Die Melancholie des Unausweichlichen

Mit dem Blick eines stillen Beobachters beschreibt Andrzej Stasiuk, mal nüchtern-existentialistisch, mal zärtlich-nostalgisch, den Antritt der letzten aller Reisen.

 

Kurzes Buch über das Sterben heißt Stasiuks zuletzt erschienener Kurzgeschichtenband. Das zierliche, weiße Büchlein enthält vier autobiographische Erzählungen: Erinnerungen und Rückblicke an Dagewesenes, an Vergangenes, an Gesagtes und Verschwiegenes. Es ist ein sehr persönliches Werk. Denn erst der Umgang mit dem Tod, dem Absoluten, legt die philosophischen Grundfesten eines Menschen frei. Man merkt es nicht gleich, doch die distanzierte Erzählweise trügt. Es schimmert stets die blanke Ohnmacht eines Wartenden durch. Der Erzähler entblößt sich vor uns und gibt seine intimsten Gedanken preis. Gedanken, die nur selten ausgesprochen werden. Aus Angst, aus Scham, aus tiefster Verunsicherung. Gedanken, die man für sich behält: „Jetzt sehe ich, wie schwer es ist, diese Erfahrung zu beschreiben – das Gefühl von schrecklicher Fremdheit und zugleich Nähe.“

 

Von einer anderen Welt, einem anderen Sterben

Die erste Erzählung ist Stasiuks Großmutter gewidmet, einer vor langer Zeit in der polnischen Provinz verstorbenen Greisin, die noch an Geister glaubte.  In den Erinnerungen des Erzählers vermischt sich die besondere Wahrnehmung eines Kindes, eine phantasievolle, symbolbeladene Mystik, mit der existentialistischen Abgeklärtheit eines Erwachsenen. Die Geschichten von den Geistern, die so natürlich zum Leben der Dorffrauen gehörten und dem ländlichen Aberglauben dienten, lehrten den Erzähler zum ersten Mal die „Dominanz des Symbols über die Wirklichkeit“ und er verstand „die Wahrheit, dass der Mensch dem Tod, der Verdammung und dem Zufall näher ist als der Erlösung“. Im mystisch umwobenen Leben seiner Großmutter hat diese Erkenntnis ihre Verkörperung gefunden.

 

Über Augustyn und Die Hündin und den Umgang mit dem Tod

Das Tier leidet. Es hat seine Sinneskräfte verloren. Es frisst und scheidet aus. Es hat keinen Wert mehr, keinen Nutzen: „Eine Spritze und fertig. Das könnte ich sogar selbst machen. Wenn es sein musste, habe ich früher Schafe und Ziegen geschlachtet.“ Der Verlust jeglicher Kommunikationsfähigkeit, der Verlust von Sinnes- und Leibeskräften, der fortschreitende Zerfall, verwandelt ein Lebewesen in ein Sterbewesen. Stasiuk sinniert: „Unsere Zivilisation ist seltsam. Sie rettet, bewahrt, verlängert  uns das Leben. Und zugleich macht sie uns dem Tod gegenüber hilflos. Wir wissen nicht, wie wir uns ihm gegenüber verhalten sollen.“ Und auch wenn der Fortschritt es uns erlaubt, länger zu leben. Die Alten und Kranken liegen in den Krankenhäusern, vegetieren vor sich hin. Krankenpfleger werden zu Todesbegleitern: „Wir bezahlen sie dafür, dass sie das Sterben begleiten. Letzten Endes bezahlen wir sie dafür, dass sie in gewisser Weise für uns sterben. Denn wenn wir am Tod anderer Menschen, am Tod Angehöriger teilnehmen, sterben wir selbst ein bisschen, werden selbst ein bisschen sterblicher.“

Was bedeutet der Wert des Lebens? Eines Lebens? Was ist Moral? Wie geht man damit um? Hat der Mensch es verlernt, das Sterben? Stasiuk gibt sich Gedankenspielen hin, wie es nun mal so ist, wenn man nicht weiter weiß. Die Gedanken strömen dann in alle erdenklichen Richtungen. Begräbnisrituale, Hochhäuser, früher, heute, Stadt, Land, morgen… „Aber mir scheint, auch die in Zukunft zu erfindende Unsterblichkeit wird nur eine ins Unendliche verlängerte Einsamkeit sein. Denn worüber wird so ein Unsterblicher reden mit einem Sterblichen, der sich die Unsterblichkeit nicht leisten kann?“

Man legt das Buch unweigerlich zur Seite. Man gleitet ab, erinnert sich. Man gibt sich den Gedanken des Erzählers hin. Unausweichlich wird es persönlich, intim. Auf einmal sind es die eigenen Gedanken und Gefühle, die in einem erzählen.

Dieses Buch braucht Zeit. Die kleine Form hat den Vorteil, dass man das Buch jederzeit bei sich tragen kann. Denn es lässt einen nicht los und man will weiterlesen.

Stiche in Kopf, Brust und Seele. Augustyn war ein Schriftstellerkollege. Ein alter Mann mit einem schönen Stil. Er erlitt einen Schlaganfall und wurde erst spät gefunden. Man brachte ihn in ein Krankenhaus. Dann in ein anderes. Dann ins Sanatorium. Orte der Unterordnung. Die durch Krankheit erzwungene Unmündigkeit raubt dem Menschen die Würde. Man kommt zu Besuch und dann sitzt man da. Und man weiß nicht, was man sagen soll oder tun soll. Wie man ihn anfassen soll. Wie man damit umgehen soll. Man versucht die Gegenwart mit der Vergangenheit aufzufüllen. Weißt du noch? Und dann die beschämende Erleichterung beim Verlassen des Krankenhauses. „Fünf, sechs, sieben Begegnungen im Leben. Hinterher ist es immer zu wenig. Hinterher merkt man, dass man sich öfter hätte sehen sollen.“

 

Im polnischen Original trägt das Buch den Titel Grochów

„Ist dir jemals in den Sinn gekommen, dass du sterben wirst? Oder dass ich sterben werde? Dass wir irgendwann zusehen werden, wie sie den anderen vergraben oder in den Ofen schieben? Dass wir nur noch das für den anderen werden tun können? Nur zusehen?“. Grochów ist die letzte, die längste – und im polnischen Original titelgebende – Erzählung des kleinen Buches. Stasiuk nimmt darin Abschied von seinem Jugendfreund Olek, mit dem er in Grochów, einem Vorort Warschaus, aufwuchs. Das Besondere an dieser Erzählung ist, dass Stasiuk nicht mehr als Beobachter auftritt. Er schrieb diese Erzählung nicht für uns. Er schrieb sie für Olek. Die Erinnerungen werden transparent: „Die Ereignisse von früher sind so deutlich wie die jüngsten. Sie schimmern, scheinen durch. Und jetzt, da ich an sie denke, geschieht alles gleichzeitig.“ Es ist eine Geschichte vom Träumen und von der Freiheit, vom gemeinsamen Reisen und Erleben. Von Wut und Scham und Verrat und der Angst und dem lächerlichen Aufkeimen von Hoffnung.

 

Stasiuks Kurzes Buch über das Sterben ist ein kleines Geleit durch vergangene Landschaften und erloschene Leben. Ein wenig ungreifbar und verträumt, mal verwirrend und dann wieder sehr klar. Wie Gedanken nun mal sind, wie Erinnerungen, die wir in uns tragen.

 

Stasiuk, Andrzej: Kurzes Buch über das Sterben. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Berlin: Suhrkamp,  2013.
Stasiuk, Andrzej: Grochów. Wołowiec: Czarne, 2012.

 

Weiterführende Links:
Andrzej Stasiuk im Gespräch: „Willst du frei sein, musst du einen Verrat begehen“. FAZ, 08.03.2013.

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