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Im Glaskasten – die Theaterproduktion „Remnant“ als Erinnerungslabor

Posted on 24. Februar 2020 by Theresa Eisele
Das Theater Mitu aus New York war 2019 beim 59. Theaterfestival MESS in Sarajevo mit der Produktion Remnant zu Gast: In drei Miniaturen verdichtet die Theaterkompagnie Relikte traumatischer Erfahrungen. Über eine atmosphärische Spurensicherung von dem, was übrig bleibt – in Brooklyn und in Sarajevo.

Das Theater Mitu aus New York war 2019 beim 59. Theaterfestival MESS in Sarajevo mit der Produktion Remnant zu Gast: In drei Miniaturen verdichtet die Theaterkompagnie Relikte traumatischer Erfahrungen. Über eine atmosphärische Spurensicherung von dem, was übrig bleibt – in Brooklyn und in Sarajevo.

 

Das Ende ist immer gleich: Eine Stimme kündigt dem Publikum die Erfahrung eines Zeitgefühls an: „This is how one minute feels like“, dann tickt eine Uhr. Eine Minute lang. Das Publikum sitzt unterteilt in drei Gruppen vor je drei Glaskästen, in denen eben noch gespielt, gesungen, musiziert und monologisiert wurde und in denen nun die Aktion stillsteht, während die Zeit vergeht. Dem Verrinnen der Zeit ist nicht zu entkommen, in jedem der Kästen ist eine Uhr auf einen großen Bildschirm projiziert, über Headphones hören die Zuschauenden ihr Ticken, laut und überdeutlich, tick, tack, tick. Stille. Das Publikum zieht – gegen den Uhrzeigersinn – zur nächsten Installation, die erneut über Kopfhörer akustisch zugänglich ist, um dann abermals mit der Erfahrung einer vergehenden Minute zu enden: „This is how one minute feels like“. Tick, tack, kein Entkommen.

Drei Minitaturen im Glaskasten hat das Theater Mitu unter der Regie seines Gründers Rubén Polendo zu einer Produktion namens Remnant arrangiert und dafür mit Menschen in Kriegsregionen, Soldaten und Ärzten, mit Wissenschaftler_innen und Kunstschaffenden über das Sterben gesprochen: Was bleibt nach Erfahrungen von Tod und Trauma? Die Gespräche bilden die Textgrundlage der drei Installationen, die zeitlich genau getaktet sind. Dass sie alle synchron mit der komponierten Erfahrung einer Minute enden, ist exemplarisch für die Vorgehensweise der Produktion, die Gefühle des Wartens, Übrigbleibens und Verarbeitens auf wissenschaftlich-dokumentarische Weise seziert, gleichzeitig aber eine Atmosphäre zu erzeugen vermag, die die New York Times zur Premiere in Brooklyn als „otherwordly“ beschrieben hat. Das Publikum sitzt mit Headsets vor Glaskästen – oder sind es Reagenzgläser? –, als würde es einem sorgfältig angeordneten Labor-Versuch beiwohnen und wird doch über die hauptsächlich akustisch erzeugte Stimmung in ein transzendentes Geschehen gezogen.

Da ist ein traumatisierter Soldat (durchgehend überzeugend: Correy Sullivan), der in einem der Kästen unbeholfen tanzt wie ein Eisbär und wie Kafkas Käfer rücklings auf einem Stuhl alle vier Glieder bewegt, bevor er zu einer Archäologie des Trauma-Begriffs ausholt: „In 1914 they called it shell shock, in 1945 they called it battle fatigue“. Da sitzt im benachbarten Glaskasten ein sanfttöniger Fernsehmoderator, der den farblich passenden Teppich für jedes Horoskop und Mikrofon verkauft, die Funkkontakt mit der Vergangenheit aufnehmen können. Nachdem über das Mikrofon King-Arthur-Botschaften empfangen und Vogelgedichte verlesen wurden, spätestens aber wenn Rentner_innen vor einer überbeleuchteten Bergkulisse fröhliche Botschaften für den Tag verkünden, beschleicht einen das ungute Gefühl, versehentlich in einen abgründigen Fernsehsender der allerhintersten Kanäle geschaltet zu haben.

Der dritte Kasten stellt der esoterischen Erfahrung ein klinisches Setting gegenüber: Ein Arzt befragt einen Koma-Patienten, wie viel er wahrnimmt: Bin ich eine Frau? Zweifaches Blinzeln, projiziert auf einen Bildschirm. Sind wir in Paris? Ist das ein Krankenhaus? Blinzeln, Maschinentöne durch die Kopfhörer. Das Hören, verkündet eine Frau in dozierendem Duktus, ist der letzte Sinn, über den wir verfügen, bevor wir sterben. Ob deswegen das Sounddesign der Produktion so ausgefeilt daherkommt? Die Atmosphäre, die den Abend immer wieder zu einem parallelweltlichen Eindruck macht, gelingt über die Raumanordnung, insbesondere aber über die schauspielerische und akustische Qualität (Sounddesign: Alex Hawthorn). Rauschen, Maschinenpiepsen, musikalische Nummern und Gesprächsfetzen überlagern sich teilweise, verdichten sich zu einer körperlichen Erfahrung, während die räumliche Ordnung – die Bestuhlung ist mit Klebeband umrandet, die Glasvitrinen sind in A, B und C unterteilt – die Distanziertheit eines wissenschaftlichen Versuchs suggeriert, der durch die dreifache Wiederholung und die zeitlich getakteten Enden immer mehr in ein meditatives Labor-Ritual abgleitet.

Das setzt freilich eine enorme Synchronisationsleistung und ein durchdachtes Arrangement voraus. Letzteres funktioniert auf dem MESS Festival im leicht beengten Raum der Schauspielakademie in Sarajevo (Akademija scenskih umjentosti) wohl sogar besser als in den New Yorker Theaterräumen der Kompagnie, wo Remnant im September 2018 Premiere gefeiert und damit gleichzeitig die erste fixe Spielstätte des Theaters eröffnet hat. Damit kann Remnant durchaus als programmatisch für Mitu gelten: Seit seiner Gründung 1997 haben sich die dreizehn Mitglieder von Mitu, auf der Suche nach einem so genannten „Whole Theater“, der experimentellen Erweiterung der Formen von Theater verschrieben. In diesem Sinn gelingt ihnen mit Remnant ein Abend, der zwischen Performance und Visual-Arts-Installation changiert und der über die Dokumentation der gesammelten Interviews hinaus vor allem darauf zielt, Atmosphären zu erzeugen, die Kriegs- und Traumaerfahrungen evozieren und die eben nicht wissenschaftlich sezierbar sind.

Die Zuschauer_innen des MESS Theaterfestivals beklatschen die Inszenierung bereits begeistert, noch bevor die letzte Szene des Erinnerungslabors beendet ist. Das Publikum applaudiert ins Finale – in das Ticken der letzten vergehenden Minute der Produktion – hinein; als könnten wir das Ende, das Sterben und das Warten ohnehin nicht fassen.

 

Remnant, Theater Mitu, Regie: Rubén Polendo, Cast: Kayla Asbell, Denis Butkus, Alex Hawthorn, Michael Littig, Justin Nestor, Isabella Uzcategui, Corey Sullivan, Ada Westfall; Vorstellung vom 1. Oktober 2019, 18 Uhr, 59. MESS International Theater Festival, Academy of Performing Arts Sarajevo.

 

Weiterführende Links

Internacionalni teatarski festival MESS

Im Glaskasten – die Theaterproduktion „Remnant“ als Erinnerungslabor - novinki
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Im Glas­kasten – die Thea­ter­pro­duk­tion „Rem­nant“ als Erinnerungslabor

Das Theater Mitu aus New York war 2019 beim 59. Thea­ter­fes­tival MESS in Sara­jevo mit der Pro­duk­tion Rem­nant zu Gast: In drei Minia­turen ver­dichtet die Thea­ter­kom­pa­gnie Relikte trau­ma­ti­scher Erfah­rungen. Über eine atmo­sphä­ri­sche Spu­ren­si­che­rung von dem, was übrig bleibt – in Brooklyn und in Sarajevo.

 

Das Ende ist immer gleich: Eine Stimme kün­digt dem Publikum die Erfah­rung eines Zeit­ge­fühls an: „This is how one minute feels like“, dann tickt eine Uhr. Eine Minute lang. Das Publikum sitzt unter­teilt in drei Gruppen vor je drei Glas­kästen, in denen eben noch gespielt, gesungen, musi­ziert und mono­lo­gi­siert wurde und in denen nun die Aktion still­steht, wäh­rend die Zeit ver­geht. Dem Ver­rinnen der Zeit ist nicht zu ent­kommen, in jedem der Kästen ist eine Uhr auf einen großen Bild­schirm pro­ji­ziert, über Head­phones hören die Zuschau­enden ihr Ticken, laut und über­deut­lich, tick, tack, tick. Stille. Das Publikum zieht – gegen den Uhr­zei­ger­sinn – zur nächsten Instal­la­tion, die erneut über Kopf­hörer akus­tisch zugäng­lich ist, um dann aber­mals mit der Erfah­rung einer ver­ge­henden Minute zu enden: „This is how one minute feels like“. Tick, tack, kein Entkommen.

Drei Mini­ta­turen im Glas­kasten hat das Theater Mitu unter der Regie seines Grün­ders Rubén Polendo zu einer Pro­duk­tion namens Rem­nant arran­giert und dafür mit Men­schen in Kriegs­re­gionen, Sol­daten und Ärzten, mit Wissenschaftler_innen und Kunst­schaf­fenden über das Sterben gespro­chen: Was bleibt nach Erfah­rungen von Tod und Trauma? Die Gespräche bilden die Text­grund­lage der drei Instal­la­tionen, die zeit­lich genau getaktet sind. Dass sie alle syn­chron mit der kom­po­nierten Erfah­rung einer Minute enden, ist exem­pla­risch für die Vor­ge­hens­weise der Pro­duk­tion, die Gefühle des War­tens, Übrig­blei­bens und Ver­ar­bei­tens auf wis­sen­schaft­lich-doku­men­ta­ri­sche Weise seziert, gleich­zeitig aber eine Atmo­sphäre zu erzeugen vermag, die die New York Times zur Pre­miere in Brooklyn als „other­wordly“ beschrieben hat. Das Publikum sitzt mit Head­sets vor Glas­kästen – oder sind es Reagenz­gläser? –, als würde es einem sorg­fältig ange­ord­neten Labor-Ver­such bei­wohnen und wird doch über die haupt­säch­lich akus­tisch erzeugte Stim­mung in ein tran­szen­dentes Geschehen gezogen.

Da ist ein trau­ma­ti­sierter Soldat (durch­ge­hend über­zeu­gend: Correy Sul­livan), der in einem der Kästen unbe­holfen tanzt wie ein Eisbär und wie Kafkas Käfer rück­lings auf einem Stuhl alle vier Glieder bewegt, bevor er zu einer Archäo­logie des Trauma-Begriffs aus­holt: „In 1914 they called it shell shock, in 1945 they called it battle fatigue“. Da sitzt im benach­barten Glas­kasten ein sanft­tö­niger Fern­seh­mo­de­rator, der den farb­lich pas­senden Tep­pich für jedes Horo­skop und Mikrofon ver­kauft, die Funk­kon­takt mit der Ver­gan­gen­heit auf­nehmen können. Nachdem über das Mikrofon King-Arthur-Bot­schaften emp­fangen und Vogel­ge­dichte ver­lesen wurden, spä­tes­tens aber wenn Rentner_innen vor einer über­be­leuch­teten Berg­ku­lisse fröh­liche Bot­schaften für den Tag ver­künden, beschleicht einen das ungute Gefühl, ver­se­hent­lich in einen abgrün­digen Fern­seh­sender der aller­hin­tersten Kanäle geschaltet zu haben.

Der dritte Kasten stellt der eso­te­ri­schen Erfah­rung ein kli­ni­sches Set­ting gegen­über: Ein Arzt befragt einen Koma-Pati­enten, wie viel er wahr­nimmt: Bin ich eine Frau? Zwei­fa­ches Blin­zeln, pro­ji­ziert auf einen Bild­schirm. Sind wir in Paris? Ist das ein Kran­ken­haus? Blin­zeln, Maschi­nen­töne durch die Kopf­hörer. Das Hören, ver­kündet eine Frau in dozie­rendem Duktus, ist der letzte Sinn, über den wir ver­fügen, bevor wir sterben. Ob des­wegen das Sound­de­sign der Pro­duk­tion so aus­ge­feilt daher­kommt? Die Atmo­sphäre, die den Abend immer wieder zu einem par­al­lel­welt­li­chen Ein­druck macht, gelingt über die Raum­an­ord­nung, ins­be­son­dere aber über die schau­spie­le­ri­sche und akus­ti­sche Qua­lität (Sound­de­sign: Alex Hawt­horn). Rau­schen, Maschi­nen­piepsen, musi­ka­li­sche Num­mern und Gesprächs­fetzen über­la­gern sich teil­weise, ver­dichten sich zu einer kör­per­li­chen Erfah­rung, wäh­rend die räum­liche Ord­nung – die Bestuh­lung ist mit Kle­be­band umrandet, die Glas­vi­trinen sind in A, B und C unter­teilt – die Distan­ziert­heit eines wis­sen­schaft­li­chen Ver­suchs sug­ge­riert, der durch die drei­fache Wie­der­ho­lung und die zeit­lich getak­teten Enden immer mehr in ein medi­ta­tives Labor-Ritual abgleitet.

Das setzt frei­lich eine enorme Syn­chro­ni­sa­ti­ons­leis­tung und ein durch­dachtes Arran­ge­ment voraus. Letz­teres funk­tio­niert auf dem MESS Fes­tival im leicht beengten Raum der Schau­spiel­aka­demie in Sara­jevo (Aka­de­mija scen­skih umjent­osti) wohl sogar besser als in den New Yorker Thea­ter­räumen der Kom­pa­gnie, wo Rem­nant im Sep­tember 2018 Pre­miere gefeiert und damit gleich­zeitig die erste fixe Spiel­stätte des Thea­ters eröffnet hat. Damit kann Rem­nant durchaus als pro­gram­ma­tisch für Mitu gelten: Seit seiner Grün­dung 1997 haben sich die drei­zehn Mit­glieder von Mitu, auf der Suche nach einem so genannten „Whole Theater“, der expe­ri­men­tellen Erwei­te­rung der Formen von Theater ver­schrieben. In diesem Sinn gelingt ihnen mit Rem­nant ein Abend, der zwi­schen Per­for­mance und Visual-Arts-Instal­la­tion chan­giert und der über die Doku­men­ta­tion der gesam­melten Inter­views hinaus vor allem darauf zielt, Atmo­sphären zu erzeugen, die Kriegs- und Trauma­er­fah­rungen evo­zieren und die eben nicht wis­sen­schaft­lich sezierbar sind.

Die Zuschauer_innen des MESS Thea­ter­fes­ti­vals beklat­schen die Insze­nie­rung bereits begeis­tert, noch bevor die letzte Szene des Erin­ne­rungs­la­bors beendet ist. Das Publikum applau­diert ins Finale – in das Ticken der letzten ver­ge­henden Minute der Pro­duk­tion – hinein; als könnten wir das Ende, das Sterben und das Warten ohnehin nicht fassen.

 

Rem­nant, Theater Mitu, Regie: Rubén Polendo, Cast: Kayla Asbell, Denis Butkus, Alex Hawt­horn, Michael Littig, Justin Nestor, Isa­bella Uzca­tegui, Corey Sul­livan, Ada West­fall; Vor­stel­lung vom 1. Oktober 2019, 18 Uhr, 59. MESS Inter­na­tional Theater Fes­tival, Aca­demy of Per­forming Arts Sarajevo.

 

Wei­ter­füh­rende Links

Inter­na­cio­nalni teatarski fes­tival MESS