Das Wort kommt vor dem Gegenstand

Viktor Pelevins Roman Ampir V

 

Am Anfang war die Velikaja Myš‘. Die Velikaja Myš wurde aus nicht näher benannten Gründen auf die Erde verbannt, wo sie bis heute ihr Unwesen treibt. Sie schuf fliegende Mäuse, die sich im Laufe der Zeit evolutionär zur sogenannten Jazyk wandelten, was im Russischen sowohl Sprache als auch Zunge bedeutet. Die Zunge Jazyk – die metaphorische Sprache – sucht sich, wie ein Krebs seine Muschel, immer neue geeignete menschliche Körper, die sie bewohnen kann. Dies sichert ihr Überleben. Die Doppeldeutigkeit des Wortes Jazyk im Russischen ist Programm: Nicht nur die Zunge braucht Menschen zum Überleben, auch Sprache überdauert nur, wenn sie von Menschen transportiert wird. Die von Jazyk bewohnten Menschen werden zu Vampiren, „den besseren Lebewesen“, die die Welt in Viktor Pelevins neuem Roman bevölkern.

Inseinem 2006 auf Russisch erschienenen Vampirroman Ampir V , der gerade unter dem Titel Das fünfte Imperium. Ein Vampirroman in deutscher Übersetzung von Andreas Tretner beim Luchterhand Literaturverlag erschienen ist, stellt Viktor Pelevin das westliche Weltbild in Frage oder gleich ganz auf den Kopf: „Anders als die meisten Menschen annehmen, ist die Menschheit nicht das letzte Glied in der Nahrungskette. Wir Vampire nämlich sind das nächste Glied der Kette. – Und welches Glied der Nahrungskette ist das Letzte? – Gott.“*

Der Mensch, der sich so gedankenlos über die anderen Lebewesen der Erde erhebt, indem er züchtet, vernichtet oder erhält – er ist bei Pelevin plötzlich Teil seiner selbstgeschaffenen Ordnung, er wird gezüchtet, um zu ernähren. Dabei lässt sich der Autor nicht davon abhalten, den Leser mit einer Flut von historischen Andeutungen, literarischen Bezügen und Wortspielen (Вампир – Ампир В – Ampir V – Empire V) zu überschwemmen. So sind fast alle ‚vampirischen‘ Charaktere des Romans nach Gottheiten aus der babylonischen, griechischen, römischen oder germanischen Mythologie benannt.

Der Protagonist vonAmpir V, Rama II., erhält seinen Namen wahrscheinlich von der, im Hinduismus bekannten, siebten Inkarnation des Vishnu; dies wird im Roman jedoch nicht näher erläutert. Die Bezugnahme auf Elemente östlicher, vor allem hinduistischer und buddhistischer Kulturen ist nicht neu für Pelevin. Bereits in seinen früheren Romanen stellt er dem westlichen Denken immer wieder Mythen, Texte und Figuren aus der indischen Tradition gegenüber. Dabei lässt er einen Text entstehen, der ein typisches Verfahren der europäischen und russischen Erzähltradition verwendet: Er bezieht den Leser als aktiv handelnde Figur mit in das Geschehen ein. Pelevin entwirft einen Leserprotagonisten, einen aufmerksamen und mit wissenschaftlichen Diskursen vertrauten Leser, dem er in Ampir V das Nachfragen nicht nur erlaubt, sondern dessen Nachfrage als wesentlicher Baustein in den Roman bereits integriert ist. Rama II., der Protagonist des Romans, übernimmt anstelle des Lesers die Rolle des Nachfragers. Auf diese Weise verweist Pelevin auf die Dialogform als klassisches Mittel der Dramaturgie – und auf die platonischen Dialoge, die Urform des philosophischen Dialoges.

Schon mit dem Untertitel – Povest‘ o nastojaščem sverchčeloveke (Erzählung über den wahren Übermenschen) – wird eine erste Fährte für den Leser gelegt: eine Anspielung auf den 1946 von Boris Polevoj geschriebenen sowjetischen Heldenroman Povest‘ o nastojaščem čeloveke (Erzählung vom wahren Menschen).

Und so imitiert Ampir V zunächst auch den Masterplot eines typisch sozialistischen Heldenromans: Der Held durchläuft den Prozess einer ideologischen Bewusstwerdung: Er bewegt sich auf der „road to consciousness“ von anfänglicher Spontaneität zum Bewusstsein. Eben dieser Prozess wird in Ampir V von Pelevin karikiert.

Rama durchläuft ganz in sowjetischer Heldenmanier zunächst eine Phase der Separation: Er wird im Alter von 19 Jahren von einer Jazyk zum Vampir „transformiert“ und erlebt eine Zeit der Isolation und des Lernens in der neuen Gesellschaft der Vampire. In dieser Zeit hat Rama mehrere Lehrer, die sämtlich Gottheiten unterschiedlicher Kulturen vorstellen: Loki, Bal’dr und Jegova, die ihn mit dem für Vampire unverzichtbaren Wissen über Kampfkunst und Liebe, Diskurs und Glamour vertraut machen.

Nachdem Rama dann zum ersten Mal den Ukus, den Vampirbiss, an einer Menschenfrau geübt hat, muss er wohl oder übel beginnen, sich mit seinem Dasein als Vampir abzufinden. Sein Vormund Mitra – dessen Name sich in diesem Kontext sinnig auf den indischen Gott des Vertrages, den Wächter der Wahrheit, beziehen mag – führt ihn dann zur Ersten der Initiationsriten, die im Roman des Sozrealismus die Transitionsphase einleiten. Dieses Ereignis wird als „großer Sündenfall“ gefeiert, bei der Rama das Vampirmädchen Gera kennen lernt. Rama wird schließlich nach der Verkostung der göttlichen Flüssigkeit Bablos in das System inkorporiert. Bablos ist das Konzentrat der von den Menschen projizierten Welt. Und da diese Welt durch Worte projiziert wird, ist Bablos das Konzentrat des Wortes, dessen Ähnlichkeit mit einer Droge durch die von Pelevin verwendete Beschreibung noch unterstrichen wird. Rama hat das Gefühl, zunächst in seinen Sitz gedrückt und dann in einen sehr schnellen Flug katapultiert zu werden. Pelevin, schließt sich hier der Tradition der postmodernen Literatur an, in der die Droge häufig eine Rolle bei der Bewusstseinserweiterung im Text, also einer „Text-Erweiterung“, spielt – so auch bei Vladimir Sorokins Dostoevskij trip. Literatur als Droge: wiederholbar, reproduzierbar und erlebbar. Rama II. kann sich unter Drogeneinfluss endlich öffnen für die allumfassende Ordnung der Dinge – oder besser: für die Ordnung der Worte.

Durch den gesamten Roman zieht sich ein religiöser und philosophischer Diskurs in platonischer Dialogform. So ist Rama ständig auf der Suche nach dem Sinn seines neuen Daseins und befragt hierfür die weltlichen und religiösen Autoritäten der Vampire. Zunächst fragt er den weltlichen Führer der Vampire En-Lil, den babylonischen Gottvater, wie die wirkliche Welt beschaffen sei. Unbefriedigt von En-Lil’s Antworten, wendet sich Rama an dessen abtrünnig gewordenen Bruder Oziris. Oziris ist das Oberhaupt der Tolstoj-Vampire, die sich durch die vergeistigte Suche nach Natürlichkeit und Ursprünglichkeit von den modernen Vampiren unterscheiden. Mit der Erwähnung der Tolstoj-Vampire schließt Pelevin einen Kreis: Tolstoj selbst hatte mit Der Vampir (1841) und Die Familie des Vampirs (1847) zwei Vampirromane geschrieben. Besonderes Erkennungsmerkmal der Tolstoj-Vampire in Pelevins Roman: Sie ernähren sich von menschlichem Blut – eine barbarische Praxis, von der sich der moderne Vampir schon lange verabschiedet hat.

Im Gegensatz zum Tolstoj-Vampir ernährt sich der moderne Vampir in Ampir V von den Wünschen und Projektionen der Menschen in deren imaginierter Welt. Die menschliche Gattung wurde von den Vampiren selbst zu diesem Zwecke gezüchtet (in diesem Zusammenhang fällt häufig der Vergleich von Menschen mit Milchkühen). Und um die menschlichen Wünsche für die Göttin Ishtar, die babylonische Göttin der Fruchtbarkeit und des Krieges, welche in Ampir V zugleich die weltliche Verkörperung der Velikaja Myš darstellt, möglichst nahrhaft zu machen, wirken die Vampire mit ihrer Kenntnis von Glamour und Diskurs auf die imaginierte Umgebung der Menschen – etwa durch Werbung – ein. Hier schließt Pelevin an frühere Texte an, in denen er die Welt des Konsums ebenfalls zum Gegenstand von Erzählung und Kritik gemacht hatte.

Der eigentliche Protagonist in Pelevins Roman ist das Wort. Oziris erklärt Rama, dass das Wort vor dem Gegenstand existiert, bzw. nur das Wort den Gegenstand zur Existenz verhelfen kann. Diese Überlegung lässt sich auf das Alte Testament zurückführen: „Am Anfang war das Wort.“ Christentum, babylonische, hinduistische und gotische Gottheiten verschmelzen in dieser von Pelevin geschaffenen literarischen Welt.

Das Wort, so Oziris, könne deshalb den Gegenstand erschaffen, weil der Mensch über zwei Verstandestypen verfüge: Verstand A und Verstand B, die man sich wie zwei sich gegenüberstehende Spiegel vorstellen könne. „In jedem Moment befindet sich immer ein einzelnes Wort vor dem Verstand A; die Worte wechseln mit so hoher Geschwindigkeit, dass in jedem Moment ein anderes Wort dort steht. (…) Wenn du ein Wort vor den Verstand A stellst, spiegelt es sich im Verstand, der sich wieder im Wort spiegelt, das sich wieder im Verstand spiegelt, usw. Und so entsteht ein unendlicher Korridor – der Verstand B. In diesem endlosen Korridor entsteht nicht nur die ganze Welt, sondern auch der, der sie betrachtet.“

Pelevin übt in Ampir V einmal mehr Kritik an Konsum und Massenmedien, an Design und Werbung als leeren Hüllen menschlichen Wünschens. Auch die stalinistische Forderung an Künstler, zu Ingenieuren der Seele zu werden – wird von Pelevin medienkritisch umgeformt: „Das Wunder vollzieht sich nicht mit den Texten, sondern mit den Schriftstellern. Anstatt mit Ingenieuren der menschlichen Seele haben wir es mit unbezahlten Werbeagenten zu tun.“ Die einzige Möglichkeit, keine Welt aus Worten zu projizieren, ist dem Roman zufolge das philosophische Sinnieren (Aristoteles würde sich freuen!). In dem Augenblick, in dem der Mensch sich der geistigen Regung hingebe, drehten sich die einander gegenüberstehenden Spiegel des Verstandes A und des Verstandes B so, dass sie parallel stehen und keine endlosen Spiegelkorridore der Illusion mehr produzieren.

Viktor Pelevin, einer der erfolgreichsten zeitgenössischen russischen Romanautoren, bleibt sich in  Stil und Thematik mit Ampir V treu. Auch Ampir V ist ein Science-Fiction Roman, der sich karikierend mit der postsowjetischen russischen Gesellschaft auseinandersetzt. Verweise auf religiöse Elemente und Mythen sind mosaikartig in diese Kulturkritik aufgenommen und die vielfachen literarischen Bezüge und Zitate führen Pelevin als postmodernen Autor ein, der sich in der ironisierenden Verwendung von intertextuellen Verweisen gar als postpostmoderner Autor entpuppt. Pelevins Roman ist nicht nur intertextuelle Zitatanhäufung: Durch die Kopplung postmoderner Zitat-Techniken an sinnhaft-mystische Inhalte verhandelt er die Postmoderne selbst und distanziert sich damit von ihr. Und wie immer setzt er einen Leser voraus, der mitdenkt, kombiniert und interpretiert. Für diesen Leser ist die Lektüre von Pelevins Roman als neue Imagination in einer illusionären Welt unbedingt empfehlenswert!

* Alle Übersetzungen stammen von der Verfasserin.

 

Pelevin, Viktor: Ampir V. Roman. Eksmo. Moskau 2006.

Pelewin, Viktor: Das fünfte Imperium. Ein Vampirroman. In deutscher Übersetzung von Andreas Tretner. Luchterhand Literaturverlag. München 2009.

Jetzt den novinki-Newsletter abonnieren

und keinen unserer Textbeiträge mehr verpassen!