Filmisch inszeniert: Ein Theater der Ausgrenzung

„Three Thousand Numbered Pieces“ (2022) – dreitausend nummerierte Stücke. Ein ungarisches Roma-Ensemble bringt seine eigenen Diskriminierungserfahrungen auf die deutsche Theaterbühne und sorgt für Empörung. Wieviel Satire ist zu viel? Und wer darf wie über Minderheiten sprechen? Ein konfrontativer Film über gesellschaftlich und persönlich internalisierten Rassismus und dessen absurde Erscheinungsformen.

Eine Straße in einem ungarischen Dorf: Ein Hof nach dem anderen zieht in Schrittgeschwindigkeit vorüber, schreiende Kinder rennen um verfallene Häuser. Hunde bellen, Jugendliche und ältere Menschen in Trainingsanzügen stehen zusammen, lachend und rauchend. Die Höfe gleichen einander. Eine rohe Fassade folgt der nächsten, ein geflicktes Fenster reiht sich an das andere. Die immer gleichen Bretterzäune drängen sich an Schotterwege voller Schlaglöcher. Die Straße weitet sich. Das Dorf scheint nicht enden zu wollen, bis es dann doch langsam aus dem Sichtfeld verschwindet. Zunächst breitet sich Erleichterung aus, die jedoch allmählich von einem Gefühl der Verwirrung und Schuld überschattet wird.

Diese letzte Szene von „Three Thousand Numbered Pieces“ ist technisch und narrativ auf ein Minimum reduziert. Sie unterscheidet sich dadurch drastisch von der überinszeniert anmutenden Theatralik des restlichen Films. Mit diesem überraschenderweise realistischen Ende entsteht eine besondere Eindringlichkeit. Eine Art voyeuristische Faszination scheint von der Szenerie auszugehen. Gleichzeitig führt die Länge der ungeschnittenen Szene zu einem Unbehagen, worin sich eines der vorherrschenden Gefühle manifestiert, das der Film zu erzeugen versteht: die Scham angesichts des eigenen internalisierten Rassismus.

Der Regisseur und Drehbuchautor Ádám Császi verhandelt in seinem zweiten Spielfilm die systematische Diskriminierung der Roma, der größten ethnischen Minderheit seines Heimatlandes Ungarn. Eine besondere Brisanz erhält der Film zudem dadurch, dass Császi als Oppositioneller des Orbán-Regimes ein Leben im Exil führt und sein Werk in Ungarn kaum rezipiert wird. Der Film basiert auf dem Theaterstück Gipsy Hungarian von Kristóf Horváth, der zudem im Film die Rolle des Regisseurs verkörpert. Im Zentrum der Geschichte steht ein fiktives ungarisches Roma-Theaterensemble unter der Leitung eines weißen namenlosen Regisseurs. Das Ensemble erarbeitet ein autobiografisches Stück, das die persönlichen Lebensgeschichten der Schauspieler*innen thematisiert. Im Vordergrund steht dabei die Aufarbeitung traumatischer rassistischer Diskriminierungserfahrungen. Schließlich wird das Ensemble dazu eingeladen, das Stück im Rahmen eines Festivals am Deutschen Theater in Berlin aufzuführen. Die Konfrontation mit der Presse und dem Publikum in Deutschland führt zu vielschichtigen Konflikten, auch innerhalb des Ensembles. Besonders deutlich wird dies während einer Pressekonferenz, bei der das Ensemble mit rassistischen Fragen konfrontiert wird. Die Schauspieler*innen reagieren, indem sie den Journalist*innen durch provokante Rückfragen ihr rassistisches Verhalten spiegeln. Die Situation eskaliert schließlich derart, dass sich paradoxerweise alle anwesenden Medienleute angegriffen fühlen und den Raum verlassen. Die Absurdität dieser Dynamik, bei der sich die nicht von Diskriminierung betroffene Partei diskreditiert fühlt, spielt eine zentrale Rolle im gesamten Film. Horváth ist selbst Angehöriger der Roma, verkörpert im Film jedoch den weißen Regisseur, was bereits interessante Fragen nach Bevormundung und Aneignung aufwirft.

Die Rolle des Regisseurs, die Kristóf Horváth sehr überzeugend interpretiert, ist besonders schillernd und ambivalent. In dem Glauben, durch das Stück zur Dekonstruktion von Rassismus beizutragen, erreicht er letztlich genau das Gegenteil. Als weiße Person in einer übergeordneten hierarchischen Position profitiert er von den Traumata der Ensemble-Mitglieder, indem er sie wie fremdartige Objekte schonungslos ausstellt. Seine Rolle verweist gewissermaßen auf die Position, in der sich der Film-Regisseur Ádám Császi selbst befindet, der ebenfalls weiß ist und nicht der Minderheit der Roma angehört. Jedoch arbeitet Császi mit der großen Herausforderung, die in diesem Widerspruch liegt, und beweist: Auch aus seiner Position heraus kann die Rassismuskritik im Film funktionieren. Eines seiner wichtigsten Werkzeuge ist dabei das Erzeugen von Brüchen, auf inhaltlicher wie visueller Ebene. Ständig werden beim Zusehen eigene Vorurteile entlarvt und Solidaritätsbekundungen dekonstruiert.

So zieht etwa das Schicksal eines Ensemble-Mitglieds das Publikum kurzzeitig in seinen Bann und wiegt es in Sicherheit. Kurz darauf wendet sich das Blatt jedoch wieder und stellt soeben aufgekommene Gefühle von Mitleid bloß, macht den dadurch reproduzierten Rassismus offensichtlich. Es gibt keinen stringenten Handlungsverlauf, stattdessen diverse Zeitsprünge und fragmentarische, lose zusammenhängende Szenen.

Hinzu kommt die ausgesprochen dynamische Kamera, die mit etablierten Sehgewohnheiten bricht. Durch überraschende Schwenks und Perspektivwechsel sowie lange Einstellungen kann die Inszeniertheit der Situation selten vergessen werden. Das geschärfte Bewusstsein über die Medialität des Films ermöglicht die Distanzierung vom Geschehen, die zur Konfrontation der Zuschauer*innen mit sich selbst und der eigenen Position führt. Die permanente Adressierung der Zuschauer*innen wird außerdem durch das häufige Durchbrechen der sogenannten „vierten Wand“ erzeugt. Die Schauspieler*innen nehmen unvermittelt Blickkontakt zur Kamera auf und adressieren das Publikum direkt in ihrer Ansprache. „Three Thousand Numbered Pieces“ erlaubt somit keine passive Rezeptionshaltung, die die Verantwortung an den Film abgibt.

Der Film provoziert, überschreitet Grenzen, klagt an  und birgt das Potential zu verärgern, zu verunsichern und zu empören. Allerdings liegt genau darin auch dessen großer Unterhaltungsfaktor. Der Film ist keine anklagende Moralpredigt, sondern vielmehr eine scharfe Satire. Immer wieder wird eine bewertende Haltung eingefordert und an die Selbstreflexion der Zuschauenden appelliert. Dabei richtet sich der Film vorrangig an weiße Menschen und deren Verortung im Spannungsfeld zwischen Solidarisierung und White Saviourism. Gemeint ist die anmaßende Bevormundung nicht-weißer Menschen in Form eigennütziger Hilfeleistungen. Die Figur des namenlosen Regisseurs bietet daher Identifikationspotential für das Publikum, das ständig dazu aufgefordert wird, die eigene Position zu hinterfragen.

Als der Theater-Regisseur den Umzug eines kompletten Wohnhauses einer Roma-Familie auf die deutsche Bühne veranlasst, wird kulturelle Aneignung im ganz wörtlichen Sinne verhandelt. Das Wohnhaus wird in einem ungarischen Dorf in dreitausend nummerierte Bruchstücke zerlegt, um danach originalgetreu in Berlin wieder aufgebaut zu werden. Es drängen sich Fragen nach Kontextualisierung und Diskurshoheit auf. Welchen Wert hat das Haus auf einer deutschen Bühne, seinem Originalkontext entrissen? Heiligt der Zweck immer die Mittel? Die Bemühungen weißer Menschen, Stigmatisierung entgegenzuwirken, indem Betroffene bevormundet werden, werden hier ad absurdum geführt.

„Three Thousand Numbered Pieces“ – dreitausend nummerierte Stücke. Dieser Titel kommt dem Eindruck ziemlich nah, mit dem der Film die Zuschauer*innen zurücklässt: Zersplittert in unzählige Assoziationen, Momente der Erkenntnis und der Verwirrung. Gefühle von Schuld, Wut und Unsicherheit. Kleinteilige Fragmente, die sich ergänzen und abstoßen, sich ausdehnen oder zerfallen, je länger sie betrachtet werden. Es scheint zunächst um die Realisierung der eigenen Wahrnehmungsmuster zu gehen, was in der Folge zum Verstehen gesellschaftlicher Ursachen führen kann. Die Selbstreflexion des Publikums steht dabei im Wechselspiel mit der Selbstreflexivität des Films, der sich permanent selbst hinterfragt.

Dennoch: Der Anspruch, durch den Film eindeutige Antworten auf all die entstandenen Fragen zu erhalten, ist zum Scheitern verurteilt. Allerdings ist es genau diese Uneindeutigkeit, die den Film trägt. Császis mutiges Werk versteht es, dem Publikum einen Spiegel vorzuhalten. Das Spiegelbild fällt erschreckend aus und verdeutlicht: Rassismus beginnt vielleicht nicht beim Individuum, aber er setzt sich darin fort  und muss auch genau von dort aus überwunden werden.

Császi, Ádám: Three Thousand Numbered Pieces, Ungarn, 2022, 96 Min.

Beitragsbild: Three Thousand Numbered Pieces, Filmstill. Bildquelle: Tallinn Black Nights Film Festival (Pimedate Ööde filmifestival, PÖFF), https://poff.ee/en/film/three-thousand-numbered-pieces/.

Bilder im Beitrag: Three Thousand Numbered Pieces, Filmstills. Bildquelle: Tallinn Black Nights Film Festival (Pimedate Ööde filmifestival, PÖFF), https://poff.ee/en/film/three-thousand-numbered-pieces/ & © Zsofia Sivak, Bildquelle: https://magyar.film.hu/filmhu/hir/farkas-franciska-szurrealis-szinhazi-turne-forog-csaszi-adam-uj-mozifilmje.html.

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