Das Theater Mitu aus New York war 2019 beim 59. Theaterfestival MESS in Sarajevo mit der Produktion Remnant zu Gast: In drei Miniaturen verdichtet die Theaterkompagnie Relikte traumatischer Erfahrungen. Über eine atmosphärische Spurensicherung von dem, was übrig bleibt – in Brooklyn und in Sarajevo.
Das Ende ist immer gleich: Eine Stimme kündigt dem Publikum die Erfahrung eines Zeitgefühls an: „This is how one minute feels like“, dann tickt eine Uhr. Eine Minute lang. Das Publikum sitzt unterteilt in drei Gruppen vor je drei Glaskästen, in denen eben noch gespielt, gesungen, musiziert und monologisiert wurde und in denen nun die Aktion stillsteht, während die Zeit vergeht. Dem Verrinnen der Zeit ist nicht zu entkommen, in jedem der Kästen ist eine Uhr auf einen großen Bildschirm projiziert, über Headphones hören die Zuschauenden ihr Ticken, laut und überdeutlich, tick, tack, tick. Stille. Das Publikum zieht – gegen den Uhrzeigersinn – zur nächsten Installation, die erneut über Kopfhörer akustisch zugänglich ist, um dann abermals mit der Erfahrung einer vergehenden Minute zu enden: „This is how one minute feels like“. Tick, tack, kein Entkommen.
Drei Minitaturen im Glaskasten hat das Theater Mitu unter der Regie seines Gründers Rubén Polendo zu einer Produktion namens Remnant arrangiert und dafür mit Menschen in Kriegsregionen, Soldaten und Ärzten, mit Wissenschaftler_innen und Kunstschaffenden über das Sterben gesprochen: Was bleibt nach Erfahrungen von Tod und Trauma? Die Gespräche bilden die Textgrundlage der drei Installationen, die zeitlich genau getaktet sind. Dass sie alle synchron mit der komponierten Erfahrung einer Minute enden, ist exemplarisch für die Vorgehensweise der Produktion, die Gefühle des Wartens, Übrigbleibens und Verarbeitens auf wissenschaftlich-dokumentarische Weise seziert, gleichzeitig aber eine Atmosphäre zu erzeugen vermag, die die New York Times zur Premiere in Brooklyn als „otherwordly“ beschrieben hat. Das Publikum sitzt mit Headsets vor Glaskästen – oder sind es Reagenzgläser? –, als würde es einem sorgfältig angeordneten Labor-Versuch beiwohnen und wird doch über die hauptsächlich akustisch erzeugte Stimmung in ein transzendentes Geschehen gezogen.
Da ist ein traumatisierter Soldat (durchgehend überzeugend: Correy Sullivan), der in einem der Kästen unbeholfen tanzt wie ein Eisbär und wie Kafkas Käfer rücklings auf einem Stuhl alle vier Glieder bewegt, bevor er zu einer Archäologie des Trauma-Begriffs ausholt: „In 1914 they called it shell shock, in 1945 they called it battle fatigue“. Da sitzt im benachbarten Glaskasten ein sanfttöniger Fernsehmoderator, der den farblich passenden Teppich für jedes Horoskop und Mikrofon verkauft, die Funkkontakt mit der Vergangenheit aufnehmen können. Nachdem über das Mikrofon King-Arthur-Botschaften empfangen und Vogelgedichte verlesen wurden, spätestens aber wenn Rentner_innen vor einer überbeleuchteten Bergkulisse fröhliche Botschaften für den Tag verkünden, beschleicht einen das ungute Gefühl, versehentlich in einen abgründigen Fernsehsender der allerhintersten Kanäle geschaltet zu haben.
Der dritte Kasten stellt der esoterischen Erfahrung ein klinisches Setting gegenüber: Ein Arzt befragt einen Koma-Patienten, wie viel er wahrnimmt: Bin ich eine Frau? Zweifaches Blinzeln, projiziert auf einen Bildschirm. Sind wir in Paris? Ist das ein Krankenhaus? Blinzeln, Maschinentöne durch die Kopfhörer. Das Hören, verkündet eine Frau in dozierendem Duktus, ist der letzte Sinn, über den wir verfügen, bevor wir sterben. Ob deswegen das Sounddesign der Produktion so ausgefeilt daherkommt? Die Atmosphäre, die den Abend immer wieder zu einem parallelweltlichen Eindruck macht, gelingt über die Raumanordnung, insbesondere aber über die schauspielerische und akustische Qualität (Sounddesign: Alex Hawthorn). Rauschen, Maschinenpiepsen, musikalische Nummern und Gesprächsfetzen überlagern sich teilweise, verdichten sich zu einer körperlichen Erfahrung, während die räumliche Ordnung – die Bestuhlung ist mit Klebeband umrandet, die Glasvitrinen sind in A, B und C unterteilt – die Distanziertheit eines wissenschaftlichen Versuchs suggeriert, der durch die dreifache Wiederholung und die zeitlich getakteten Enden immer mehr in ein meditatives Labor-Ritual abgleitet.
Das setzt freilich eine enorme Synchronisationsleistung und ein durchdachtes Arrangement voraus. Letzteres funktioniert auf dem MESS Festival im leicht beengten Raum der Schauspielakademie in Sarajevo (Akademija scenskih umjentosti) wohl sogar besser als in den New Yorker Theaterräumen der Kompagnie, wo Remnant im September 2018 Premiere gefeiert und damit gleichzeitig die erste fixe Spielstätte des Theaters eröffnet hat. Damit kann Remnant durchaus als programmatisch für Mitu gelten: Seit seiner Gründung 1997 haben sich die dreizehn Mitglieder von Mitu, auf der Suche nach einem so genannten „Whole Theater“, der experimentellen Erweiterung der Formen von Theater verschrieben. In diesem Sinn gelingt ihnen mit Remnant ein Abend, der zwischen Performance und Visual-Arts-Installation changiert und der über die Dokumentation der gesammelten Interviews hinaus vor allem darauf zielt, Atmosphären zu erzeugen, die Kriegs- und Traumaerfahrungen evozieren und die eben nicht wissenschaftlich sezierbar sind.
Die Zuschauer_innen des MESS Theaterfestivals beklatschen die Inszenierung bereits begeistert, noch bevor die letzte Szene des Erinnerungslabors beendet ist. Das Publikum applaudiert ins Finale – in das Ticken der letzten vergehenden Minute der Produktion – hinein; als könnten wir das Ende, das Sterben und das Warten ohnehin nicht fassen.
Remnant, Theater Mitu, Regie: Rubén Polendo, Cast: Kayla Asbell, Denis Butkus, Alex Hawthorn, Michael Littig, Justin Nestor, Isabella Uzcategui, Corey Sullivan, Ada Westfall; Vorstellung vom 1. Oktober 2019, 18 Uhr, 59. MESS International Theater Festival, Academy of Performing Arts Sarajevo.
Weiterführende Links
Internacionalni teatarski festival MESS