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Serhij Žadan. Die Erfindung des Jazz im Donbass

Posted on 26. März 2013 by Philomena Grassl
Serhij Žadan, der 1974 geborene junge Star der ukrainischen Gegenwartsliteratur, reist in seinem neuen Roman in seine Geburtsstadt im äußersten Osten der Ukraine. Dort lässt er liebevoll skurrile Gestalten auftreten: Verklemmte Mafiosi, Schmuggler, Luftfahrt-Fanatiker, freikirchliche Priester und EU-Missionare, die sich in der Weite der Steppe zwischen Maisfeldern, verlassenen Flugplätzen und ins Nichts führenden Bahngleisen territoriale Gefechte liefern.

Serhij Žadan, der 1974 geborene junge Star der ukrainischen Gegenwartsliteratur, reist in seinem neuen Roman in seine Geburtsstadt im äußersten Osten der Ukraine. Dort lässt er liebevoll skurrile Gestalten auftreten: Verklemmte Mafiosi, Schmuggler, Luftfahrt-Fanatiker, freikirchliche Priester und EU-Missionare, die sich in der Weite der Steppe zwischen Maisfeldern, verlassenen Flugplätzen und ins Nichts führenden Bahngleisen territoriale Gefechte liefern.Der Protagonist Hermann hat Geschichte studiert und trägt auf seiner Visitenkarte den Titel „Unabhängiger Experte“. Er lebt in Charkiv vor sich hin, sein Job beinhaltet Geldwäsche in Jugendorganisationen und Verteidigung der demokratischen Wahl in Talkshows. Eines Nachts kommt ein Anruf aus der Heimatstadt: Sein Bruder, der eine Tankstelle außerhalb der Stadt besitzt, sei plötzlich abgehauen. Jemand muss an seiner statt die Geschäfte regeln. So macht sich Hermann auf zu der heruntergekommenen Tankstelle mit ihren gezeichneten Mitarbeitern – und wird Bisnesmen in der Provinz. Er kommt dabei schnell mit den örtlichen Oligarchen in Konflikt, die die „Möglichkeiten des Kapitals“ nutzen und hier, direkt an der russischen Grenze, alles aufkaufen – wenn es sein muss mit Gewalt.
Ort des Geschehens ist die Gegend um die Stadt Luhansk, die allerdings im Roman gar nicht benannt wird, nur der Originaltitel Vorošilovgrad gibt uns den Hinweis: Zu Sowjetzeiten war die Stadt nach dem Parteifunktionär Kliment Vorošilov benannt. Ab 1935 hieß sie Vorošilovgrad, 1958 wurde sie wieder zu Luhansk, 1970 erneut zu Vorošilovgrad und 1992 wieder zu Luhansk.
Vorošilovgrad, das ist ein Nicht-Ort, ein Niemandsland an der ex-sowjetischen Peripherie, gezeichnet durch Abwanderung und Vertreibung. Hier gibt es keine Ordnung, um die Macht wird immer wieder aufs Neue gekämpft –  scheinbar jeder gegen jeden. Hier herrscht permanenter Krieg um Einflusszonen: „Kapitalismus halt“.
Die Einheimischen aber legen eine erstaunliche Beharrlichkeit zutage, wenn es darum geht, diesen seltsamen Ort vor den Standort-gierigen Oligarchen zu verteidigen, und sich nicht vertreiben zu lassen. Und dabei halten sie zusammen, die Menschen aus Hermanns Jugend: Schon fast vergessene Freunde und Bekannte, Roma-Klans und schöne, draufgängerische Frauen. Sie erinnern Hermann an Ereignisse in seiner Jugend, und durch das Aufleben der verdrängten Vergangenheit entsteht für ihn wieder eine Verbindung zu diesem Ort, vor dem er einst geflüchtet war: „Wenn du dich erinnerst, wirst du nicht so einfach wieder wegfahren können.“
Die Zäsuren in der Geschichte der Region werden in Žadans Roman zu Zäsuren in der eigenen Erinnerung. Geschichtliche Traumata verursachen auch im privaten Leben Gedächtnisverlust. Žadan setzt dieses Vermischen von persönlicher Vergangenheit mit der Geschichte des Ortes in den surrealen Tagträumen des Protagonisten mythopoetisch um. Er lässt plötzlich geisterhafte Gestalten auftauchen, die Gegenwart vermischt sich mit der Vergangenheit und die Zeit- und Realitätsebenen werden aufgehoben: Ein Fußballmatch mit alten Kumpels, deren Namen Tage darauf auf Grabsteinen am Friedhof wiederentdeckt werden. Plötzlich ziehen die Geister von archaischen Steppennomaden in großen Karawanen vorbei, und auf dem verlassenen Flugplatz sammeln sich alle Piloten, die hier jemals starteten und landeten. So wird in der Erzählung neben Žadans typischen absurden Situationen eine schaurige Spannung erzeugt. Leider entlädt sich diese aber nicht auf befriedigende Art. Durch die kollagenhafte Anordnung der Szenen und Ereignisse fällt die Handlung zu sehr auseinander, um einen Spannungsbogen zu halten, bisweilen wünscht man sich  einen strafferen Erzählstrang.
Das wilde Durcheinander und die anarchistische Erzählweise Žadans funktionieren wiederum gut auf der Ebene der Sprache, mit zahlreichen intertextuellen Bezügen, wie etwa in den den Text durchziehenden Predigten und Hymnen: "Lebe, Romanistan, wunderbar und frei, ohne den verderblichen Einfluss transnationaler Firmen, sare manuschende kokale parne, rat loly. Frei unter Freien, gleich unter Gleichen, anerkannt von der Weltgemeinschaft und einer Sonderkommission der OSZE für Fragen des geistigen und kulturellen Erbes der kleinen Völker Europas, der Herr hält dich in seinen Armen, höre auf das Vibrieren seines heißen Herzens!"
In diesen magischen Reden vermittelt der Autor einen gewissen postsowjetischen Geisteszustand: Mit der für die offizielle Sowjetrhetorik typischen formelhaften Sprache zeigt er den Kontrast aus alten Symbolen und neuen Bedeutungen in seiner vollen Ironie. Gerade wenn es um Religion geht, wird die ideologische Verwirrung am deutlichsten spürbar: „Wo Business ist, da ist auch Glaube.“
In seinen Predigten schreckt Žadan gegen Ende des Romans auch nicht davor zurück, zu moralisieren. Seine magischen Worte lauten „Dankbarkeit und Verantwortung“. Diese Dankbarkeit kann als eine Liebeserklärung an die Heimatregion gelesen werden, die Verantwortung als Kampfansage zu deren Verteidigung. Die Zukunft, die einem scheinbar verwehrt wird, muss man sich einfach selbst zurückholen. So bewahrt Hermann in seinem Kampf gegen das volatile Kapital den alten Flugplatz vor dem Abriss, denn den Traum vom Fliegen, der immer schon für Fortschrittsoptimismus stand, lässt er sich nicht nehmen: „Ohne Flugzeuge kann es keine Demokratie geben. Flugzeuge sind die Grundlage der Zivilgesellschaft.“

 

Serhij Žadan zeigt uns eine Gegend jenseits von Mitteleuropa, und kombiniert dabei postsowjetische Ruinen-Romantik mit amerikanischer Wild-West-Atmosphäre. Auf den Jazz, den der deutsche Titel verspricht, wartet man allerdings fast bis zum Schluss, und selbst hier nimmt er  nur eine marginale Rolle ein. Und doch ist der Roman vielleicht in seiner Erzählweise insgesamt jazziger als die Vorgänger: Žadan schreibt jetzt nicht mehr Punk, sondern Free-Jazz.

Serhij Žadan. Die Erfindung des Jazz im Donbass - novinki
Redak­tion „novinki“

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Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
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Serhij Žadan. Die Erfin­dung des Jazz im Donbass

Serhij Žadan, der 1974 gebo­rene junge Star der ukrai­ni­schen Gegen­warts­li­te­ratur, reist in seinem neuen Roman in seine Geburts­stadt im äußersten Osten der Ukraine. Dort lässt er lie­be­voll skur­rile Gestalten auf­treten: Ver­klemmte Mafiosi, Schmuggler, Luft­fahrt-Fana­tiker, frei­kirch­liche Priester und EU-Mis­sio­nare, die sich in der Weite der Steppe zwi­schen Mais­fel­dern, ver­las­senen Flug­plätzen und ins Nichts füh­renden Bahn­gleisen ter­ri­to­riale Gefechte liefern.Der Prot­ago­nist Her­mann hat Geschichte stu­diert und trägt auf seiner Visi­ten­karte den Titel „Unab­hän­giger Experte“. Er lebt in Charkiv vor sich hin, sein Job beinhaltet Geld­wä­sche in Jugend­or­ga­ni­sa­tionen und Ver­tei­di­gung der demo­kra­ti­schen Wahl in Talk­shows. Eines Nachts kommt ein Anruf aus der Hei­mat­stadt: Sein Bruder, der eine Tank­stelle außer­halb der Stadt besitzt, sei plötz­lich abge­hauen. Jemand muss an seiner statt die Geschäfte regeln. So macht sich Her­mann auf zu der her­un­ter­ge­kom­menen Tank­stelle mit ihren gezeich­neten Mit­ar­bei­tern – und wird Bis­nesmen in der Pro­vinz. Er kommt dabei schnell mit den ört­li­chen Olig­ar­chen in Kon­flikt, die die „Mög­lich­keiten des Kapi­tals“ nutzen und hier, direkt an der rus­si­schen Grenze, alles auf­kaufen – wenn es sein muss mit Gewalt.
Ort des Gesche­hens ist die Gegend um die Stadt Luhansk, die aller­dings im Roman gar nicht benannt wird, nur der Ori­gi­nal­titel Vorošil­ov­grad gibt uns den Hin­weis: Zu Sowjet­zeiten war die Stadt nach dem Par­tei­funk­tionär Kli­ment Vor­ošilov benannt. Ab 1935 hieß sie Vor­oši­l­ov­grad, 1958 wurde sie wieder zu Luhansk, 1970 erneut zu Vor­oši­l­ov­grad und 1992 wieder zu Luhansk.
Vor­oši­l­ov­grad, das ist ein Nicht-Ort, ein Nie­mands­land an der ex-sowje­ti­schen Peri­pherie, gezeichnet durch Abwan­de­rung und Ver­trei­bung. Hier gibt es keine Ord­nung, um die Macht wird immer wieder aufs Neue gekämpft –  scheinbar jeder gegen jeden. Hier herrscht per­ma­nenter Krieg um Ein­fluss­zonen: „Kapi­ta­lismus halt“.
Die Ein­hei­mi­schen aber legen eine erstaun­liche Beharr­lich­keit zutage, wenn es darum geht, diesen selt­samen Ort vor den Standort-gie­rigen Olig­ar­chen zu ver­tei­digen, und sich nicht ver­treiben zu lassen. Und dabei halten sie zusammen, die Men­schen aus Her­manns Jugend: Schon fast ver­ges­sene Freunde und Bekannte, Roma-Klans und schöne, drauf­gän­ge­ri­sche Frauen. Sie erin­nern Her­mann an Ereig­nisse in seiner Jugend, und durch das Auf­leben der ver­drängten Ver­gan­gen­heit ent­steht für ihn wieder eine Ver­bin­dung zu diesem Ort, vor dem er einst geflüchtet war: „Wenn du dich erin­nerst, wirst du nicht so ein­fach wieder weg­fahren können.“
Die Zäsuren in der Geschichte der Region werden in Žadans Roman zu Zäsuren in der eigenen Erin­ne­rung. Geschicht­liche Trau­mata ver­ur­sa­chen auch im pri­vaten Leben Gedächt­nis­ver­lust. Žadan setzt dieses Ver­mi­schen von per­sön­li­cher Ver­gan­gen­heit mit der Geschichte des Ortes in den sur­realen Tag­träumen des Prot­ago­nisten mytho­poe­tisch um. Er lässt plötz­lich geis­ter­hafte Gestalten auf­tau­chen, die Gegen­wart ver­mischt sich mit der Ver­gan­gen­heit und die Zeit- und Rea­li­täts­ebenen werden auf­ge­hoben: Ein Fuß­ball­match mit alten Kum­pels, deren Namen Tage darauf auf Grab­steinen am Friedhof wie­der­ent­deckt werden. Plötz­lich ziehen die Geister von archai­schen Step­pen­no­maden in großen Kara­wanen vorbei, und auf dem ver­las­senen Flug­platz sam­meln sich alle Piloten, die hier jemals star­teten und lan­deten. So wird in der Erzäh­lung neben Žadans typi­schen absurden Situa­tionen eine schau­rige Span­nung erzeugt. Leider ent­lädt sich diese aber nicht auf befrie­di­gende Art. Durch die kol­la­gen­hafte Anord­nung der Szenen und Ereig­nisse fällt die Hand­lung zu sehr aus­ein­ander, um einen Span­nungs­bogen zu halten, bis­weilen wünscht man sich  einen straf­feren Erzählstrang.
Das wilde Durch­ein­ander und die anar­chis­ti­sche Erzähl­weise Žadans funk­tio­nieren wie­derum gut auf der Ebene der Sprache, mit zahl­rei­chen inter­tex­tu­ellen Bezügen, wie etwa in den den Text durch­zie­henden Pre­digten und Hymnen: “Lebe, Roma­ni­stan, wun­derbar und frei, ohne den ver­derb­li­chen Ein­fluss trans­na­tio­naler Firmen, sare manu­schende kokale parne, rat loly. Frei unter Freien, gleich unter Glei­chen, aner­kannt von der Welt­ge­mein­schaft und einer Son­der­kom­mis­sion der OSZE für Fragen des geis­tigen und kul­tu­rellen Erbes der kleinen Völker Europas, der Herr hält dich in seinen Armen, höre auf das Vibrieren seines heißen Herzens!”
In diesen magi­schen Reden ver­mit­telt der Autor einen gewissen post­so­wje­ti­schen Geis­tes­zu­stand: Mit der für die offi­zi­elle Sowjet­rhe­torik typi­schen for­mel­haften Sprache zeigt er den Kon­trast aus alten Sym­bolen und neuen Bedeu­tungen in seiner vollen Ironie. Gerade wenn es um Reli­gion geht, wird die ideo­lo­gi­sche Ver­wir­rung am deut­lichsten spürbar: „Wo Busi­ness ist, da ist auch Glaube.“
In seinen Pre­digten schreckt Žadan gegen Ende des Romans auch nicht davor zurück, zu mora­li­sieren. Seine magi­schen Worte lauten „Dank­bar­keit und Ver­ant­wor­tung“. Diese Dank­bar­keit kann als eine Lie­bes­er­klä­rung an die Hei­mat­re­gion gelesen werden, die Ver­ant­wor­tung als Kampf­an­sage zu deren Ver­tei­di­gung. Die Zukunft, die einem scheinbar ver­wehrt wird, muss man sich ein­fach selbst zurück­holen. So bewahrt Her­mann in seinem Kampf gegen das vola­tile Kapital den alten Flug­platz vor dem Abriss, denn den Traum vom Fliegen, der immer schon für Fort­schritts­op­ti­mismus stand, lässt er sich nicht nehmen: „Ohne Flug­zeuge kann es keine Demo­kratie geben. Flug­zeuge sind die Grund­lage der Zivilgesellschaft.“

 

Serhij Žadan zeigt uns eine Gegend jen­seits von Mit­tel­eu­ropa, und kom­bi­niert dabei post­so­wje­ti­sche Ruinen-Romantik mit ame­ri­ka­ni­scher Wild-West-Atmo­sphäre. Auf den Jazz, den der deut­sche Titel ver­spricht, wartet man aller­dings fast bis zum Schluss, und selbst hier nimmt er  nur eine mar­gi­nale Rolle ein. Und doch ist der Roman viel­leicht in seiner Erzähl­weise ins­ge­samt jaz­ziger als die Vor­gänger: Žadan schreibt jetzt nicht mehr Punk, son­dern Free-Jazz.