Eine Straße in Warschau wird zu einer Bühne, auf der Themen wie Immigration, Zugehörigkeit und Nationalismus im heutigen Polen ausgehandelt werden: Der Dokumentarfilm „Letters from Wolf Street” (Listy z Wilczej, 2024) von Arjun Talwar wurde auf der 75. Berlinale in der Kategorie Panorama Dokumente präsentiert – Polina Eremenko hat das Screening mit Q/A für novinki besucht.
„Letters from Wolf Street” erzählt die Geschichte einer 1,2 Kilometer langen Straße im historischen Zentrum Warschaus, in der der Filmemacher Arjun Talwar schon seit Jahren lebt und nun versucht, eine Frage zu beantworten, die sich viele Migrant*innen stellen: Werde ich hier jemals kein Fremder mehr sein? Auf der Suche nach Antworten durchstreift Talwar mit seiner Kamera und neugierigem Blick jene Straße, auf der sich der Warschauer Alltag in kurzen Momenten abspielt: die täglichen Rituale des Postboten, das Treiben rund um einen Kiosk, Straßenhändlerinnen, Punks, Anarchistinnen, Jesusstatuen, die jeden Hinterhof bewachen, und ein auf die Wand gesprühter Schriftzug „Polska dla Polaków” („Polen für Polen”).
„Diese Straße ist sehr traurig”, sagt eine Protagonistin gleich zu Beginn. Auch der Film beginnt melancholisch: Abblätternde Wände, von Kugeln des Zweiten Weltkriegs gezeichnete Gebäude und die Anonymität, mit der sich die Bewohner*innen begegnen, lassen die Ulica Wilcza nicht gerade einladend erscheinen. Talwar durchbricht diese Tristesse mit seinem humorvollen, leichten Blick – eine Art, die bei der Vorführung im Cubix am Alexanderplatz auf der Berlinale 2025 Anklang findet. Vor allem unter den polnischen Zuschauer*innen wird immer wieder herzlich gelacht – ein Zeichen der Wiedererkennung, das die authentische Art der zwischenmenschlichen Interaktionen im Film unterstreicht.
Dabei geht der Film auf eine persönliche Verlusterfahrung zurück: Talwars Freund Adi, mit dem der Regisseur vor über einem Jahrzehnt aus Delhi nach Warschau gezogen war, hat Suizid begangen. „Letters from Wolf Street” ist nicht nur eine Stadtchronik, sondern auch eine Verarbeitung dieses Verlusts. In Polen studierte Talwar an der Polnischen Filmschule in Łódź. Sein erster abendfüllender Dokumentarfilm „Der Esel hieß Geronimo” feierte 2018 Premiere beim DOK Leipzig. „Letters from Wolf Street”, sein zweiter Dokumentarfilm in Spielfilmlänge, ist autobiografisch und wirft schmerzhafte Fragen auf: War die wachsende Distanz zwischen den beiden Freunden eine Folge von Talwars Bemühungen, als Person mit Migrationshintergrund besser in die polnische Gesellschaft hineinzupassen und sich so vom alten Freund zu distanzieren? Und wäre Adi heute noch am Leben, wären die Menschen in der Stadt zugänglicher gewesen?
Nach und nach zeichnet die Dokumentation ein komplexes Bild des modernen Polens, in dem Nationalismus allgegenwärtig ist. Szenen des Warschauer Marsches am Unabhängigkeitstag, der entlang der Wilcza Straße verläuft, zeigen nationalistische Fahnen und Parolen wie „White Lives Matter” – ein harter Kontrast zur LGBTQ-Parade, die jeweils ein halbes Jahr später denselben Weg nimmt. Talwar selbst erzählt im Film von einem Angriff durch Skinheads, die ihn einst krankenhausreif geschlagen hatten. In der Q&A-Session am Anschluss an das Berlinale-Screening berichtet er, dass ein Freund von ihm eine noch schlimmere, beinahe tödliche Attacke erlebt habe.
Einige seiner Protagonist*innen versuchen, den Nationalismus mit der Geschichte Polens zu erklären, und führen ihn auf historische Ängste vor Invasion, Besatzung und Staatsverlust zurück. Für die einen ist dieser Hintergrund eine befriedigende Linse, durch die sie die nationalistische Bewegung betrachten. Doch während ein älterer weißer Mann Talwar eindringlich mit offen rassistischen Aussagen konfrontiert, sieht der Regisseur das Konzept von Nationen grundsätzlich kritisch – denn was kann man realistisch mit Millionen anderer Menschen wirklich gemeinsam haben? So entdeckt Talwars Freundin und Filmkollegin Mo eine essbare Wildpflanze, die überall auf Warschaus Straßen wächst. Mo kennt die Pflanze aus ihrer chinesischen Heimat, aber die Warschauer*innen betrachten sie nur als Unkraut. Welche Art von Wissen macht einen Menschen einheimisch und was macht ihn fremd? Warum definiert uns der Boden, auf dem wir geboren wurden, und nicht der, in dem wir eines Tages für immer liegen werden? Mit diesen und weiteren Fragen setzt sich der Film durch die intime Betrachtung des Warschauer Alltags auseinander.
Weitere Geschichten entstehen in der Wilcza Straße: Feras, ein Geflüchteter aus Damaskus, schwelgt in Erinnerungen an die Straßen seiner alten Heimat und erinnert uns daran, dass man auch mal nostalgisch sein darf. Ein in Polen geborener Roma erzählt von seinem lebenslangen Außenseitertum – und erkennt in Talwar plötzlich einen Gleichgesinnten, wodurch eine herzliche Freundschaft entsteht. Durch solche Einblicke in menschliche Schicksale entsteht in „Letters from Wolf Street” ein überzeugendes Porträt einer Landschaft der „Drifter“, die in einem politisch aufgeladenen Polen nie ganz dazugehören dürfen – und so für immer zwischen realen und imaginierten Gemeinschaften, zwischen dem gefundenen Zuhause und der verlassenen Heimat gefangen bleiben.
Talwar, Aljun: Listy z Wilczej (Letters from Wolf Street), Polen/Deutschland, 97 Min.
Filmplakat, Bildquelle: crew-united.com
Das Beitragsbild (Filmstill) zeigt Arjun Talwar beim rechtsextremen Marsch in Warschau. Bildquelle: Arjun Talwar / Unisolo Studio.