Aleksandr Pjatigorskij schreibt eine Philosophie des Beobachters
Russische Philosophie ist hierzulande nicht gerade präsent. Und der Name Aleksandr Pjatigorskij fällt mit Blick auf den deutschsprachigen Buchmarkt nur im Zusammenhang mit seinem halbautobiographischen Romantraktat Philosophie einer Gasse (Filosofija odnogo pereulka) und dem Roman Erinnerung an einen fremden Mann (Vspomniš’ strannogo čeloveka), für den er in Russland im Jahre 2000 den renommierten Andrej-Belyj-Preis für Prosa erhielt. Dabei handelt es sich bei Pjatigorskij um einen der meistgelesenen aktuellen russischen Philosophen – in Russland.
Pjatigorskij, der bereits 1974 nach England emigrierte und dort für längere Zeit an der School of Oriental and African Studies in London lehrte, ist von Haus aus Indologe und Philosoph und in seinem Heimatland nicht nur als Romancier und Kenner indischer, russischer und westeuropäischer Denksysteme bekannt, sondern vor allem als Ko-Autor des populären russisch-georgischen Philosophen Merab Mamardašvili. Pjatigorskijs Laufbahn als Philosoph begann zunächst als Mitglied der kultursemiotischen Tartuer Schule um Jurij Lotman, von der er sich schließlich inhaltlich distanzierte und sich einer erkenntniskritischen Tätigkeit zuwandte. Dabei sind die Schriften zu einer Metatheorie des Bewusstseins, die er mit Merab Mamardašvili verfasste, aufklärungskritisch oder sogenannt post-rationalistisch und beziehen auch nicht-europäische, vor allem asiatische Philosophien mit ein.
In seinem 2004 auf Russisch erschienen Buch Denken und Beobachtung. Vier Vorlesungen zu einer Philosophie des Beobachters (Myšlenie i nabljudenie. Četyre lekcii po observacionnaoj filosofii) nimmt sich Pjatigorskij eines Themas an, das die Wissenschaftstheorie naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Provenienz über das 20. Jahrhundert hinweg beschäftigt hat: die Abhängigkeit aller Objekte und der Aussagen, die darüber gemacht werden, von der Instanz, die sie beobachtet.
Pjatigorskij liest dabei westliche Theoreme und indische Philosophie zusammen, greift zurück auf yogische Lehrsätze und buddhistische Sutren, die er Denkmodellen von Edmund Husserl, Ludwig Wittgenstein, Jean Gebser und Merab Mamardašvili an die Seite stellt. Dabei folgt er durchaus einer Tradition der russischen Philosophie, die akribische Leser verärgern mag: Er verzichtet gänzlich auf Quellenverweise und zitiert andere Texte meist in unmarkierter Paraphrase. Mancher Prätext, wie Michail Bachtins frühe Schrift Zu einer Philosophie der Tat (K filosofii postupka), bleibt vollkommen ungenannt und erschließt sich lediglich dem, der sich in der philosophischen Literatur auskennt.
Diese philosophische Tradition des nonchalanten Umgangs mit fremdem Gedankengut wird zwar auch über andere Textgattungen transportiert, als das westlicher Leser gewöhnt sein mögen: Eher mündlich gehaltene Genres wie das des philosophischen Briefs und des Gesprächs ziehen sich von der Romantik, vom ersten philosophischen Brief Petr Čaadaevs, mit dem man gemeinhin die neuzeitliche russische Philosophie eröffnet sieht, bis hin zu zeitgenössischen Autoren wie Michail Ryklin mit seinen Briefen aus Moskau und Merab Mamardašvilis Gesprächen, durch die russische Philosophiegeschichte. Dieser Habitus hat der russischen Philosophie häufig schon den Vorwurf der fehlenden Systematik eingetragen.
Aleksandr Pjatigorskij reiht sich hier mit seinen Vorlesungen in diese quasimündliche Tradition ein. Über rund 50 Seiten pro Vorlesung hinweg entwickelt er seine Überlegungen über Denken als Objekt, Reflexion, Prozessualität und Kreativität hin zu einer dreidimensionalen Positionierung der Beobachtung, die er – betont jenseits allen Psychologismus’ – als Phänomen der sich stets neu und anders entwickelnden Teilhabe an den idealiter getrennten Positionen Blick und Objekt sieht. Die Involviertheit des Beobachters in sein beobachtetes Experiment ist auch hier konstitutives Moment.
Beobachtung erscheint hier einmal mehr als ein der Körpersensorik enthobenes, ontologisches Problem, wie er auch den Philosophen als transzendentale Einheit mit seiner Philosophie setzt. Beobachtung wird hier als die Möglichkeit oder Unmöglichkeit gehandelt, über das eigene Denken zu denken. Damit macht Pjatigorskij den Beobachter zur Metapher und das Problem der Beobachtung zu einem sprachphilosophischen.
In einigem erinnert die bei Pjatigorskij begrifflich nicht näher gefasste Positionierung des Beobachters doch an Helmuth Plessners „exzentrische Position“ und „utopischen Standort“, an Michail Bachtins „Außerhalbbefindlichkeit“ und auch an Niklas Luhmanns Beobachter zweiter Ordnung. Er verweigert sich jedoch einer kategorialen und terminologischen Erschließung des Beobachters als e i n e Position, und gerade in der Verweigerung einer fokussierenden Zuschreibung lässt sich das nonlineare und für Pjatigorskij und seinen früheren Ko-Autor Mamardašvili charakteristische „nicht-klassische“ Denken und Sprechen jenseits aller aufklärerischen Didaktik verstehen. In seinen Vorlesungen hält er es mit einer „besonderen Art von Rhetorik“, in der „nicht selten Metaphern und rhetorische Figuren Fachbegriffe ersetzen“.
Pjatigorskij schliesst mit seinen Überlegungen die Philosophie der Beobachtung aber keineswegs ab, sondern sieht sie geradezu erst eröffnet. Anders als seine im Text mehr oder weniger präsenten russischen Vordenker Michail Bachtin und Merab Mamardašvili orientiert er sich in seinen Lektüren nicht vorrangig an westlichen Denkmodellen, sondern verortet mit indischen und buddhistischen Kontrapunkten die russische Philosophie auch jenseits von Europa.
Die Übertragung der ersten Vorlesung durch Jörg Silbermann bewahrt den quasimündlichen Stil und vollzieht die persönliche Ansprache an ein imaginäres Publikum und das zunehmend komplexe philosophische Sprechen nach. Der sprachphilosophische Ansatz und der sprachspielerische Gestus bleiben erhalten, und das sich prozesshaft, oder, wie Pjatigorskij selbst sagt, sich „zickzackförmig“ fortentwickelnde Denken dieser Eröffnungsvorlesung machen eine lineare, am Zuhören orientierte Lektüre nötig – und genau so liest sich das auch. Für Pjatigorskij besitzt die Philosophie selbst keine eigene Sprache, er hält sie für eine „populäre Fiktion“
Über diverse Wortumbildungen oder Wortneuschöpfungen hinweg arbeitet sich der Text an ein vorläufiges Konzept der Beobachtung heran. Das mutet manchmal sehr heideggerianisch an, aber Stil und Schein trügen. Jörg Silbermann stimmt die Begrifflichkeit – sofern sie in Pjatigorskijs Original eben als zitierte auffindbar ist – genau mit dem sprachphilosophischen, phänomenologischen und systemtheoretischen Vokabular der westeuropäischen Philosophen ab. So gelingt es, den Pjatigorskij eigenen Ton herauszufiltern und seinen synthetisierenden Ansatz zu erhalten. Lesenswert ist das, aber nicht leicht lesbar.
Aleksandr Pjatigorskij: Denken und Beobachtung. Vier Vorlesungen über eine Philosophie des Beobachters. Vorlesung I. Aus dem Russischen von Jörg Silbermann.
In: Beobachter – Plurale. Zeitschrift für Denkversionen 6 (2006)
Siehe www.plurale-zeitschriftfuerdenkversionen.de
Pjatigorskij, Aleksandr: Myšlenie i nabljudenie. Četyre lekcii po observacionnoj filosofii. Riga 2004.
http://yanko.lib.ru/books/philosoph/pyatigorskiy=mushlenie_i_nabludenie-ann.htm
Pjatigorski, Alexander: Philosophie einer Gasse. Aus dem Russischen von Erich Klein. Wespennest, Wien 1997.
Pjatigorskij, Alexander: Erinnerung an einen fremden Mann. Aus dem Russischen von Erich Klein. Folio, Wien 2001.