Georgien, die Revolution und Europa

Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten gibt es zwischen den andauernden Protesten in Georgien und früheren Protestbewegungen im Land, so etwa der Rosenrevolution? Dieser Essay setzt sich unter dem Gesichtspunkt zweier gesellschaftlich prägender Strömungen – der europäischen Integration und des georgischen Nationalismus – mit Kontinuität und Wandel georgischer Protestbewegungen auseinander. 

 

Ein Meer aus Protestierenden, georgischen Flaggen und Lichtern, Polizei, Tränengas und Wasserwerfern: Was an längst vergangene Ereignisse erinnert, ist jedoch brandaktuell. Seit dem letzten Jahr demonstrieren in Georgien Abertausende gegen ein Gesetzesvorhaben der Regierung, das sich um Registrierungspflichten für NGOs und Privatpersonen dreht, die Finanzierung aus dem Ausland erhalten. Die Proteste haben neben der Hauptstadt Tbilisi auch andere Orte wie Kutaisi und die Hafenstadt Batumi, wo die Universität besetzt wurde, erfasst. Regelmäßig gibt es auch Großveranstaltungen vor dem Parlament Georgiens. Nach derzeitigem Stand scheinen die Proteste ihr Ziel aber nicht erreicht zu haben: Das Gesetz ist nun in Kraft.

 

Die Proteste erinnern an die Rosenrevolution, die 2003 in Georgien stattfand. Auch hier gab es Massenproteste gegen die herrschende politische Klasse, die in einem friedlichen Machtwechsel hin zu oppositionellen Kräften endeten. Was die jetzige Protestbewegung angeht, wird die Zeit aufzeigen, ob und welche nachhaltigen Veränderungen sie zu bewirken vermag. Ein Detail fällt jedoch auf: Bei den Protestmärschen und Großveranstaltungen tragen viele Protestierende in den Jahren 2024 und 2025 auch die Flagge der Europäischen Union, dies war 2003 noch nicht der Fall.

 

So stellt sich die Frage nach Unterschieden, aber auch Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Bewegungen, heute und damals, und danach, was sich seitdem in der georgischen Zivilgesellschaft verändert hat. Darüber haben wir mit Prof. Giorgi Maisuradze, dem bekannten georgischen Kulturwissenschaftler und Schriftsteller, gesprochen. Er forscht und lehrt seit 2014, nach vielen Jahren in Berlin, an der Staatlichen Ilia-Universität Tbilisi.

 

Maisuradze zufolge war die Rosenrevolution nicht explizit proeuropäisch, weil sich die Frage der europäischen Integration damals überhaupt nicht stellte. Der Grund dafür war nicht, dass in Georgien damals kein Blick nach Europa vorhanden gewesen wäre, sogar ganz im Gegenteil: Der infolge der Rosenrevolution freiwillig zurückgetretene Staatspräsident Georgiens, Eduard Schewardnadse, stand, laut Prof. Maisuradze, der europäischen Integration offen gegenüber und viele Schritte in diese Richtung wurden in seiner Regierungszeit initiiert.

 

So seien viele der engeren Bindungen, die zwischen Georgien und der EU ab der zweiten Hälfte der Nullerjahre entstanden, auf Schewardnadses Politik zurückzuführen. Wenn man sich die aktuelle Berichterstattung der westlichen Massenmedien und Äußerungen europäischer Politiker und Politikerinnen ins Gedächtnis ruft, scheinen engere Bindungen Georgiens an die EU heute auf der Kippe zu stehen. Dies wirft eine weitere Frage auf: Führt der Weg Georgiens nach Europa, der 2003 ein selbstverständlicher war, mehr als zwanzig Jahr später nun in eine Sackgasse? Und dies, obwohl Georgien seit Dezember 2023 sogar EU-Beitrittskandidat ist?

 

Giorgi Maisuradze meint, eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung sei klar proeuropäisch eingestellt. Ein Hauptfaktor, der die Menschen aktuell auf die Straße treibe, sei der Verlust der europäischen Perspektive Georgiens, welcher durch die Verabschiedung des Gesetzes droht. Bleibt die Frage nach den Regierenden und der politischen Klasse. Die aktuell regierende Partei „Georgischer Traum“ hatte ursprünglich ein proeuropäisches Programm; eine Abkehr davon in manchen Punkten ist angesichts der aktuellen Regierungspolitik offensichtlich. Die bis Dezember 2024 amtierende Staatspräsidentin Salome Surabischwili gilt als klar proeuropäisch und hatte gegen das Gesetz ihr Veto eingelegt, was jedoch nur aufschiebende Wirkung hatte: Gemäß der Verfassung Georgiens können Vetos des Staatsoberhauptes vom Parlament überstimmt werden, so geschehen noch im letzten Jahr durch das von der Regierungspartei Georgischer Traum dominierte Parlament.

 

Wenn man diese Punkte betrachtet, erscheint der Weg Georgiens nach Europa als eine Konstante. Bei der Rosenrevolution 2003 gab es kein blau-gelb-besterntes Fahnenmeer, weil der europäische Weg nicht in irgendeiner Weise bedroht schien. Heute, im Jahr 2025, gibt es dieses Fahnenmeer und die explizit proeuropäische Komponente der Proteste, weil die von der Regierungspartei forcierte Regelung, welche von Kritikern auch als „russisches Gesetz“ bezeichnet wird, diese Entwicklung gefährden könnte. Wenn man diese Argumentation weiterdenkt, ändert auch der Beitrittskandidatenstatus als wichtige Etappe auf diesem Weg nichts; einfach, weil dieser trotz allem keine Garantie dafür ist, dass der Weg nach Europa auch weiter beschritten wird. Illustriert wird dies durch das Beispiel der Türkei, die bereits seit 1999 EU-Beitrittskandidat, aber von einer allumfassenden Integration in die europäische Staatengemeinschaft weiter denn je entfernt ist.

 

Im Sinne dieser Perspektive, die gesamtgesellschaftlich-politische Langzeittrends im Fokus hat, argumentiert auch Giorgi Maisuradze, und zwar im Hinblick auf eine Strömung, die grundsätzlich konträr zur vorher beschriebenen aufgefasst wird: den Nationalismus. Dieser sei omnipräsent und bestimme mitunter den Diskurs. Die erste Institution, so Prof. Maisuradze, die den Nationalismus im modernen Georgien geprägt hat, war die Kirche. Diese hätte mit ihrer Reichweite für die Etablierung nationalistischer Begrifflichkeiten und Metaphern im Diskurs gesorgt und außerdem in ihrer Rolle als geistliche Autorität eine „religiöse Erbschaft“ des Nationalismus angestoßen. Der nationalistische Diskurs hätte sich seither zwar in seiner Schärfe deutlich abgeschwächt, sei aber nach wie vor ein Bestandteil von Gesellschaft und Politik. Hinzu kommt, dass die Regierungspartei Georgischer Traum das Gesetz, gegen welches sich die Proteste richten, mit nationalen Interessen begründete. Es deutet sich an, dass dieser georgische Nationalismus in seinem spezifischen Kontext gesehen werden muss. In der Zeit der Perestroika und des nachfolgenden Zerfalls der Sowjetunion habe die georgische Gesellschaft den Nationalismus als „alternativlos“ wahrgenommen. Dass dieser als ein Mittel gesehen wurde, dem Wunsch nach nationaler Selbstbestimmung nach sieben Jahrzehnten Sowjetunion Ausdruck zu verleihen, erscheint naheliegend.

 

Es stellt sich die Frage, ob diese beiden – auf den ersten Blick völlig gegensätzlichen – Strömungen überhaupt koexistieren können; ob nicht die eine die andere irgendwann verdrängt. Das ist eine Frage, die vermutlich ebenso nur die Zeit beantworten kann. Eines scheint aber sicher: Obwohl der Nationalismus stark den Diskurs prägte und noch prägt, hat Georgiens Integration in die europäische Gemeinschaft für viele eine sehr hohe Priorität.

 

Man könnte abschließend zum Unterschied zwischen den Protestbewegungen von 2003 und 2025 sagen, dass die Proteste der Rosenrevolution primär eine innenpolitische Dimension hatten, weil der Weg nach Europa nicht bedroht schien, während die Proteste von heute eine klar europäische Komponente haben. Das greift jedoch zu kurz: Giorgi Maisuradze spricht davon, dass viele internationale NGOs und Geldgeber Betreiber und Unterstützer von sozialen und karitativen Einrichtungen, von Kunst und Kultur, der Medien und der Wissenschaft sind. Ein potenzielles Wegbrechen dieser Organisationen wäre also ein gesamtgesellschaftlicher Schaden, auch ganz unabhängig von außenpolitischen Folgen.

 

Auf die Frage, welcher Moment im Rahmen der aktuellen Proteste für ihn am prägendsten gewesen sei, antwortet Prof. Maisuradze, dass die aktuelle Revolution wie eine heilende Kraft wirke und dass momentan in Georgien eine völlig neue Gesellschaft entstehe. Dies wird auch deutlich, wenn man vergleicht, wer jeweils an der Spitze der Proteste stand bzw. steht.

 

Die Rosenrevolution von 2003 wurde von etablierten Politikern angeführt; die Protestbewegung heute, so Prof. Maisuradze, sei vielmehr selbstorganisiert und insbesondere von der jüngeren Generation getragen. Die neue Gesellschaft, die in Georgien entsteht, ist eine, die klar nach Europa strebt. Weil, so drückt es Giorgi Maisuradze aus, Europa für viele Menschen in Georgien für mehr Freiheit und mehr Gerechtigkeit stehe.

 

Das Interview mit Prof. Giorgi Maisuradze, auf dem dieser Essay aufbaut, wurde im Rahmen eines Proseminars am Institut für Slawistik der Universität Graz am 17. Juni 2024 online und in deutscher Sprache geführt.

 

Beitragsbild: Ein Meer aus Georgien- und Europa-Flaggen in Tbilisi, April 2024. Foto: Dagmar Gramshammer-Hohl.

Jetzt den novinki-Newsletter abonnieren

und keinen unserer Textbeiträge mehr verpassen!