http://www.novinki.de

Es muss klar sein, wem ein Schriftsteller gehört? Ich schwöre, er gehört mir!

Posted on 30. Januar 2013 by novinki

Interview mit Dževad Karahasan, Schriftsteller und Professor für Komparatistik an der Philosophischen Fakultät der Universität Sarajevo

novinki: In den 1960er Jahren stand Ivo Andrić im Zenit seines Ruhmes. Zu dieser Zeit sind Sie, Kind muslimischer Eltern, im jugoslawischen Bosnien-Herzegowina zur Schule gegangen. Wie haben Sie als Schüler Andrić gelesen? Können Sie sich noch daran erinnern?

Dževad Karahasan: Ja, selbstverständlich kann ich mich noch recht gut daran erinnern. Ich musste in der Schule im Rahmen der Pflichtlektüre Aska und der Wolf (Aska i vuk) und Die Brücke über die Žepa (Most na Žepi) lesen, selbstverständlich auch Die Brücke über die Drina (Na Drini ćuprija). Es war eine merkwürdige, gute, sehr gute, tiefe, tief greifende Erfahrung, denn Ivo Andrić schreibt scheinbar sehr einfach. Zu meiner Zeit galt immer noch die quasi experimentelle Literatur als wichtigste, beste Kunstform. Und Ivo Andrić schien extrem einfach zu sein. Man hatte den Eindruck, man könnte selber genau so schreiben. Ein jeder Satz ganz einfach aus alltäglichen Wörtern bestehend, keine, scheinbar keine Tiefenpsychologie, nichts, alles wie im alltäglichen Leben gesehen. Das war sehr prägend für mich. Im Nachhinein habe ich Andrić immer wieder gelesen und begriffen, dass er sehr wohl experimentiert, dass seine Figuren sehr wohl auch psychologisch aufgebaut sind… Aber das kam viel später. Damals war das für mich – wie gesagt – eine große Verwunderung. Einerseits galt Ivo Andrić als einer der Höhepunkte unserer Literatur. Andererseits war er so extrem einfach.

n.: Hatte Andrić eine Bedeutung für Sie, als Sie selbst zu schreiben anfingen? Oder war er für Sie eher von einem anderen Stern?

D.K.: Nein, Andrić gehört ohne Zweifel zu meinen Lehrern, zu den Autoren, von denen ich versuchte zu lernen. Er hat mich sehr tief beeinflusst, und zwar vor allem durch seine scheinbare Einfachheit. Denn Andrić versteckt seine Spuren, Andrić bemüht sich, seine Technik möglichst zu verdecken, seine Kunst möglichst diskret zu verwenden. Und das ist nun mal eine Sache, die ich sehr mag, die ich sehr bewundere. Seine Kunst scheint, als ob sie von selbst entstanden wäre. Das finde ich großartig!

n.: Seit den 1990er Jahren dreht sich das Gespräch über Ivo Andrić in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien fast ausschließlich um die politische Wahrnehmung von Werk und Person. Besonders geht es um die Frage, wie Andrić Bosnien geschildert hat. Manche behaupten gar, er habe in einigen Texten – zum Beispiel im Brief aus dem Jahre 1920 (Pismo iz 1920. godine) – die Bosnienkriege der 1990er Jahre prophezeit. Haben Sie Andrić in Kriegszeiten zur Hand genommen und sich gefragt, was für ein Bild von Bosnien er da zeichnet?

D.K.: Es gibt ein paar Autoren, die ich alle drei, fünf Jahre aufs Neue lese. Ivo Andrić gehört zu denen. Selbstverständlich habe ich Ivo Andrić auch zu der Zeit des Bosnienkriegs gelesen. Auch damals. Ich habe Ivo Andrić auch nach dem Krieg gelesen. Schauen Sie, Ivo Andrić ist ein großartiger Schriftsteller. Politik, die ihre Aufgabe, Politik zu sein, verrät und zu einer bloßen Technik der Machtergreifung verkommt, missbraucht alles Mögliche, so auch Ivo Andrić. Zur Zeit des Krieges wurde die wunderbare Erzählung von Ivo Andrić Brief aus dem Jahre 1920 aufs Schrecklichste missbraucht – von serbischen Nationalisten, von halbgebildeten westlichen Rektoren und Intellektuellen, die der großen nationalen Sache dienen wollten, von unzähligen Pseudoexperten, die nicht einmal die grundlegende Sache der literarischen Technik begriffen haben, nämlich, dass man eine Aussage im literarischen Kunstwerk nur begreifen kann, wenn man auf die fünf entscheidenden Fragen geantwortet hat: Wer spricht, zu wem spricht er, in welchem Tonfall, in welcher existentiellen Lage befindet sich der Sprechende, in welchem Kontext bzw. aus welchem Anlass wird gesprochen? Alle Experten, Rektoren, Nationalisten, Pseudopolitiker, alle zitierten ohne irgendeine Einschränkung die Worte von der Figur Ivo Andrićs, nämlich Max Löwenfeld, sie zitierten diese Aussage als Andrićs Behauptung. Aber ich bitte Sie, gibt es denn etwas wirklich Großes, was von schlechter Politik, von Pseudopolitik nicht missbraucht werden kann? Selbstverständlich hat man Ivo Andrić aufs Schrecklichste missbraucht. Aber was kann man da tun?

n.: Man polemisiert, wenn man mit Andrić zu polemisieren glaubt, in Wahrheit mit seinen Figuren und will das Gesamtgefüge nicht zur Kenntnis nehmen?

D.K.: Ganz genau. Es wird behauptet, Ivo Andrić hätte bosnische Muslime bzw. Muslime auf dem Balkan gehasst. So einen Schwachsinn kann ich nicht mehr hören. Es gibt einen wunderbaren kurzen Text von Ivo Andrić: Der Višegrader Pfad (Staze). Da spricht er in seinem Namen. Jedes Mal, wenn er sich schlecht fühlte, wenn er an dem Sinn des Lebens zweifelte, wenn er eine Sehnsucht nach Grabesruhe empfand, erschien vor seinem geistigen Auge der Pfad in Višegrad, den er unzählige Male gegangen ist. Und da sagt Andrić: „In solchen Augenblicken nahm ich diesen Pfad vor mich, wie der Betende oder Gläubige seinen Gebetsteppich vor sich nimmt.“ Verstehen wir uns? Er nimmt ein Bild aus dem muslimischen kulturellen Kontext. So spricht man nicht von den Kulturen, die man hasst. Ich kannte Ivo Andrić nicht persönlich, aber was wir schreiben, spricht viel ehrlicher, viel aufrichtiger über uns als alles andere, was wir von uns geben. Und sein Werk, sein Schreiben beweist es: Er hat keinen Menschen gehasst. Er hat vor allem keine Kultur gehasst. All das ist einfach Schwachsinn, ein politisches Gerede, das ich nicht hören mag.

n.: Würden Sie dennoch einmal den Versuch unternehmen, dieses politische Gerede zu analysieren? Wie konnte es dazu kommen, dass Andrić heute in der Wahrnehmung der Zeitgenossen so gespalten ist?

D.K.: Ach, das ist sehr einfach, leider viel zu einfach. Das ganze Theater, das bei uns auf dem Balkan gespielt wird, ist so kitschig, einfach und schlecht, dass es irgendwie geschmacklos ist, darüber Worte zu verschwenden. Die Mafiabosse, die den Balkan heute kontrollieren und sich für Nationalisten ausgeben, müssen alles Bindende zerstören, denn sie profitieren von Streitereien, Kriegen, und Andrić ist nun mal eine von den bindenden Tatsachen auf dem Balkan. Ivo Andrić ist ein Kroate, ein Katholik aus Bosnien, ein Bosnier zu hundert Prozent, der in Serbien einen Großteil seines Lebens verbracht hat. Er hat sich immer als Jugoslawe gefühlt und als Jugoslawe gehandelt. Das ist eben eine Tatsache. Ivo Andrić muss man daher irgendwie entweder serbisieren oder kroatisieren oder bosnisieren. Und der Mann lässt sich nicht -isieren. Die zweite Ebene dieser Streitereien ist noch einfacher. Im Geiste kann man klare Grenzen nicht ziehen. Ein Schriftsteller gehört nun einmal zu denjenigen, die ihn lesen. Ein Schriftsteller kann zu fünfzehn Nationen gehören, und die Herrschaften, die alle – wie gesagt – blöde Mafiabosse sind, keine Politiker, möchten auch im Geiste klare Grenzen ziehen. Es muss klar sein, wem Miroslav Krleža gehört? Ich schwöre, er gehört mir.

n.: Ein Kollege von Ihnen an der Universität von Sarajevo, der Literaturwissenschaftler Esad Duraković, ist kein Politiker und hat ein sehr distanziertes Verhältnis zu Ivo Andrić. In seinem Konzept erscheint Andrić als Eurozentrist, als jemand, der die orientalische Kultur nicht wahrnehmen kann, der sie geringschätzt. Es gibt unter Bosniaken noch schärfere Kritiker von Andrićs Werk. Ist das, was da kritisiert wird, auch alles Unsinn?

D.K.: Nein, das ist kein Unsinn. Ivo Andrić war ohne Zweifel ein Eurozentriker. Aber lesen wir bitte Autoren in ihrem Kontext. Das heißt, als Ivo Andrić lebte und schrieb, herrschte überall, nicht nur in Europa, ein wissenschaftlicher Optimismus. Eurozentrismus war im Grunde die einzige Sichtweise, die man haben konnte, denn es war selbstverständlich, Europa als Zentrum der Welt anzusehen. Und Ivo Andrić war übrigens auch klug genug, um alle aufklärerischen Absichten aufzugeben. Er bestätigte allen seinen Gesprächspartnern ihre Vorurteile, denn Argumente haben bis heute keinen Menschen überzeugen können. Es wäre selbstverständlich Schwachsinn gewesen, immer wieder zu betonen, dass zum Beispiel orientalische Kulturen großartig seien in einem Ambiente, in einem Kontext, in dem alle, buchstäblich alle, mit ganz wenig Ausnahmen, felsenfest an den Fortschritt, die Wissenschaft und eine einzige Wahrheit, die mechanischer Natur ist, glaubten. Was sollte Ivo Andrić in diesem Kontext tun? Sollte er zu erklären versuchen, dass der Mensch nun mal auch ein geistiges Wesen ist? Quatsch! Damals glaubte kein Mensch an irgendeine Form von Geist. Die heilige Wissenschaft hat uns davon überzeugt, dass es nur Materie gibt, Schluss! Und die Religionen kamen alle vom Orient, ja, umso schlimmer für den Orient. So war es nun mal.

n.: Am Beispiel des Textes Der Višegrader Pfad haben Sie erläutert, wie Ivo Andrić die muslimische Kultur in sich aufgenommen hat. Ivo Andrić hat Bosnien und seine Muslime also bestens verstanden?

D.K.: Ivo Andrić hat Bosnien so gut verstanden, wie es überhaupt möglich ist. Wenn man Ivo Andrić ohne Vorurteil liest, mit offenem Herzen und offenen Augen, muss man einsehen, dass er die orientalische Kultur sehr tief in sich eingenommen hat, dass er diese Kultur sehr hoch hielt und achtete. Ich möchte Sie an eine Episode aus dem Roman Die Brücke über die Drina erinnern: Die Heldin Avdagina Fata hat ihr Wort gegeben, dass sie einen jungen Mann nicht heiraten würde. Ihr Vater hat sein Wort gegeben, dass der junge Mann seine Tochter heiraten darf. Andrićs Heldin kann weder das eigene noch das Wort ihres Vaters brechen. Der einzige Ausgang aus dieser Lage ist ihr Selbstmord. Und sie begeht ihn. Diese Figur, diese tragische Heldin, die zu den geistigen Werten steht, stellt Andrić dem Rationalismus der modernen westlichen Kultur gegenüber, die damals gerade in Višegrad eindrang. Andrić stimmt weder für das Eine noch für das Andere. Er sieht keinen Grund, beides gegeneinander auszuspielen. Er stellt einfach etwas fest. Wenn das nicht Klartext über Andrićs Verhältnis zu den orientalischen Kulturen spricht, dann weiß ich nicht, was klarer sprechen könnte.

n.: Werfen wir einen Blick in die Zukunft. Könnte Ivo Andrić eines Tages wieder für alle Bosnier zum literarischen Chronisten ihrer Geschichte werden?

D.K.: Na, aber selbstverständlich – in zwanzig Jahren, sobald sich das Leben, die Lebensverhältnisse am Balkan normalisiert haben. Denn – wie gesagt – heute versucht man hier Menschen einzureden, dass Serben, Kroaten, Montenegriner, Bosniaken, Russinen, Rumänen etwas absolut Getrenntes, Unterschiedliches seien. Man vergisst, dass ich zu zwei Dritteln ein Serbe bin. Denn ich hab mein Bild von der Lyrik sowohl von meinem großen „Nationalbruder“ Mak Dizdar als auch von einem serbischen Dichter geprägt bekommen. Ohne dessen Werk ist mein Bild von der Lyrik nicht komplett. Was das Erzählen angeht, habe ich sowohl von Hamza Humo, Meša Selimović, Ivo Andrić als auch von Laza Lazarević und Milovan Glišić gelernt. Ich bin zu zwei Dritteln oder noch ein wenig mehr ein Kroate, denn ich bin in einer kroatischen Gegend aufgewachsen. Ohne den kroatischen Dichter Miroslav Krleža, ohne den kroatischen Dichter Tin Ujević, ohne den kroatischen Dichter und Dramatiker Marin Držić wäre ich für mich selbst unvorstellbar. Und so ist es nun mal mit beinahe allen Menschen in Bosnien. Ivo Andrić bindet das irgendwie. Es geht nur darum, dass die Mafiabosse, die sich als Nationalisten verkaufen, aufhören, Streitereien zu verbreiten. Sobald die westlichen Bosse sich mit anderen arrangieren oder ihren Marionetten hier am Balkan klarmachen, dass nun Schluss damit ist, die Völker gegeneinander auszuspielen, hört es auf und dann…

n.: … ist die Literatur wieder frei?

D.K.: Eben.

n.: Gab es zu sozialistischer Zeit kritische Stimmen zu Ivo Andrić? Haben Sie solche Stimmen vernommen?

D.K.: Selbstverständlich habe ich nicht nur verschiedene Stimmen gehört. Ich habe auch selber einiges recherchiert, um meine eigenen Verirrungen, Zweifel usw. irgendwie zu klären. Es gibt eine sehr lange Passage am Anfang des Romans Die Brücke über die Drina, wo, wenn die Knaben ins Osmanisches Reich verschleppt werden, vor Schmerz halbblinde Frauen der Kolonne nachlaufen und schreien: „Nimm noch ein wenig Pita!“ und ähnliches, und die wütenden Janitscharen schlagen den Frauen auf den Rücken. Das wunderte mich sehr. Denn das wäre so, als wenn zur Zeit Jugoslawiens Knaben aus den armen Gegenden gezwungen gewesen wären, in die Militärschule oder Polizeischule zu gehen und nicht freiwillig gegangen wären. Sie gingen aber freiwillig. Die Militärschule versprach eine bequeme, gute, angenehme Zukunft für einen Knaben aus den armen Gegenden Jugoslawiens. In den Geschichtsbüchern, in den Archiven der osmanischen Zeit gibt es mehrere Dokumente, in denen es heißt: Die zuständigen Behörden müssen aufpassen, nur gesunde Knaben zu nehmen. Sollte es sich herausstellen, dass ein Beamter Schmiergeld genommen hat, um einen nicht vollkommen gesunden Knaben zu nehmen, so wird er, so werden alle bestraft. Also selbstverständlich hat Ivo Andrić in dieser Passage die historische Wahrheit seinem historischen Konzept angepasst, denn die Militärkarriere der Knaben in Istanbul war nicht mit Zwang oder höchstens mit einem ökonomischen Zwang verbunden. So wie die Knaben in Sizilien zur Polizei in Italien gehen, weil das eine Karriere, eine Arbeit verheißt. Verstehen wir uns? Selbstverständlich hat Andrić die historische Wahrheit, die ihm ohne Zweifel bekannt war, einem ideologischen Konzept angepasst. Aber das kann man sowohl ideologisch als auch literartechnisch deuten. Denn es funktioniert rein literarisch viel besser, wenn der Junge, der heute Großwesir ist, verschleppt wurde, als wenn er freiwillig oder auf Wunsch seiner Eltern nach Istanbul ging.

n.: Kritiker sagen, das Bild der osmanischen Herrschaft in Andrićs Werk sei äußerst negativ und einige Folterungsszenen an Serben durch die Osmanen so brutal, dass sie beim Leser Hass auf Muslime bewirken müssen. Wie fühlen Sie sich als muslimischer Bosnier, wenn Sie an diese Szenen denken?

D.K.: Ich möchte Sie nur an eine einfache Tatsache erinnern. Seit Ende des 18. Jahrhunderts werden im Westen sehr systematisch falsche Bilder der islamischen Kultur produziert und aufgedrängt. Wenn ich da beleidigt oder gekränkt reagieren würde, wäre mein einziger Gesprächspartner im Westen der große Goethe. Denn er war der Einzige, der die islamische Kultur nicht exotisch, sondern als Wirklichkeit empfunden und behandelt hat, der Einzige, der im Orient keine exotischen Unwirklichkeiten konstruiert hat, sondern sich den großen Hafis als Gesprächspartner ausgesucht hat. Alle anderen Europäer konstruierten sich exotische Bilder im Orient oder im Osten Europas. Pedro Calderón de la Barca, der große spanische Dramatiker, lässt sein Stück Das Leben ein Traum (La vida es sueño) in Polen spielen. Warum? Weil Polen exotisch und unwirklich ist, dort ist alles möglich. Sogar der nette Herr Karl May, der es so wunderbar verstanden hat, die Indianer als Menschen darzustellen, konnte nicht umhin, uns Balkanesen als Unmenschen darzustellen, als exotische Unwirklichkeit. So ist es nun mal. Nicht nur meine Kultur, auch ich, meine Person wird sehr oft falsch gesehen. Ich bin ein äußerst netter Mensch. Und so viele ganz tolle, kluge Menschen halten mich für unsympathisch, aggressiv, unerträglich. Was soll ich da machen? Ich kann nur versuchen, die Tatsachen zu erforschen, um die Sache einigermaßen objektiv einzuschätzen. Selbstverständlich tut es mir leid, wenn Ivo Andrić sein großartiges Werk einem ideologischen Konzept anzupassen versucht. Gott sei Dank gelingt ihm das sehr schlecht. Es bleibt ein großartiges Werk. Und dieses Werk interessiert mich nun mal viel mehr als der Mensch Andrić.

n.: Michael Müller, ein deutscher Slawist, hat in seiner Dissertation die Darstellung der einzelnen Völker, der interethnischen Beziehungen und der Einstellung des Erzählers in Andrićs Werk untersucht. Er argumentiert, dass Andrićs Erzähler im Roman Die Brücke über die Drina an einigen wenigen Stellen „wir“ sagt und mit diesem „wir“ die Serben gemeint seien. Vielleicht muss man einfach anerkennen, dass Andrić ein Anhänger der jugoslawischen Idee in dem Sinne war, dass Serbien die Rolle des Piemonts in der Vereinigung der Südslawen spielen sollte?

D.K.: Damit habe ich keine Probleme. Selbstverständlich war Andrić als Mensch Karrierist. Er hat sehr viele Kompromisse mit dem moralischen Gefühl gemacht. Er war ohne Weiteres ein Jugounitarist. Er hat sich sehr wohl mit einem bestimmten ideologischen Projekt arrangiert, beide Male, nach dem Ersten Weltkrieg und nach dem Zweiten Weltkrieg. Als königlicher Diplomat konnte er sich sehr bequem auch in der Kommunistischen Partei fühlen und arbeiten. Aber Ivo Andrić als Mensch interessiert mich nicht im Geringsten. Ich bin glücklich verheiratet und ich möchte mich mit dem Menschen Ivo Andrić nur insoweit befassen, dass ich ihn einigermaßen verstehe. Mich interessiert ausschließlich sein Werk. Diesem Werk kann man kein einseitiges ideologisches Bild aufdrängen. Nur das behaupte ich.

n.: Sie wären also nicht mit dem Urteil jener Literaturwissenschaftler einverstanden, die behaupten, dass Andrićs Dissertation, in der er den Einfluss der osmanischen Herrschaft auf das geistige Leben in Bosnien untersucht und zu dem Schluss kommt, dass diese durchweg negativ war, auch als Grundlage seines literarischen Werks diente?

D.K.: Auf keinen Fall. Ich bitte Sie, Ivo Andrić hat seine Dissertation unter Zwang geschrieben. Entweder muss er sein Studium beenden, oder er verliert seinen diplomatischen Posten in Graz. So hat er in aller Eile ein Machwerk verfasst, voller Improvisationen, Fälschungen, herzlich bemüht, allen Vorurteilen seiner Kommission Recht zu geben, nur damit er endlich das verdammte Papier bekommt, er hätte sein Studium beendet. Soviel ist seine Dissertation wert, und dessen war er sich auch bewusst, denn zu seiner Lebenszeit durfte diese Dissertation nicht veröffentlicht werden.

n.: In Višegrad wird gerade eine ganze Andrić-Stadt gebaut. Was halten Sie von diesem Vorhaben? Hat das etwas mit Ivo Andrić zu tun, wird er da missbraucht? Oder soll man an dieser Andrić-Stadt einfach gleichgültig vorbeigehen, wie es einige Kritiker vorgeschlagen haben?

D.K.: Ja, einfach vorbeigehen, denn die Leute, die dahinter stehen, verwenden alles als touristische Masche. Die sind Touristen auch in ihrer Literatur, in ihrer Kultur, in ihrem Leben. Sie bieten alles Mögliche den Touristen an, weil auch sie auf Erden Touristen sind. Nein, das hat mit Ivo Andrić absolut nichts zu tun. Sie behaupten nur, sie wären von Andrić inspiriert. Diese Leute wären bereit, alles Mögliche als Magnet für Touristen zu verwenden, auch Tito, oh ja.

n.: Der Initiator des Projekts ist der Filmemacher Emir Kusturica. Würden Sie jenen feinen Unterschied zwischen dem wunderbaren Künstler und dem nicht ganz so feinen Menschen, den Sie bei Andrić empfinden, auch auf Kusturica anwenden?

D.K.: Eigentlich ja, denn die ersten beiden Filme von Kusturica finde ich sehr gut. Ich bin in Sarajevo unzählige Male dafür angegriffen, eine Zeitlang buchstäblich gelyncht worden, weil ich es nicht zulasse, dass man Emir Kusturica aus meiner bosnischen Kultur ausradiert. Das ist doch Quatsch. Emir Kusturica gehört mit seinen ersten Filmen zu dieser Kultur. Er hat Großartiges geleistet. Und als Mensch mag er tun, was er will. Dieses Projekt, die Andrić-Stadt, hat mit der bosnischen Kultur wahrlich nichts zu tun. Denn der Tourismus ist nur ein Versuch, bestimmte oberflächliche Eindrücke von einer Kultur an Fremde zu verkaufen.

Das Interview führten Ksenija Cvetković-Sander und Martin Sander.

Es muss klar sein, wem ein Schriftsteller gehört? Ich schwöre, er gehört mir! - novinki
Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Es muss klar sein, wem ein Schrift­steller gehört? Ich schwöre, er gehört mir!

Inter­view mit Dževad Karahasan, Schrift­steller und Pro­fessor für Kom­pa­ra­tistik an der Phi­lo­so­phi­schen Fakultät der Uni­ver­sität Sarajevo

novinki: In den 1960er Jahren stand Ivo Andrić im Zenit seines Ruhmes. Zu dieser Zeit sind Sie, Kind mus­li­mi­scher Eltern, im jugo­sla­wi­schen Bos­nien-Her­ze­go­wina zur Schule gegangen. Wie haben Sie als Schüler Andrić gelesen? Können Sie sich noch daran erinnern?

Dževad Karahasan: Ja, selbst­ver­ständ­lich kann ich mich noch recht gut daran erin­nern. Ich musste in der Schule im Rahmen der Pflicht­lek­türe Aska und der Wolf (Aska i vuk) und Die Brücke über die Žepa (Most na Žepi) lesen, selbst­ver­ständ­lich auch Die Brücke über die Drina (Na Drini ćuprija). Es war eine merk­wür­dige, gute, sehr gute, tiefe, tief grei­fende Erfah­rung, denn Ivo Andrić schreibt scheinbar sehr ein­fach. Zu meiner Zeit galt immer noch die quasi expe­ri­men­telle Lite­ratur als wich­tigste, beste Kunst­form. Und Ivo Andrić schien extrem ein­fach zu sein. Man hatte den Ein­druck, man könnte selber genau so schreiben. Ein jeder Satz ganz ein­fach aus all­täg­li­chen Wör­tern bestehend, keine, scheinbar keine Tie­fen­psy­cho­logie, nichts, alles wie im all­täg­li­chen Leben gesehen. Das war sehr prä­gend für mich. Im Nach­hinein habe ich Andrić immer wieder gelesen und begriffen, dass er sehr wohl expe­ri­men­tiert, dass seine Figuren sehr wohl auch psy­cho­lo­gisch auf­ge­baut sind… Aber das kam viel später. Damals war das für mich – wie gesagt – eine große Ver­wun­de­rung. Einer­seits galt Ivo Andrić als einer der Höhe­punkte unserer Lite­ratur. Ande­rer­seits war er so extrem einfach.

n.: Hatte Andrić eine Bedeu­tung für Sie, als Sie selbst zu schreiben anfingen? Oder war er für Sie eher von einem anderen Stern?

D.K.: Nein, Andrić gehört ohne Zweifel zu meinen Leh­rern, zu den Autoren, von denen ich ver­suchte zu lernen. Er hat mich sehr tief beein­flusst, und zwar vor allem durch seine schein­bare Ein­fach­heit. Denn Andrić ver­steckt seine Spuren, Andrić bemüht sich, seine Technik mög­lichst zu ver­de­cken, seine Kunst mög­lichst dis­kret zu ver­wenden. Und das ist nun mal eine Sache, die ich sehr mag, die ich sehr bewun­dere. Seine Kunst scheint, als ob sie von selbst ent­standen wäre. Das finde ich großartig!

n.: Seit den 1990er Jahren dreht sich das Gespräch über Ivo Andrić in den Län­dern des ehe­ma­ligen Jugo­sla­wien fast aus­schließ­lich um die poli­ti­sche Wahr­neh­mung von Werk und Person. Beson­ders geht es um die Frage, wie Andrić Bos­nien geschil­dert hat. Manche behaupten gar, er habe in einigen Texten – zum Bei­spiel im Brief aus dem Jahre 1920 (Pismo iz 1920. godine) – die Bos­ni­en­kriege der 1990er Jahre pro­phe­zeit. Haben Sie Andrić in Kriegs­zeiten zur Hand genommen und sich gefragt, was für ein Bild von Bos­nien er da zeichnet?

D.K.: Es gibt ein paar Autoren, die ich alle drei, fünf Jahre aufs Neue lese. Ivo Andrić gehört zu denen. Selbst­ver­ständ­lich habe ich Ivo Andrić auch zu der Zeit des Bos­ni­en­kriegs gelesen. Auch damals. Ich habe Ivo Andrić auch nach dem Krieg gelesen. Schauen Sie, Ivo Andrić ist ein groß­ar­tiger Schrift­steller. Politik, die ihre Auf­gabe, Politik zu sein, verrät und zu einer bloßen Technik der Macht­er­grei­fung ver­kommt, miss­braucht alles Mög­liche, so auch Ivo Andrić. Zur Zeit des Krieges wurde die wun­der­bare Erzäh­lung von Ivo Andrić Brief aus dem Jahre 1920 aufs Schreck­lichste miss­braucht – von ser­bi­schen Natio­na­listen, von halb­ge­bil­deten west­li­chen Rek­toren und Intel­lek­tu­ellen, die der großen natio­nalen Sache dienen wollten, von unzäh­ligen Pseu­do­ex­perten, die nicht einmal die grund­le­gende Sache der lite­ra­ri­schen Technik begriffen haben, näm­lich, dass man eine Aus­sage im lite­ra­ri­schen Kunst­werk nur begreifen kann, wenn man auf die fünf ent­schei­denden Fragen geant­wortet hat: Wer spricht, zu wem spricht er, in wel­chem Ton­fall, in wel­cher exis­ten­ti­ellen Lage befindet sich der Spre­chende, in wel­chem Kon­text bzw. aus wel­chem Anlass wird gespro­chen? Alle Experten, Rek­toren, Natio­na­listen, Pseu­do­po­li­tiker, alle zitierten ohne irgend­eine Ein­schrän­kung die Worte von der Figur Ivo Andrićs, näm­lich Max Löwen­feld, sie zitierten diese Aus­sage als Andrićs Behaup­tung. Aber ich bitte Sie, gibt es denn etwas wirk­lich Großes, was von schlechter Politik, von Pseu­do­po­litik nicht miss­braucht werden kann? Selbst­ver­ständ­lich hat man Ivo Andrić aufs Schreck­lichste miss­braucht. Aber was kann man da tun?

n.: Man pole­mi­siert, wenn man mit Andrić zu pole­mi­sieren glaubt, in Wahr­heit mit seinen Figuren und will das Gesamt­ge­füge nicht zur Kenntnis nehmen?

D.K.: Ganz genau. Es wird behauptet, Ivo Andrić hätte bos­ni­sche Mus­lime bzw. Mus­lime auf dem Balkan gehasst. So einen Schwach­sinn kann ich nicht mehr hören. Es gibt einen wun­der­baren kurzen Text von Ivo Andrić: Der Više­grader Pfad (Staze). Da spricht er in seinem Namen. Jedes Mal, wenn er sich schlecht fühlte, wenn er an dem Sinn des Lebens zwei­felte, wenn er eine Sehn­sucht nach Gra­bes­ruhe emp­fand, erschien vor seinem geis­tigen Auge der Pfad in Više­grad, den er unzäh­lige Male gegangen ist. Und da sagt Andrić: „In sol­chen Augen­bli­cken nahm ich diesen Pfad vor mich, wie der Betende oder Gläu­bige seinen Gebets­tep­pich vor sich nimmt.“ Ver­stehen wir uns? Er nimmt ein Bild aus dem mus­li­mi­schen kul­tu­rellen Kon­text. So spricht man nicht von den Kul­turen, die man hasst. Ich kannte Ivo Andrić nicht per­sön­lich, aber was wir schreiben, spricht viel ehr­li­cher, viel auf­rich­tiger über uns als alles andere, was wir von uns geben. Und sein Werk, sein Schreiben beweist es: Er hat keinen Men­schen gehasst. Er hat vor allem keine Kultur gehasst. All das ist ein­fach Schwach­sinn, ein poli­ti­sches Gerede, das ich nicht hören mag.

n.: Würden Sie den­noch einmal den Ver­such unter­nehmen, dieses poli­ti­sche Gerede zu ana­ly­sieren? Wie konnte es dazu kommen, dass Andrić heute in der Wahr­neh­mung der Zeit­ge­nossen so gespalten ist?

D.K.: Ach, das ist sehr ein­fach, leider viel zu ein­fach. Das ganze Theater, das bei uns auf dem Balkan gespielt wird, ist so kit­schig, ein­fach und schlecht, dass es irgendwie geschmacklos ist, dar­über Worte zu ver­schwenden. Die Mafia­bosse, die den Balkan heute kon­trol­lieren und sich für Natio­na­listen aus­geben, müssen alles Bin­dende zer­stören, denn sie pro­fi­tieren von Strei­te­reien, Kriegen, und Andrić ist nun mal eine von den bin­denden Tat­sa­chen auf dem Balkan. Ivo Andrić ist ein Kroate, ein Katholik aus Bos­nien, ein Bos­nier zu hun­dert Pro­zent, der in Ser­bien einen Groß­teil seines Lebens ver­bracht hat. Er hat sich immer als Jugo­slawe gefühlt und als Jugo­slawe gehan­delt. Das ist eben eine Tat­sache. Ivo Andrić muss man daher irgendwie ent­weder ser­bi­sieren oder kroa­ti­sieren oder bos­ni­sieren. Und der Mann lässt sich nicht ‑isieren. Die zweite Ebene dieser Strei­te­reien ist noch ein­fa­cher. Im Geiste kann man klare Grenzen nicht ziehen. Ein Schrift­steller gehört nun einmal zu den­je­nigen, die ihn lesen. Ein Schrift­steller kann zu fünf­zehn Nationen gehören, und die Herr­schaften, die alle – wie gesagt – blöde Mafia­bosse sind, keine Poli­tiker, möchten auch im Geiste klare Grenzen ziehen. Es muss klar sein, wem Miroslav Krleža gehört? Ich schwöre, er gehört mir.

n.: Ein Kol­lege von Ihnen an der Uni­ver­sität von Sara­jevo, der Lite­ra­tur­wis­sen­schaftler Esad Dura­ković, ist kein Poli­tiker und hat ein sehr distan­ziertes Ver­hältnis zu Ivo Andrić. In seinem Kon­zept erscheint Andrić als Euro­zen­trist, als jemand, der die ori­en­ta­li­sche Kultur nicht wahr­nehmen kann, der sie gering­schätzt. Es gibt unter Bos­niaken noch schär­fere Kri­tiker von Andrićs Werk. Ist das, was da kri­ti­siert wird, auch alles Unsinn?

D.K.: Nein, das ist kein Unsinn. Ivo Andrić war ohne Zweifel ein Euro­zen­triker. Aber lesen wir bitte Autoren in ihrem Kon­text. Das heißt, als Ivo Andrić lebte und schrieb, herrschte überall, nicht nur in Europa, ein wis­sen­schaft­li­cher Opti­mismus. Euro­zen­trismus war im Grunde die ein­zige Sicht­weise, die man haben konnte, denn es war selbst­ver­ständ­lich, Europa als Zen­trum der Welt anzu­sehen. Und Ivo Andrić war übri­gens auch klug genug, um alle auf­klä­re­ri­schen Absichten auf­zu­geben. Er bestä­tigte allen seinen Gesprächs­part­nern ihre Vor­ur­teile, denn Argu­mente haben bis heute keinen Men­schen über­zeugen können. Es wäre selbst­ver­ständ­lich Schwach­sinn gewesen, immer wieder zu betonen, dass zum Bei­spiel ori­en­ta­li­sche Kul­turen groß­artig seien in einem Ambi­ente, in einem Kon­text, in dem alle, buch­stäb­lich alle, mit ganz wenig Aus­nahmen, fel­sen­fest an den Fort­schritt, die Wis­sen­schaft und eine ein­zige Wahr­heit, die mecha­ni­scher Natur ist, glaubten. Was sollte Ivo Andrić in diesem Kon­text tun? Sollte er zu erklären ver­su­chen, dass der Mensch nun mal auch ein geis­tiges Wesen ist? Quatsch! Damals glaubte kein Mensch an irgend­eine Form von Geist. Die hei­lige Wis­sen­schaft hat uns davon über­zeugt, dass es nur Materie gibt, Schluss! Und die Reli­gionen kamen alle vom Orient, ja, umso schlimmer für den Orient. So war es nun mal.

n.: Am Bei­spiel des Textes Der Više­grader Pfad haben Sie erläu­tert, wie Ivo Andrić die mus­li­mi­sche Kultur in sich auf­ge­nommen hat. Ivo Andrić hat Bos­nien und seine Mus­lime also bes­tens verstanden?

D.K.: Ivo Andrić hat Bos­nien so gut ver­standen, wie es über­haupt mög­lich ist. Wenn man Ivo Andrić ohne Vor­ur­teil liest, mit offenem Herzen und offenen Augen, muss man ein­sehen, dass er die ori­en­ta­li­sche Kultur sehr tief in sich ein­ge­nommen hat, dass er diese Kultur sehr hoch hielt und ach­tete. Ich möchte Sie an eine Epi­sode aus dem Roman Die Brücke über die Drina erin­nern: Die Heldin Avda­gina Fata hat ihr Wort gegeben, dass sie einen jungen Mann nicht hei­raten würde. Ihr Vater hat sein Wort gegeben, dass der junge Mann seine Tochter hei­raten darf. Andrićs Heldin kann weder das eigene noch das Wort ihres Vaters bre­chen. Der ein­zige Aus­gang aus dieser Lage ist ihr Selbst­mord. Und sie begeht ihn. Diese Figur, diese tra­gi­sche Heldin, die zu den geis­tigen Werten steht, stellt Andrić dem Ratio­na­lismus der modernen west­li­chen Kultur gegen­über, die damals gerade in Više­grad ein­drang. Andrić stimmt weder für das Eine noch für das Andere. Er sieht keinen Grund, beides gegen­ein­ander aus­zu­spielen. Er stellt ein­fach etwas fest. Wenn das nicht Klar­text über Andrićs Ver­hältnis zu den ori­en­ta­li­schen Kul­turen spricht, dann weiß ich nicht, was klarer spre­chen könnte.

n.: Werfen wir einen Blick in die Zukunft. Könnte Ivo Andrić eines Tages wieder für alle Bos­nier zum lite­ra­ri­schen Chro­nisten ihrer Geschichte werden?

D.K.: Na, aber selbst­ver­ständ­lich – in zwanzig Jahren, sobald sich das Leben, die Lebens­ver­hält­nisse am Balkan nor­ma­li­siert haben. Denn – wie gesagt – heute ver­sucht man hier Men­schen ein­zu­reden, dass Serben, Kroaten, Mon­te­ne­griner, Bos­niaken, Rus­sinen, Rumänen etwas absolut Getrenntes, Unter­schied­li­ches seien. Man ver­gisst, dass ich zu zwei Drit­teln ein Serbe bin. Denn ich hab mein Bild von der Lyrik sowohl von meinem großen „Natio­nal­bruder“ Mak Dizdar als auch von einem ser­bi­schen Dichter geprägt bekommen. Ohne dessen Werk ist mein Bild von der Lyrik nicht kom­plett. Was das Erzählen angeht, habe ich sowohl von Hamza Humo, Meša Seli­mović, Ivo Andrić als auch von Laza Lazarević und Mil­ovan Glišić gelernt. Ich bin zu zwei Drit­teln oder noch ein wenig mehr ein Kroate, denn ich bin in einer kroa­ti­schen Gegend auf­ge­wachsen. Ohne den kroa­ti­schen Dichter Miroslav Krleža, ohne den kroa­ti­schen Dichter Tin Ujević, ohne den kroa­ti­schen Dichter und Dra­ma­tiker Marin Držić wäre ich für mich selbst unvor­stellbar. Und so ist es nun mal mit bei­nahe allen Men­schen in Bos­nien. Ivo Andrić bindet das irgendwie. Es geht nur darum, dass die Mafia­bosse, die sich als Natio­na­listen ver­kaufen, auf­hören, Strei­te­reien zu ver­breiten. Sobald die west­li­chen Bosse sich mit anderen arran­gieren oder ihren Mario­netten hier am Balkan klar­ma­chen, dass nun Schluss damit ist, die Völker gegen­ein­ander aus­zu­spielen, hört es auf und dann…

n.: … ist die Lite­ratur wieder frei?

D.K.: Eben.

n.: Gab es zu sozia­lis­ti­scher Zeit kri­ti­sche Stimmen zu Ivo Andrić? Haben Sie solche Stimmen vernommen?

D.K.: Selbst­ver­ständ­lich habe ich nicht nur ver­schie­dene Stimmen gehört. Ich habe auch selber einiges recher­chiert, um meine eigenen Ver­ir­rungen, Zweifel usw. irgendwie zu klären. Es gibt eine sehr lange Pas­sage am Anfang des Romans Die Brücke über die Drina, wo, wenn die Knaben ins Osma­ni­sches Reich ver­schleppt werden, vor Schmerz halb­blinde Frauen der Kolonne nach­laufen und schreien: „Nimm noch ein wenig Pita!“ und ähn­li­ches, und die wütenden Jani­tscharen schlagen den Frauen auf den Rücken. Das wun­derte mich sehr. Denn das wäre so, als wenn zur Zeit Jugo­sla­wiens Knaben aus den armen Gegenden gezwungen gewesen wären, in die Mili­tär­schule oder Poli­zei­schule zu gehen und nicht frei­willig gegangen wären. Sie gingen aber frei­willig. Die Mili­tär­schule ver­sprach eine bequeme, gute, ange­nehme Zukunft für einen Knaben aus den armen Gegenden Jugo­sla­wiens. In den Geschichts­bü­chern, in den Archiven der osma­ni­schen Zeit gibt es meh­rere Doku­mente, in denen es heißt: Die zustän­digen Behörden müssen auf­passen, nur gesunde Knaben zu nehmen. Sollte es sich her­aus­stellen, dass ein Beamter Schmier­geld genommen hat, um einen nicht voll­kommen gesunden Knaben zu nehmen, so wird er, so werden alle bestraft. Also selbst­ver­ständ­lich hat Ivo Andrić in dieser Pas­sage die his­to­ri­sche Wahr­heit seinem his­to­ri­schen Kon­zept ange­passt, denn die Mili­tär­kar­riere der Knaben in Istanbul war nicht mit Zwang oder höchs­tens mit einem öko­no­mi­schen Zwang ver­bunden. So wie die Knaben in Sizi­lien zur Polizei in Ita­lien gehen, weil das eine Kar­riere, eine Arbeit ver­heißt. Ver­stehen wir uns? Selbst­ver­ständ­lich hat Andrić die his­to­ri­sche Wahr­heit, die ihm ohne Zweifel bekannt war, einem ideo­lo­gi­schen Kon­zept ange­passt. Aber das kann man sowohl ideo­lo­gisch als auch lite­r­ar­tech­nisch deuten. Denn es funk­tio­niert rein lite­ra­risch viel besser, wenn der Junge, der heute Groß­wesir ist, ver­schleppt wurde, als wenn er frei­willig oder auf Wunsch seiner Eltern nach Istanbul ging.

n.: Kri­tiker sagen, das Bild der osma­ni­schen Herr­schaft in Andrićs Werk sei äußerst negativ und einige Fol­te­rungs­szenen an Serben durch die Osmanen so brutal, dass sie beim Leser Hass auf Mus­lime bewirken müssen. Wie fühlen Sie sich als mus­li­mi­scher Bos­nier, wenn Sie an diese Szenen denken?

D.K.: Ich möchte Sie nur an eine ein­fache Tat­sache erin­nern. Seit Ende des 18. Jahr­hun­derts werden im Westen sehr sys­te­ma­tisch fal­sche Bilder der isla­mi­schen Kultur pro­du­ziert und auf­ge­drängt. Wenn ich da belei­digt oder gekränkt reagieren würde, wäre mein ein­ziger Gesprächs­partner im Westen der große Goethe. Denn er war der Ein­zige, der die isla­mi­sche Kultur nicht exo­tisch, son­dern als Wirk­lich­keit emp­funden und behan­delt hat, der Ein­zige, der im Orient keine exo­ti­schen Unwirk­lich­keiten kon­stru­iert hat, son­dern sich den großen Hafis als Gesprächs­partner aus­ge­sucht hat. Alle anderen Euro­päer kon­stru­ierten sich exo­ti­sche Bilder im Orient oder im Osten Europas. Pedro Cal­derón de la Barca, der große spa­ni­sche Dra­ma­tiker, lässt sein Stück Das Leben ein Traum (La vida es sueño) in Polen spielen. Warum? Weil Polen exo­tisch und unwirk­lich ist, dort ist alles mög­lich. Sogar der nette Herr Karl May, der es so wun­derbar ver­standen hat, die Indianer als Men­schen dar­zu­stellen, konnte nicht umhin, uns Bal­ka­nesen als Unmen­schen dar­zu­stellen, als exo­ti­sche Unwirk­lich­keit. So ist es nun mal. Nicht nur meine Kultur, auch ich, meine Person wird sehr oft falsch gesehen. Ich bin ein äußerst netter Mensch. Und so viele ganz tolle, kluge Men­schen halten mich für unsym­pa­thisch, aggressiv, uner­träg­lich. Was soll ich da machen? Ich kann nur ver­su­chen, die Tat­sa­chen zu erfor­schen, um die Sache eini­ger­maßen objektiv ein­zu­schätzen. Selbst­ver­ständ­lich tut es mir leid, wenn Ivo Andrić sein groß­ar­tiges Werk einem ideo­lo­gi­schen Kon­zept anzu­passen ver­sucht. Gott sei Dank gelingt ihm das sehr schlecht. Es bleibt ein groß­ar­tiges Werk. Und dieses Werk inter­es­siert mich nun mal viel mehr als der Mensch Andrić.

n.: Michael Müller, ein deut­scher Sla­wist, hat in seiner Dis­ser­ta­tion die Dar­stel­lung der ein­zelnen Völker, der inter­eth­ni­schen Bezie­hungen und der Ein­stel­lung des Erzäh­lers in Andrićs Werk unter­sucht. Er argu­men­tiert, dass Andrićs Erzähler im Roman Die Brücke über die Drina an einigen wenigen Stellen „wir“ sagt und mit diesem „wir“ die Serben gemeint seien. Viel­leicht muss man ein­fach aner­kennen, dass Andrić ein Anhänger der jugo­sla­wi­schen Idee in dem Sinne war, dass Ser­bien die Rolle des Pie­monts in der Ver­ei­ni­gung der Süd­slawen spielen sollte?

D.K.: Damit habe ich keine Pro­bleme. Selbst­ver­ständ­lich war Andrić als Mensch Kar­rie­rist. Er hat sehr viele Kom­pro­misse mit dem mora­li­schen Gefühl gemacht. Er war ohne Wei­teres ein Jugo­uni­ta­rist. Er hat sich sehr wohl mit einem bestimmten ideo­lo­gi­schen Pro­jekt arran­giert, beide Male, nach dem Ersten Welt­krieg und nach dem Zweiten Welt­krieg. Als könig­li­cher Diplomat konnte er sich sehr bequem auch in der Kom­mu­nis­ti­schen Partei fühlen und arbeiten. Aber Ivo Andrić als Mensch inter­es­siert mich nicht im Geringsten. Ich bin glück­lich ver­hei­ratet und ich möchte mich mit dem Men­schen Ivo Andrić nur inso­weit befassen, dass ich ihn eini­ger­maßen ver­stehe. Mich inter­es­siert aus­schließ­lich sein Werk. Diesem Werk kann man kein ein­sei­tiges ideo­lo­gi­sches Bild auf­drängen. Nur das behaupte ich.

n.: Sie wären also nicht mit dem Urteil jener Lite­ra­tur­wis­sen­schaftler ein­ver­standen, die behaupten, dass Andrićs Dis­ser­ta­tion, in der er den Ein­fluss der osma­ni­schen Herr­schaft auf das geis­tige Leben in Bos­nien unter­sucht und zu dem Schluss kommt, dass diese durchweg negativ war, auch als Grund­lage seines lite­ra­ri­schen Werks diente?

D.K.: Auf keinen Fall. Ich bitte Sie, Ivo Andrić hat seine Dis­ser­ta­tion unter Zwang geschrieben. Ent­weder muss er sein Stu­dium beenden, oder er ver­liert seinen diplo­ma­ti­schen Posten in Graz. So hat er in aller Eile ein Mach­werk ver­fasst, voller Impro­vi­sa­tionen, Fäl­schungen, herz­lich bemüht, allen Vor­ur­teilen seiner Kom­mis­sion Recht zu geben, nur damit er end­lich das ver­dammte Papier bekommt, er hätte sein Stu­dium beendet. Soviel ist seine Dis­ser­ta­tion wert, und dessen war er sich auch bewusst, denn zu seiner Lebens­zeit durfte diese Dis­ser­ta­tion nicht ver­öf­fent­licht werden.

n.: In Više­grad wird gerade eine ganze Andrić-Stadt gebaut. Was halten Sie von diesem Vor­haben? Hat das etwas mit Ivo Andrić zu tun, wird er da miss­braucht? Oder soll man an dieser Andrić-Stadt ein­fach gleich­gültig vor­bei­gehen, wie es einige Kri­tiker vor­ge­schlagen haben?

D.K.: Ja, ein­fach vor­bei­gehen, denn die Leute, die dahinter stehen, ver­wenden alles als tou­ris­ti­sche Masche. Die sind Tou­risten auch in ihrer Lite­ratur, in ihrer Kultur, in ihrem Leben. Sie bieten alles Mög­liche den Tou­risten an, weil auch sie auf Erden Tou­risten sind. Nein, das hat mit Ivo Andrić absolut nichts zu tun. Sie behaupten nur, sie wären von Andrić inspi­riert. Diese Leute wären bereit, alles Mög­liche als Magnet für Tou­risten zu ver­wenden, auch Tito, oh ja.

n.: Der Initiator des Pro­jekts ist der Fil­me­ma­cher Emir Kus­tu­rica. Würden Sie jenen feinen Unter­schied zwi­schen dem wun­der­baren Künstler und dem nicht ganz so feinen Men­schen, den Sie bei Andrić emp­finden, auch auf Kus­tu­rica anwenden?

D.K.: Eigent­lich ja, denn die ersten beiden Filme von Kus­tu­rica finde ich sehr gut. Ich bin in Sara­jevo unzäh­lige Male dafür ange­griffen, eine Zeit­lang buch­stäb­lich gelyncht worden, weil ich es nicht zulasse, dass man Emir Kus­tu­rica aus meiner bos­ni­schen Kultur aus­ra­diert. Das ist doch Quatsch. Emir Kus­tu­rica gehört mit seinen ersten Filmen zu dieser Kultur. Er hat Groß­ar­tiges geleistet. Und als Mensch mag er tun, was er will. Dieses Pro­jekt, die Andrić-Stadt, hat mit der bos­ni­schen Kultur wahr­lich nichts zu tun. Denn der Tou­rismus ist nur ein Ver­such, bestimmte ober­fläch­liche Ein­drücke von einer Kultur an Fremde zu verkaufen.

Das Inter­view führten Kse­nija Cvet­ković-Sander und Martin Sander.