Käfer jagen, Kirschen pflücken, Kleber schnüffeln: In ihrer autobiographischen Prosa „Guguły“ kehrt die polnische Autorin Wioletta Grzegorzewska zu ihrer Kindheit auf dem Lande zurück und erschafft daraus einen Kosmos voller Wunder.
Die junge Wiolka lebt im kleinen Dorf Hektary. Hier erlebt sie ihre Kindheit und Jugend, abgeschieden vom wilden städtischen Leben. Sie lauscht den seltsamen Gesprächen der Erwachsenen und erschafft sich eine eigene Welt voll komischer Absurditäten. Sie nimmt den Leser mit in ihren Kopf, durch den Bilder, Träume und Mythen rauschen, in dem Borkenkäfer mit Mohnsamen Völkerball spielen und in dem man bloß keine Spinne töten darf, weil dies ein Gewitter auslöst. Der Leser streunt mit Wiolka durch die weiten Landschaften der Krakau-Tschenstochauer Jura, klettert auf Bäume, erklimmt furchtlos Steinbrüche, jagt Maikäfer, lacht, verliebt sich und trauert mit ihr.
Wioletta Grzegorzewska erzählt in kurzen, episodenhaften Geschichten von ihrer eigenen Kindheit und Jugend auf dem Lande. Die erwachsene Wiolka lebt auf der Insel Wight im Örtchen Ryde. Aufgewachsen in einem kleinen Dorf in Schlesien, lebte und studierte sie in Tschenstochau, bevor sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn nach England zog. Die Lektüre von Guguły lässt Nostalgie aufkommen, besonders in jenen Lesestuben, deren Bewohner ihre Kindheit in der Volksrepublik verbracht haben, und für die ein Gemisch aus rohem Eigelb, Zucker und Kakao der kulinarische Himmel war. Wir tauchen ein in den kuriosen Dorfalltag im damaligen Polen. Wir erfahren nicht viel über die einstige Politik, denn schließlich erzählt zu Beginn eine junge Wiolka, die nicht alles versteht, was um sie herum passiert: Warum ihr Opa, ein Spezialist für beide Weltkriege, sich in Höhlen versteckte. Welche verbotenen Lieder ihr Vater auf Grashalmen pfiff und weshalb eine Schulfreundin ihrer Mutter mit Verwandten in Amerika Ende der sechziger Jahre plötzlich verschwand. Aber wir erfahren, wie wichtig den Dorfbewohnern der Glaube ist, als sie tagelang ihre Häuser von Spinnweben befreien, die Kammern ausräuchern, um Fliegen zu vertreiben, und die Kühe anbinden. Und das alles, weil eine Prozession mit einem Bild der heiligen Mutter Gottes durchs Dorf ziehen soll.
Wiolkas Familie und die Gestalten aus der Nachbarschaft werden von Grzegorzewska mit all ihren Macken aufmerksam beschrieben. Der atheistische, parteitreue Vater präpariert tote Tiere aus dem Wald auf dem heimischen Küchentisch und dreht aus Protest gegen religiöse Versammlungen im Haus das Licht ab. Die schlagfertige Oma tauscht mit ihren Altersgenossinnen beim Federrupfen Klatsch und Tratsch aus. Die Dorfschneiderin macht in ihrem geheimen Zimmer seltsame Dinge mit einer Puppe. Ihre Mutter ist abergläubisch und fürchtet sich vor Gewittern. Wiolka schlüpft dann mit ihr unter die Bettdecke. Sie hört die Lieder ihres Vaters, pflückt Kirschen und Mohn mit der Oma, sammelt Zündholzetiketten, nimmt an Malwettbewerben teil und schnüffelt Kleber mit dem Nachbarsjungen. Das kleine Dorf Hektary bietet genügend Erzählstoff und Grzegorzewska macht aus ihm große Geschichten. Es ist, als säße sie am Esstisch und erzählte von früher, in den Ohren das Summen der Fliegen und in der Nase der Geruch von getrocknetem Heu.
Nach Notatnik z Wyspy (2012, Notizen aus der Insel) ist Guguły Grzegorzewskas zweites Buch mit Erzählungen. Zuvor debütierte sie als Dichterin. Guguły wurde jüngst am Theater in der nordöstlichen polnischen Stadt Białystok inszeniert. Die mehrmals ausgezeichnete Autorin liest oft auf Literaturfestivals aus ihren Texten. Auf ihrem Blog, benannt wie eines ihrer Bücher, Pamięć Smieny, schreibt sie weiter über das Leben. Neben kurzen Anekdoten aus dem Alltag finden sich hier auch Auszüge aus ihren Werken, Gedanken und Erinnerungen. Oft schweben Wolken voller Melancholie über ihren Erzählungen. Sie vertreiben plötzlich die Fröhlichkeit und man könnte meinen, Heimweh und die Sehnsucht nach früheren Zeiten machen sich bei Grzegorzewska breit. Auch Guguły ist nicht immer heiter. Es ist ein Buch vom Kindsein und Erwachsenwerden. Guguły – das sind im Dialekt unreife Früchte. Sie wachsen an Bäumen. Könnte man sie nur essen und für immer Kind bleiben. Doch sie machen nur Bauchschmerzen. So wie das Leben, wenn man beginnt, es zu verstehen. Von Seite zu Seite, Episode zu Episode reift der Leser mit Wiolka. Wo er anfangs noch unbeschwert über ihre kindlichen Spinnereien lachte, beschreitet er mit ihr den Trampelpfad des Erwachsenwerdens, überwindet Schmerz, erfährt Liebe. Um am Ende festzustellen, dass er noch nicht bereit ist für das Leben. Im Innern bleiben wir guguły.
Grzegorzewska, Wioletta: Guguły. Wołowiec: Czarne, 2014.
Weiterführende Literatur und Links:
Grzegorzewska, Wioletta: Pamięć Smieny/Smena´s Memory. London 2011.
Blog von Wioletta Grzegorzewska: Pamięć Śmieny.
Inszenierung von Guguły am Teatr Dramatyczny in Białystok.
Video vom Camarade Poetry Festival 2013 (Vortrag in polnischer Sprache mit englischer Übersetzung).