Die Kultur in Europa arbeitet auf Sparflamme. Corona schränkt nicht nur das alltägliche Leben ein, sondern sorgt dafür, dass zahlreiche kulturelle Großveranstaltungen ausfallen müssen. Während die bekannten Filmfestivals in Cannes und Venedig abgesagt und andere ins Netz verlegt werden, wird jedoch das 26. Sarajevo Film Festival dieses Jahr vom 14. bis 21. August stattfinden. Die Gründe hierfür liegen in seiner Geschichte…
August 2020. Während vor einem Dreivierteljahr die meisten Menschen mit dem Wort „Corona“, wenn überhaupt, so verschiedene Dinge wie eine mexikanische Biermarke oder die, in mehreren europäische Sprachen geltende Übersetzung aus dem Lateinischen für „Krone“ assoziierten, ist der Begriff heute weder zweideutig noch nebensächlich. Mit großer Schlagkraft hat ein unsichtbarer DNA-Strang dieses Namens die globalisierte Welt in eine Krise gestürzt, die für viele jenseits apokalyptischer Filmwelten kaum denkbar war. Wenngleich die tatsächliche Krise weit weniger atem(be)raubend ist, als dies in jenen Filmwelten gern dargestellt wird, so erleben wir doch täglich ihre Auswirkungen. Und auch wenn das auslösende Virus unsichtbar ist, seine Folgen auf unser Leben sind es nicht. Neben der Reisefreiheit betreffen die europaweiten Einschränkungen v.a. auch das kulturelle Leben, das über Monate vollkommen heruntergefahren war. Theater, Kinos und Museen blieben über Monate geschlossen und sind durch Abstandsregelungen und begrenzte Besucherzahlen bis jetzt weit entfernt von einer Rückkehr zur Normalität. Großveranstaltungen bleiben weiterhin unmöglich. Inwieweit die Krise unsere Kulturlandschaft nachhaltig verändern und – im schlimmsten Fall – veröden wird, lässt sich noch nicht vorhersehen.
So hat Corona auch für die Filmbranche einschneidende Auswirkungen. Filmschaffende, wie alle Kulturtreibenden, sind auf Öffentlichkeit angewiesen. Während Streamingdienste und – inzwischen wieder – teilweise geöffnete Kinos diese Öffentlichkeit zwar herstellen können, hilft dies vor allem bereits bekannten und renommierten Filmschaffenden. Die Kreativen dieser Branche sind – normalerweise – auf Filmfestivals angewiesen, die mit allerlei Spezialisierung neben den Filmvorführungen auch als Kontaktbörse für Filmemacher_innen und Filmverleihe dienen. Für unbekannte Produktionen und den an diesen Beteiligten sind Filmfestivals oft die einzige Vermarktungsmöglichkeit und insofern für viele Filmschaffende überlebenswichtig. Gleichzeitig stehen auch die Festivals in stetem Wettbewerb und akzeptieren insofern vor allem neue Produktionen, die als Premierenvorführung vermarktet werden können. Das Absagen von Filmfestivals (wie es im Falle von Cannes, Venedig oder Locarno geschehen ist) führt somit zu einem ‚Aufstauen‘ von Filmen und erhöhtem Wettbewerbsdruck im kommenden Jahr. Das Ausweichen auf Online-Formate (wie es z.B. das DOK.fest München macht) ermöglicht zwar das Zeigen der Filme, kann aber das so wichtige Kontaktknüpfen und -pflegen nur teilweise ersetzen. Filmfestivals sind als solche also nicht nur wichtige Kulturereignisse, sondern sie sichern langfristig auch die Existenz von Filmschaffenden und sorgen insofern für die Vielfalt der Filmlandschaft.
Allerdings gibt es auch Festivals, die in der Krise einen anderen Weg beschreiten. Das wohl interessanteste Beispiel hierfür ist das Sarajevo Film Festival; eines der renommiertesten Festivals auf dem Balkan, das jährlich Filme der Region von Österreich bis Aserbaidschan, zeigt und dieses Jahr vom 14. bis 21. August stattfindet. Was macht das Sarajevo Film Festival in diesem Kontext so besonders? Es ist sein Verhältnis zur Krise, denn das Festival findet nicht trotz, sondern gerade wegen der Krise statt. Ein Blick in die Geschichte der Stadt und des Festivals ist hierbei lohnenswert.
Sarajevo befindet sich im Dinarischen Gebirge im Osten Bosnien und Herzegowinas. Es ist mit 290.000 Einwohner_innen die größte und zugleich Hauptstadt der ehemaligen jugoslawischen Teilrepublik. Wie viele andere Städte im östlichen und südöstlichen Europa weist auch Sarajevo eine Geschichte als umstrittener Ort, als Grenzstadt und Peripherie verschiedener Imperien auf. Man kann dies gut am Stadtbild ausmachen. Die Altstadt von Sarajevo ist zu drei Himmelsrichtungen von Bergen umschlossen, jeweils im Norden, Osten und Süden. Die heutige Stadt erstreckt sich im Flusstal der Miljacka von Osten Richtung Westen, wohin über die Zeit hinweg die Stadt erweitert wurde. Im östlichen Talkessel, wo die Altstadt liegt, findet sich überwiegend osmanische Architektur. Ab dem 15. Jahrhundert wurde durch die auf dem Balkan herrschenden Osmanen der Bau der Stadt befördert, bis Sarajevo 1660 die größte Stadt des Balkans und ein wichtiger Stützpunkt der imperialen Macht im bergigen Bosnien darstellte. Ab einem bestimmten Punkt in der Stadttopographie, der heute touristisch als „Sarajevo Meeting of the Cultures“ vermarktet wird, ändert sich das Stadtbild abrupt und die umliegende Architektur ist geprägt von der österreichischen Gründerzeit, da Bosnien von 1878 bis 1918 zunächst durch die österreichische Armee besetzt und schließlich annektiert wurde. Folgt man den großen Ausfallstraßen weiter Richtung Westen, so begegnet einem der Brutalismus der jugoslawischen Moderne neben den verglasten Hochhäusern des frühen 21. Jahrhunderts. Ein weiteres unübersehbares ‚architektonisches‘ Merkmal sind zahlreiche Löcher, überall in der Stadt. Löcher in den Straßen oder an Hauswänden, teilweise provisorisch aufgefüllt oder, zur Mahnung, mit roter Farbe ausgemalt. Einzelne Löcher, gestreute oder linienförmig angeordnete Löcher. Kleine wie große: Die nach außen wohl sichtbarsten Spuren der Belagerung von Sarajevo bzw. des Bosnienkrieges, der in Bosnien von 1992 bis 1996 dauerte. Beinahe während der gesamten Kriegsdauer stand die im Talkessel liegende Stadt unter Belagerung durch die serbisch-nationalistische Armee; in der Stadt waren damals vermutlich bis zu 400.000 Zivilist*innen eingeschlossen. Der Krieg forderte in Bosnien mindestens 100.000 Opfer, davon allein an die 11.000 in Sarajevo. Ergebnis des Kriegs ist die bis heute währende Teilung des Landes in zwei ethnisch-religiös geprägte staatliche Entitäten, deren Grenze auch durch das größere Stadtgebiet Sarajevos verläuft; eine Stadt der Grenzen und Grenzerfahrungen. Aber auch die Gründung des Sarajevo Film Festivals war ein Ergebnis des Kriegs.
Liest man Zeitzeugenberichte aus der Zeit der Belagerung (eine empfehlenswerte Lektüre in dem Zusammenhang ist Ivana Mačeks Sarajevo under Siege. Anthropology in Wartime), so wird deutlich, dass sich nach der abrupten Zerstörung der bekannten – auch semantischen – Ordnung und der nachfolgenden Phase permanenter Unsicherheit und Todesangst eine neue, eigentümliche Art von Kriegsnormalität entwickelte, die auch den Drang nach Abwechslung und kulturellem Ausdruck als Widerstandshandlung hervorbrachte. Elma Tataragić, heute Chefin des Spielfilmwettbewerbs und Mitbegründerin des Sarajevo Film Festivals, schrieb über diese Zeit: „In war we have realized that in order to survive food and water are not enough.” Eine Aussage, die einem sinngemäß immer wieder begegnet im Zusammenhang mit der Gründung des Festivals. Die Reduktion des Lebens auf das, was allein zum physischen Überleben notwendig ist, kann nur für eine sehr begrenzte Zeit ertragen werden. Auch heute machen viele Menschen diese Erfahrung – wenngleich die aktuelle Pandemie mit den Schrecken des Bosnienkrieges kaum zu vergleichen ist. Ausgangspunkt für das spätere Festival waren Filmvorführungen und Kinowochen im belagerten Sarajevo. Die Initiative ging dabei vom 1984 gegründeten Obala Art Centar aus, einem Zentrum und Zusammenschluss von Kreativen. 1993 wurde im Rahmen dieses Zentrums das „Kriegskino Apollo“ (bosnisch „Ratno Kino Apollo“) gegründet, in dem Filme aus aller Welt gezeigt wurden. Apollo war damals das einzige funktionierende Kino in der Stadt. Seine Vorstellungen schufen für ein paar Stunden ein Gefühl von Vorkriegsnormalität. Die Vorführungen mussten dabei unter denkbar widrigen Bedingungen stattgefunden haben, da Energie in Sarajevo nur spärlich zur Verfügung stand. Ein erstes kleines Filmfestival wurde im Jahr 1993 von Regisseur Haris Pasović organisiert. Dieses blieb jedoch einmalig. Im Kriegskino Apollo wurden neben den regelmäßigen Vorführungen auch Retrospektiven internationaler Filmfestivals gezeigt, so z.B. des Locarno Filmfestival 1994. Das Team von Obala und das Team des Kriegskinos standen in Kontakt mit dem Locarno Filmfestival. Zusammen mit dessen damaligem Direktor Marco Müller entstand im Winter 1994/95 das Projekt eines eigenen jährlichen Filmfestivals in Sarajevo. Die erste Ausgabe des Festivals war für Sommer 1995 geplant. Ein Team aus zehn jungen Kunstschaffenden, von denen heute alle noch mit dem Sarajevo Film Festival verbunden sind, arbeitete an seiner Realisierung, allen voran Festivaldirektor Mirsad Purivatra. Jahre später beschreibt er im Spiegel, wie Equipment und Filmrollen durch einen geheimen Tunnel, der die eingeschlossene Stadt mit dem restlichen durch die bosnische Regierung kontrollierten Gebiet verband, in die Stadt geschmuggelt wurden. Obwohl die Organisator_innen planten, das Festival trotz der Widrigkeiten des Kriegs stattfinden zu lassen, musste es um einige Monate verschoben werden, da im Sommer 1995 die Situation eskalierte: Der Völkermord in Srebrenica fand in dieser Zeit statt. Am 27. Oktober 1995 eröffnete schließlich das erste Sarajevo Film Festival. 37 Filme aus 15 Ländern wurden gezeigt, teilweise von VHS-Kassetten, und trotz Lebensgefahr gab es zahlreiche internationale Gäste.
Seither hat sich das Erscheinungsbild des Festivals stark gewandelt: Der Festivalbesuch ist nicht mehr mit direkter Lebensgefahr verbunden, Filme müssen nicht mehr von Videokassetten abgespielt werden und Energie nicht mehr über den Stromgenerator erzeugt werden. Doch die Anfänge im Krieg haben die Identität des Festivals geprägt. Seit 2004 wird die von Agnès B. designte Trophäe „Heart of Sarajevo“ vergeben, die sich an ein inoffizielles Logo des Festivals aus den 1990er Jahren anlehnt. Und auch der Drang, trotz aller Widrigkeiten das Leben zu zelebrieren und sich nicht unterkriegen zu lassen, gehört zum Selbstverständnis der Festivalmacher_innen. Und so brauchte es, laut Spielfilmwettbewerbschefin Tataragić, nicht lang, um zu entscheiden, dass man auch dieses Jahr das Festival stattfinden lasse.
Man wisse um die Verantwortung, so Festivaldirektor Purivatra. Corona erfordere besondere Maßnahmen im alltäglichen Leben. Auch die 26. Ausgabe des Sarajevo Film Festival könne hier keine Ausnahme machen. Die wohl sichtbarste Veränderung wird das Fehlen des Roten Teppichs sein. Was normalerweise der perfekte Ort ist, um internationale Prominenz vor die eigene Kamera zu bekommen, ist in Coronazeiten leider auch der perfekte Ort für Ansteckungen. Partys und Begleitveranstaltungen sind ebenfalls nicht vorgesehen. Viele Filmvorführungen werden in Freiluftkinos verlegt und für jene in geschlossenen Räumen herrschen Maskenpflicht und Besucher_innenbegrenzung auf 50 Personen. Zur Vermeidung von Menschenansammlungen an Verkaufsstellen werden die Tickets dieses Jahr ausschließlich online verkauft. Darüber hinaus werden auch die parallel stattfindenden Workshops und Foren für Filmschaffende ins Netz verlegt.
Der Besuch des Festivals – insbesondere aus Deutschland – ist zwar erschwert, aber nicht unmöglich. Bosnien und Herzegowina hatte zum 1. Juni seine Grenzen zu den Nachbarländern wieder geöffnet und Einreisende aus dem Schengen-Raum müssen nicht in Quarantäne, wenn sie einen negativen Corona-Test, der nicht älter als 48 Stunden ist, bei der Einreise vorzeigen können.
Trotz Einschränkungen hat das diesjährige Festival vieles zu bieten. Das Programm wurde zwar noch nicht komplett veröffentlicht, aber es steht schon fest, dass in den Kategorien Spiel-, Dokumentar-, Kurz- und Studentenfilm insgesamt 49 Produktionen um die „Heart of Sarajevo“-Trophäen konkurrieren werden. Unter den Filmen werden 29 Weltpremieren, sechs internationale sowie zwei europäische Premieren sein. Eröffnet wird das Festival mit dem Film „Focus, Grandma“, der Geschichte einer zerstrittenen und über das ganze ehemalige Jugoslawien zerstreuten Familie, die im Frühjahr 1992 zum Sterbebett der Großmutter nach Sarajevo kommt und über Familienzwistigkeiten die nahende Katastrophe übersieht. Der Film entstand unter der Regie des bosnischen Regisseurs Pjer Žalica, der nun schon zum dritten Mal das Filmfestival eröffnen wird. Daneben wird mit Michel Hazanavicius („The Artist“) ein international bekannter und ausgezeichneter französischer Regisseur mit litauischen Wurzeln der Jury für den Spielfilmwettbewerb vorstehen.
Einmal mehr ist das Sarajevo Film Festival mit einer fundamentalen Krise der Kultur konfrontiert. Während im belagerten Sarajevo der 1990er Jahre der Tod menschengemacht war, ist es diesmal ein unsichtbares Virus, welches das Leben lähmt. Doch den Organisator_innen des Festivals ist mehr als bekannt, wie wichtig Kultur ist, um die Krise zu überstehen. Das Sarajevo Film Festival kann dabei nicht nur helfen, die moralischen Kräfte zum Überstehen der Pandemie zu sammeln, sondern auch das tatsächliche Überleben einer vielfältigen Filmlandschaft zu unterstützen. Ob es ratsam ist, sich in diesen Zeiten auf die Reise zum Festival nach Sarajevo zu machen, muss jede_r für sich selbst entscheiden. Ein Tipp für Kurzentschlossene und Unerschrockene ist es allemal. In den Worten von Direktor Mirsad Purivatra: „Unsere Mission bleibt die gleiche, seitdem unser Festival in einer belagerten Stadt gegründet wurde – das Leben, die Menschlichkeit und die Künste zu zelebrieren.“