Ein umstrittenes Gesetz und ein Land im Zwiespalt – in Georgien spitzt sich ein Konflikt zu, der an die Anfänge des Kyjiwer Majdan erinnert. Doch ist der Widerstand wirklich vergleichbar mit dem ukrainischen Aufbruch vor über zehn Jahren? Im Gespräch mit dem Kulturwissenschaftler Giorgi Maisuradze haben wir die Hintergründe beleuchtet.
Tbilisi, Ende April 2024: Die Stimmen Zehntausender füllen die Straßen. Zwischen den Demonstrierenden sickert ein Nebel aus Tränengas und Wasserwerfern hervor. Die schwarze Front aus Polizistenhelmen steht der einer entschlossenen Menge gegenüber, die seit Wochen unermüdlich vor dem Parlament gegen die Einführung des neuen Gesetzes über ausländische Einflussnahme protestiert. Über ihren Köpfen weht neben der rot-weißen Flagge Georgiens eine weitere, blau-gelbe: die der Europäischen Union.
Diese Demonstration ist nicht nur ein Protest, sondern auch ein Kampf um die Zukunft Georgiens. Seit der Ankündigung des Gesetzes, demzufolge Organisationen, Medien und Einzelpersonen bei einer Finanzierung aus dem Ausland von mindestens 20 Prozent verpflichtet sind, sich registrieren zu lassen, brodelt es innerhalb des Landes. Kritisiert werden die Parallelen zum russischen Gesetz über „ausländische Agenten“ aus dem Jahr 2012. Denn eigentlich sollte der von Georgien laut Verfassung angestrebte Weg eine ganz andere Richtung einschlagen – weg von russischem Einfluss und hin zu einem lang ersehnten Beitritt zur EU. Diese postkolonialen Bestrebungen wecken Erinnerungen an Ereignisse in einem Land, dessen Bürgerinnen und Bürger Ende 2013 begannen, für dasselbe Ziel einzustehen: Der Euromajdan in der Ukraine – im Nachhinein als Revolution der Würde bezeichnet – war Ausdruck des Protests gegen die Weigerung des Präsidenten Viktor Janukovyč, ein versprochenes Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterschreiben. Die Zuspitzung der Proteste im Februar des darauffolgenden Jahres forderte über 100 Todesopfer und 300 Verletzte. Zur Eskalation der Gewalt hatten nicht nur Scharfschützen beigetragen, die auf die Menge schossen, sondern auch Gruppen von Provokateuren, sogenannten „Tituški“, die von der ukrainischen Regierung für die Ausübung von Gewalt inmitten der Proteste bezahlt wurden.
In einem Interview mit dem georgischen Kulturwissenschaftler und Philosophen Giorgi Maisuradze berichtet dieser vom Einsatz von Tituški in Georgien und bezeichnet dies als „typisch russische Taktik“. Neben körperlicher sei auch psychische Gewalt eingesetzt worden – so wurden etwa Wände und Haustüren beschmiert. Zudem verstrickt sich die georgische Regierung in Widersprüche: Premierminister Irakli Kobachidze behauptete im Mai auf der Plattform X (vormals Twitter), dass „die Verabschiedung des Transparenzgesetzes eine entscheidende Voraussetzung dafür ist, eine Entpolarisierung zu erreichen, was die Hauptempfehlung der Europäischen Union ist“. Die Reaktion der EU forderte jedoch das Gegenteil, nämlich die Rücknahme des Gesetzes. Ende Juni 2024 hat die Regierungspartei „Georgischer Traum“ nun auch noch ein Gesetzespaket erarbeitet, das „LGBTQ-Propaganda“ einschränken soll und damit deutlich gegen die Antidiskriminierungspolitik des Westens verstößt. Als Konsequenz sind die Beitrittsgespräche mit Georgien, das erst im Dezember 2023 den Status eines EU-Beitrittskandidaten erhalten hat, nunmehr eingefroren – entgegen dem Wunsch der Georgierinnen und Georgier, wo sich doch laut einer Umfrage 75 Prozent für eine EU-Mitgliedschaft ausgesprochen haben. Dabei begann der „Georgische Traum“ so vielversprechend: Die Gründung des Parteienbündnisses im Jahr 2012 durch Bidzina Iwanischwili richtete sich gegen den zunehmend autoritär regierenden Präsidenten Micheil Saakaschwili und verhieß Georgien eine demokratische Zukunft im Wohlstand.
In ähnlicher Weise hatte auch der damalige ukrainische Präsident Viktor Janukovyč in den Jahren vor dem Majdan den Wunsch nach einer Annäherung an die EU betont. Entsprechend überraschend war es für die Ukrainerinnen und Ukrainer, dass das Assoziierungsabkommen letztlich nicht unterzeichnet wurde. Die Regierung versuchte, den darauffolgenden Protesten durch die Organisation eines „Antimajdans“ etwas entgegenzusetzen: Verbeamtete Bürgerinnen und Bürger wurden zur Teilnahme an Gegendemonstrationen verpflichtet. (Vgl. Zhadan, Serhij (2014): Vier Monate Winter. In: Andruchowytsch, Juri (Hrsg.): Euromaidan: Was in der Ukraine auf dem Spiel steht. Mit einem Fotoessay von Yevgenia Belorusets. Berlin: Suhrkamp. S. 71.) Ziel war es, Chaos zu erzeugen, um dieses daraufhin den Protestierenden vorzuhalten und ein falsches Bild von der vermeintlichen Gespaltenheit der Ukraine entstehen zu lassen. Doch auf dem Majdan versammelte sich die Zivilgesellschaft – „Studenten, Künstler, Menschen aus der Mittelschicht, ältere Leute “ (ebd.: S. 66) –, und diese war nicht gespalten, sondern vereint in ihrem Wunsch nach einem proeuropäischen Kurs.
In Georgien waren es ebenfalls Menschen aus allen Gesellschaftsschichten, die auf die Straße gingen, um zu protestieren. Maisuradze erwähnt die für ihn überraschende Solidarität zwischen den Demonstrantinnen und Demonstranten, besonders im Hinblick auf die Teilnahme junger Demonstrierender. Es seien über 200 Personen unter dem Deckmantel abstruser Vorwürfe festgenommen worden, darunter vor allem Jugendliche, für welche die verhängten Geldstrafen nicht leistbar gewesen seien. Darum sei ein Konzert organisiert worden, an dem viele namhafte georgische Musikerinnen und Musiker teilnahmen. Die dabei in kurzer Zeit gesammelten über 250.000 Lari dienten zur Deckung der Strafen. „Es ist also sehr starke Solidarität entstanden. Es war wirklich wunderschön, zuzuschauen.“
Auf die Frage hin, ob zwischen den Protesten in Georgien und dem Euromajdan Parallelen gezogen werden können, hebt Maisuradze einen bedeutenden Unterschied hervor: Die Revolution in der Ukraine führte zu einem Blutvergießen und war Vorwand für die Annexion der Krim mit den bekannten Folgen. In Georgien jedoch seien weder die Seite der Regierung noch die der Protestierenden zu einer derartigen Eskalation bereit.
Ausgehend von der Annahme, dass auf eine Revolution grundlegende Änderungen folgen, ist der Begriff für die Situation in Georgien unzutreffend. Im Gegensatz zum Euromajdan, der zu einem nachhaltigen politischen Wandel führte, sind in Georgien bisher keine vergleichbaren Erfolge zu verzeichnen. Die Zukunft Georgiens bleibt ungewiss – ob die Proteste Früchte tragen oder gar einen Majdan 2.0 entfachen, wird sich erst noch zeigen.
Literaturverzeichnis:
International Republican Institute (2023): https://www.iri.org/resources/national-public-opinion-survey-of-residents-of-georgia-march-2023/ .
Kobakhidze, Iralki (2024): https://x.com/PM_Kobakhidze/status/1786475403449659664 .
Zhadan, Serhij (2014): Vier Monate Winter. In: Andruchowytsch, Juri (Hrsg.): Euromaidan: Was in der Ukraine auf dem Spiel steht. Mit einem Fotoessay von Yevgenia Belorusets. Berlin: Suhrkamp. S. 66–71.
Das Interview mit Prof. Giorgi Maisuradze, auf dem dieser Essay aufbaut, wurde im Rahmen eines Proseminars am Institut für Slawistik der Universität Graz am 17. Juni 2024 online und in deutscher Sprache geführt.
Beitragsbild: Ein Graffiti in Tbilisi: „The only way out is through sharing“, April 2024. Foto: Mariya Donska.