichen den Dokumentarcharakter des Romans und geben ihm eine zusätzlich tragische Note. Die Fotografien von Almir – als kleines Kind vor dem ikonischen Fićo, dem jugoslawischen Auto schlechthin, als Jugendlicher mit seinen Freunden an der Adria und beim Küssen seiner Jugendliebe – sollen seine tatsächliche Existenz bezeugen, und zwar die eines gewöhnlichen, im sozialistischen Jugoslawien aufgewachsenen jungen Mannes. Der letzte Teil besteht aus poetisch verschwommenen Bildern vom Friedhof und von Adisas, Ados und Rejhans Körpern – meist in Bewegung an diesem sonst statischen Ort. Durch die Sfumato-Technik entsteht der Eindruck, als handele es sich um eine Welt zwischen Lebenden und Toten, in der die Teilung aufgehoben ist und alle eine gespenstische Anwesenheit besitzen. Die Poetik der visuellen Unschärfe lässt eine fotografische Form von Hurqalya entstehen, eine Zwischenwelt der islamischen Mystik, wie sie Bogdan Bogdanović auch für seine Partisanen-Nekropole in Mostar erträumte, in der die Toten und die Lebenden sich begegnen sollen. Das letzte Bild eines kleinen Körpers beim Rennen mit sehr unscharfen, ausgedehnten Konturen lässt ein Kind eher vermuten als erkennen. Es wirkt wie ein mythisches Wesen, das seine übernatürlichen Kräfte einsetzt, um den Erwachsenen die Rückkehr in die alltägliche Welt der Lebenden zu erleichtern.

 

Dieser Roman ist nicht nur ein Dokument der absurden Widersprüche während der jugoslawischen Zerfallskriege, sondern ein Stück bester Literatur.

 

Beitragsbild: Grabstätte von Almir Smajić in Bijeljina (Bosnien). Foto: Mitar Sikimić.

Jetzt den novinki-Newsletter abonnieren

und keinen unserer Textbeiträge mehr verpassen!