Politische Mächte kommen und gehen, aber die Menschen bleiben (oder auch nicht). In seinem nun auch auf Deutsch erschienenen Roman Balkanschönheit oder Schlemihls Bastard erzählt László Végel eine Geschichte von Menschen, denen als Heimat nur ihr Handwerk bleibt. Ein Thema, das auch die Schreib-Biografie des Autors prägt.
„Die Heimat ist immer da, wo man sein Werkzeug aufbewahrt.“ Mit diesem Satz hatte Großvater Johann Schlemihl seinem Enkel einst erklärt, warum er nach dem Ende des Ersten Weltkriegs nicht die Chance ergriff, mit seiner Frau und dem Handwerksmeister Egon Schwarz nach Wien zu gehen: Man könne das Werkzeug nicht einfach mitnehmen, „weil man immer etwas vergisst“.
Die Handlung des Romans Balkanschönheit oder Schlemihls Bastard von László Végel (in deutscher Übersetzung von Christina Kunze 2023 bei Wieser erschienen) spielt in der Vojvodina, vermutlich in der nie explizit genannten Stadt Novi Sad. Die vielen Machtwechsel, von denen diese Region Europas im Laufe des 20. Jahrhunderts betroffen war, sind der Grund, warum Johann Schlemihl seine Heimat einzig und allein in der Werkstatt verorten kann, die ihm sein Meister überlassen hat.
1918 fand sich der junge Handwerker gemeinsam mit seiner Tochter Hilde plötzlich in einem neuen, ihm fremden Staat wieder. Doch im Unterschied zu seinem Meister hatte Johann Schlemihl, der trotz des deutschen Namens in seiner Taufurkunde auf der Straße János genannt wurde, keinen Ort, an den er gehen konnte. Und somit ist es vor allem eine Geschichte von Heimatlosigkeit und Ausgrenzung, die in Balkanschönheit oder Schlemihls Bastard erzählt wird.
Vom Geschick und Glück der Heimatlosen
László Végel gelingt es, ein Bild von Großvater und Enkel Schlemihl als Vertreter*innen nationaler Minderheiten in der Vojvodina zu zeichnen, ohne in einseitig klischeehafte Stereotypen zu verfallen. Die beiden Protagonisten sind von Ausgrenzung und Unterdrückung betroffen, in dem sie von den jeweiligen Machthabern für ihre Zwecke instrumentalisiert werden. Mit Geschick und ein wenig Glück gelingt es ihnen jedoch, sich mit den neuen (Macht-)Verhältnissen erfolgreich zu arrangieren.
Als Geliebte eines Hauptmannes kommt mit den Soldaten und Offizieren der serbischen Armee auch die titelgebende „Balkanschönheit“ Ivana in die Stadt. Ivana hatte während des Ersten Weltkriegs in der Belgrader Bar Mažestik gearbeitet und dort die Herzen der Herren mit ihrer Schönheit und ihrem Tanz gewonnen. Ihr Traum jedoch war es, wieder nach Wien zurückzukehren – in jene Stadt, in der sie bis zur Ermordung Franz Ferdinands im Sommer 1914 erfolgreich als Aktmodell tätig gewesen war. Johann Schlemihl gewinnt ihre Sympathie, indem er ihr das Fahrradfahren beibringt. „Sei so gut und sag mir, kann ich auch mit diesem Fahrrad bis nach Wien kommen?“, fragte sie den jungen Handwerker. Im Gegenzug verschafft Ivana Johann eine Stelle im Rathaus. Dort stellt Jovan Šlemil, wie er fortan häufiger genannt wird, sein Geschick nicht nur bei Reparaturen unter Beweis, sondern auch darin, sich den neuen Machthabern mit frischem Burek und Erdbeer-Pálinka gefällig zu erweisen. Somit erweist er sich zwar als heimatlos, aber den Zeitläufen keineswegs hilflos ausgeliefert.
László Végel selbst ist serbisch-ungarischer Schriftsteller: 1941 noch im Königreich Jugoslawien geboren, wurde Végel selbst zum Zeugen der politischen Umbrüche, die die Vojvodina und Novi Sad bis zum Ende des Jahrhunderts erleben sollten. Die von Maria Theresia als Neoplanta (Neusatz, Novi Sad, Újvidék) gegründete und bis heute stark habsburgisch geprägte Stadt, der Végel verschiedene Texte gewidmet hat (Novi Sad. Eine Stadt am Rande Europas. 2009; Neoplanta oder das gelobte Land. 2022), gehörte im Laufe ihrer jüngeren Geschichte zum Königreich Jugoslawien, zur unabhängigen Provinz Vojvodina im sozialistischen Jugoslawien und inzwischen zu Serbien. Auch heute noch wird sie von Serb*innen, Ungar*innen, Slowak*innen, Kroat*innen, Rom*nja und weiteren Volksgruppen bewohnt, während die im Roman erwähnten Deutschen ab 1944 zumeist vertrieben wurden.

László Végel auf dem Podium der Buch Wien, 23. November 2024. Foto: Markus Garschall.
Die kulturelle Vielfalt sowie die wechselhafte Geschichte seiner Heimat prägten das literarische und publizistische Werk Végels entscheidend. Wie er selbst im novinki-Interview 2007 beschreibt, ist László Végel dabei Teil einer Generation, deren Welt untergegangen ist. Ähnlich wie andere serbische Intellektuelle, beklagt er, wie provinziell und uninteressant einst vielstimmige Städte wie Novi Sad nach dem Ende des sozialistischen Jugoslawien geworden seien. Anstatt ein Bewusstsein für den eigenen Grenzstatus in Europa zu entwickeln, dominiert in Serbien heute „ein Nationalismus, der so tut, als gäbe es eine Einheitskultur“. Die Vielheit sei umgezogen, und zwar von der östlichen Provinz in die westlichen Metropolen. Und so ist auch für László Végel einzig sein Handwerkszeug, in seinem Fall die Sprache, als Heimat übriggeblieben.
Nicht nur die Fähigkeit, allerlei Dinge geschickt zu reparieren, hatte die Figur Johann Schlemihl einst vom Meister Egon Schwarz gelernt. Auch wie man kunstvolle Wappen schmiedet, lehrte ihm der Meister mit dem Hinweis: „Du kannst ein richtiger Wappenkünstler werden, aber Du musst damit rechnen, dass diese Arbeit keine Lebensversicherung ist“. Mit dieser Feststellung sollte er jedoch nicht recht behalten. Noch bevor das letzte königlich-serbische Wappen ausgeliefert ist, erhält Johann nach der Machtübernahme durch Miklós Horthy auch schon die ersten Aufträge, wieder ungarische Wappen anzufertigen. Und es sollte keineswegs das letzte Mal sein, dass er das Motiv der Wappen ändern darf.
Trotz allen Geschicks sind es aber vor allem unerfüllte Träume und beschämende Kompromisse, die das Leben von Großvater Schlemihl prägen. Der Wunsch, seiner Tochter eine Stelle in der Post zu verschaffen, erfüllt sich in der Zwischenkriegszeit genauso wenig, wie unter den faschistischen Machthabern. Als auch die Kommunisten für die Stelle des Postfräuleins eine andere Frau auswählen, bezeichnet Johann Schlemihl Stalin als Betrüger und kommt ins Gefängnis. Und wäre dies nicht schon schlimm genug, wird seine Tochter zum Opfer sexuellen Missbrauchs durch einen serbischen Kommissar. Müde vom ewigen Kampf gegen die Entfremdung und Diskriminierung seiner Familie, flieht er in seinen letzten Lebensjahren – zuerst stotternd, dann gänzlich sprachlos – in die Stille seines Rollstuhls.
Migration und der Verlust kultureller Vielfalt in der Peripherie
In László Végels Roman wird nicht nur vom Kampf einfacher Menschen gegen die Kräfte der Geschichte erzählt. Es ist auch eine Geschichte über die Migration von Menschen. So wie einst der Großvater, steht auch der Ich-Erzähler des Romans, der Enkel, nach dem Zerfall Jugoslawiens vor der Entscheidung, zu bleiben oder zu gehen. Um dem Schicksal der Sprachlosigkeit seines Großvaters zu entgehen, sucht er immer wieder nach Menschen, denen er die Geschichte seiner Familie erzählen kann. Als personaler, mit dem Wissen beider Generationen ausgestatteter Erzähler fragt sich der Enkel: Soll er anders als einst sein Großvater den Schritt nach Deutschland wagen und mit seiner Frau sein Glück mit dem Verkauf von Palatschinken versuchen? „Wir könnten ein paar deutsche Wappen an die Kioskwände hängen“, schlägt er der skeptisch bleibenden Renáta vor: „Ihrer Meinung nach mochten die Deutschen Palatschinken lieber als Wappen”.
Es sind nicht zuletzt auch pointierte Gegenüberstellungen wie diese, die bei der Lektüre von Balkanschönheit oder Schlemihls Bastard über teils überkommene Vorstellungen von Migration und Gender hinwegsehen lassen. Gerade für Menschen mit familiären Wurzeln im ehemaligen Jugoslawien stellt sich heute oft nicht mehr die Frage nach einem Bleiben oder Gehen, wie auch nicht die Frage nach Assimilation oder Rückkehr. Vielmehr sind es die Herausforderungen und Chancen transnationaler Lebensstile, die die Biografien der Menschen prägen. Und so mag sich manch eine Leser*in im Jahr 2025 auch fragen, wie das Leben der Familie Schlemihl wohl in der nächsten Generation weitergegangen sein mag, und ob den Frauen der Familie inzwischen eine andere Rolle zukommt als die einer ‚Balkanschönheit‘.
In Zeiten der aktuellen globalen Krisen illustriert Balkanschönheit oder Schlemihls Bastard eindrucksvoll, wie sehr das individuelle Schicksal vom Ort und dem sozialen Umfeld bestimmt sind, in das ein Mensch hineingeboren wird. Wie damals ist es auch heute für viele schwierig, mit dem Wandel Schritt zu halten, der um sie herum stattfindet und die persönlichen Folgen politischer Umbrüche abzufangen.
Buchcover des besprochenen Romans.
Quelle: wieser-verlag.com
Literaturverzeichnis:
Végel, László: Balkanschönheit oder Schlemihls Bastard. Aus dem Ungarischen von Christina Kunze. Klagenfurt/Celovec 2023.
Végel, László: Novi Sad. Eine Stadt am Rande Europas. Aus dem Ungarischen von Laszlo Kornitzer. Frankfurt am Main 2009.
Végel, László: Neoplanta oder das gelobte Land. Aus dem Ungarischen von Christina Kunze. Klagenfurt/Celovec 2022.