Die Kunst des Lügens

Elena Gorokhova, die mit dem autobiografischen Roman „Goodbye Leningrad“ („A Mountain of Crumbs“) ihr Debüt vorgelegt hat, begriff schon als Kind, was die sowjetische Gesellschaft zusammenhält: Im Gleichschritt mit dem Kollektiv gehen, um keinen Preis ausscheren. Doch mindestens genauso entscheidend, wenn nicht gar noch entscheidender war ein anderes Element: die Kunst des Lügens.

 

Goodbye-Leningrad-cover

Die im Jahr 1955 in Leningrad geborene Elena Gorokhova verbrachte die ersten 25 Jahre ihres Lebens in der Sowjetunion. Anfang der 80er Jahre emigrierte sie in die USA, wo sie bis heute lebt. Auf die Frage, welche Inschrift eines Tages auf ihrem Grabstein stehen solle, antwortete die Autorin: „Hat zwei Leben gelebt.“ In ihrem autobiografischen Roman Goodbye Leningrad, der im Original in englischer Sprache erschien (A Mountain of Crumbs, 2010), reflektiert Gorokhova aus ihrem „zweiten Leben“ heraus über das erste. Dabei beschreibt die für ihr Debüt hochgelobte Autorin auf eine leichtfüßige Art und Weise ihren inneren Kampf gegen ihr Heimatland.

 

Wer nicht lügt, der nicht gewinnt

„Das Spiel heißt w r a n j o . Meine Eltern spielen es bei der Arbeit und meine ältere Schwester spielt es in der Schule. Wir tun alle so, als würden wir etwas machen, und diejenigen, die uns beobachten, tun so, als würden sie uns tatsächlich beobachten und wüssten nicht, dass wir nur so tun.“ W r a n j o ist das Fundament, auf dem das gesamte sowjetische System fußt. Überall wird gelogen oder einander etwas vorgespielt – in der Familie, im Kindergarten, in der Schule, im Berufsleben, im Urlaub, im Krankenhaus und selbst am Sterbebett.

Wer von Goodbye Leningrad grundsätzlich neue oder überraschende Einsichten in das Leben in der Sowjetunion erwartet, wird enttäuscht. Vielmehr bestätigt der Roman das, was man über den ehemals größten Staat der Welt bereits weiß. Dennoch ist das Erstlingswerk der heute als Englischprofessorin in New Jersey arbeitenden Gorokhova keinesfalls eine langweilige Individualbiografie, keine Schwarz-Weiß-Erzählung oder bloße Abrechnung mit ihrem Geburtsland. Gorokhova gelingt es, die unterschiedlichen Gefühle, Gedanken und sehr persönlichen Geschichten der Menschen aus ihrer unmittelbaren Umgebung aufzugreifen und das Aufeinanderprallen ihrer Lebenswelten eindrücklich zu beschreiben.

Elena hat keine Schwierigkeiten, sich in das w r a n j o-Spiel einzufinden. Nur mit der Anpassung an das Kollektiv klappt es nicht. Und das, obwohl sich Elenas Mutter, die wie das Mutterland „herrisch, wachsam, schwer zu fassen“ ist, eine überzeugte Sowjetbürgerin, die in ihrem Vertrauen gegenüber der Obrigkeit dereinst sogar einen Brief an Stalin schrieb, jegliche Ausscherungsversuche ihrer beiden Töchter zu unterdrücken versucht. Ein Medizinstudium, so wie sie es selbst absolviert hat, und die Einhaltung der vorgeschriebenen Ordnung – das ist in den Augen von Elenas Mutter der einzig richtige Lebensweg.

 

Faszination Englisch

Zum Entsetzen der Mutter wird ihre ältere Tochter Marina Schauspielerin und Elena, die Jüngere, entwickelt zu einer Zeit, in der der Kalte Krieg seinen Höhepunkt erreicht, eine Leidenschaft für Englisch, die Sprache des Systemfeindes. Der Englischunterricht wird für sie zum einzigen Lichtblick in dem sonst bürokratischen und eintönigen Alltag; die englische Sprache wird zur Verheißung einer anderen besseren Wirklichkeit und zum Symbol eines Lebens in Freiheit. Mit zehn Jahren begegnet Elena im Englischunterricht dem Wort Privatsphäre, für das es keine Übersetzung ins Russische gibt. „Dieser Moment war einer der ersten, in denen ich begriff, in was für einer gespaltenen Realität wir eigentlich leben“, sagte Gorokhova in einem Interview mit dem US-amerikanischen Magazin The Daily Beast.

 

Die rettende Hand?

Es kommt, wie es kommen muss: Je länger die Protagonistin sich mit der englischen Sprache beschäftigt, desto stärker wird ihr Traum vom Leben „in der geheimen, unbegreiflichen Welt“. Sie glaubt aber zu keinem Zeitpunkt daran, dass dies jemals möglich sein würde. Zumindest mit sich selbst will sie das w r a n j o-Spiel nicht spielen. Vollkommen unerwartet bietet der texanische Sprachschüler Robert ihr eine Scheinehe an, damit sie die Sowjetunion verlassen kann. Die Beschreibungen der Eheschließung und der darauf folgenden Ausreise haben etwas Mechanisches. Erstmals in ihrem Leben funktioniert Elena nach den Maßstäben des Systems. Tut sie dies, um die Ausreise möglichst schnell zu vollziehen? Oder ist dies ein Verdrängungsmechanismus, der die aufkommenden Zweifel über die Richtigkeit der Entscheidung herunterspielen soll? Zwischendurch richtet sie den Blick nämlich auch auf die schönen Kleinigkeiten des sowjetischen Alltags. Die nahezu nostalgisch-melancholischen in den Romanverlauf eingestreuten Rückblenden, die von den Familienwochenenden auf der Datscha, dem Urlaub auf der Krim oder den Spaziergängen durch das malerische Leningrad handeln, lassen vermuten, dass die Nabelschnur zum Mutterland doch nicht einfach zu trennen war.

Der einzige Vorwurf, den man dem Buch machen kann, ist das abrupte Ende, welches gerade die spannenden Fragen offen lässt – etwa: Wie gestaltet sich Elenas neues Leben in den Vereinigten Staaten? Ist ihr Blick auf ihre alte Heimat aus der Ferne der gleiche wie aus der Nähe? Gegenüber dem Radiosender The Voice of Russia erklärt die Autorin: „Für mich war meine Abreise der perfekte Zeitpunkt, die Geschichte zu beenden. Goodbye Leningrad ist eine russische Geschichte. Und hinter dem Grenzübergang begann mein Leben in den Vereinigten Staaten.“

Außerdem bietet das Leben hinter dem Grenzübergang selbst genug Stoff für ein weiteres Buch: Eine Art Fortsetzung von Goodbye Leningrad soll in den USA im Januar 2015 unter dem Titel Russian Tattoo: A Memoir erscheinen.

 

Gorokhova, Elena: Goodbye Leningrad. Aus dem Englischen von Saskia Bontjes van Beek. München 2013.

 

Weiterführende Links:

http://elenagorokhova.com/

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