In seinem Roman Graue Bienen schickt Andrij Kurkov den Imker Sergej aus dem Donbass auf einen Roadtrip durch die Ukraine – gemeinsam mit seinen Bienenstöcken, um sie vor dem Krieg zu retten. Kurkov braucht das Schlachtfeld nicht, um dennoch eine Geschichte über den Krieg zu erzählen.
Der schneebedeckte Boden, das menschenleere Dorf Malaja Starogradovka und die Zone der gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen russischen Separatisten und ukrainischen Milizen haben eines gemeinsam: Sie alle sind grau. Dieses Grau färbt ab auf das Leben des in sich gekehrten Imkers Sergej, auf seinen eintönigen kräftezehrenden Winteralltag, der sich aufgrund des fehlenden Stroms kraftaufwendig gestaltet. Unter der ständigen Geräuschkulisse des Artilleriebeschusses, die längst schon Bestandteil der „Stille“ geworden ist, erledigt Sergej tägliche Routinen, um das Wohlergehen seiner Bienen, aber auch das eigene Überleben zu sichern. Wenig nur unterbricht den geregelten Tagesablauf, und das Wenige scheint nicht an Sergejs Gleichmut zu rütteln. Ab und an besucht ihn Paška, sein einstiger Schulkamerad und heute politischer Gegner. Aber nun, in dem verlassenen Dorf ohne Strom, Radioempfang oder Einkaufsmöglichkeit brauchen sie einander, um wenigstens ein paar spärliche Worte wechseln zu können.
Sergej und Paška, die beiden Frührenter, stehen in Graue Bienen stellvertretend für die verfeindeten Lager auf dem Schlachtfeld in der „Grauen Zone“. Das sind Gebiete, die sich in der Nähe der Frontlinie befinden. In ihnen kommt es immer wieder zu Kampfhandlungen zwischen den Separatisten, der russischen Armee und ausländischen Söldnern, die den Raum für sich beanspruchen, und den ukrainischen Streitkräften, unter deren Kontrolle das Land steht. Obwohl Kurkov die im Winter 2016 einsetzende Romanhandlung auf dem Donbass-Konflikt aufbaut, fokussiert das Buch die Grausamkeiten des Krieges nicht, sondern schildert vielmehr das alltägliche Leiden in den umkämpften Donezker Gebieten. Kurkov observiert das Leben derjenigen, die in den Kriegsgebieten zurückgeblieben sind und nun zwischen den Fronten leben, wie im Fall von Sergej.
Der 1961 in Sankt Petersburg geborene Autor ist einer der bekanntesten und produktivsten ukrainischen Gegenwartsschriftsteller. Seine Werke verfasst Kurkov zumeist auf Russisch. Auch Graue Bienen (Serye pčely) erschien 2018 in russischer Sprache. Obwohl sich sein Sergej als Ukrainer fühlt, scheint er sich schwer mit seinem ukrainisierten Namen Serhij Serhijovyč zu identifizieren, bevorzugt weiterhin das russische Sergej Sergejič. Sergej steht stellvertretend für die Gruppe russischsprachiger Arbeitsmigrant_innen aus dem Industriesektor der Ostukraine und war selbst einst in den Kohlekraftwerken Inspektor für Arbeitssicherheit. Wegen seiner Feinstaublunge und durch Bestechung der Ärztin aus der Poliklinik wurde er als Invalide entlassen. Seit sich seine Frau von ihm trennte und mit der gemeinsamen Tochter die Ostukraine in Richtung Winnyzja verließ, widmet er sich nur noch den Bienenvölkern. Stolz erinnert er sich an den Besuch des Gouverneurs, der ihn einst für seine Bienenzucht auszeichnete.
Die Bienenzucht genießt traditionell einen hohen Stellenwert in der Ukraine. Das Land gehört zu den größten Honigproduzenten Europas, feiert alljährlich am 19. August das Honigfest und kann mit der weltweit ersten Bienenzucht-Schule aufwarten, dem Petro-Prokopovyč-Institut für Imkerei. Von alters her besitzt die Biene eine hohe Symbolkraft, auf die Kurkov in seinem Roman anspielt. Im slawischen Raum steht sie für Emsigkeit und Fleiß. So sinniert der kindlich-naive Sergej immer wieder über das Imkerdasein, die Bedeutung von Honig und Wachs für den Menschen. Imker sein heißt für ihn, Krisen meistern zu können. Nicht zuletzt deshalb versucht er, das Überleben seiner Bienenstämme im Krieg zu sichern.
Der Reiz des Romans besteht in genau diesem Kontrast zwischen den verheerenden Zerstörungen des Krieges und der unaufgeregten Organisiertheit der Bienenvölker. Sergejs Leben mit den Bienen plätschert so trotz der Kämpfe ruhig dahin, bis er im Frühjahr überraschend mit den Bienen aufbricht. Aus der introspektiven Beobachtung eines Imkers wird ein aktiver Roadtrip. Sergej verstaut seine sechs Bienenstöcke in einem alten Schiguli und landet dann unter Umwegen auf der annektierten Krim. Dort herrscht eine auf den ersten Blick friedlichere Atmosphäre, die allerdings von russischer Seite erzwungen wird, wie sich bald am Schicksal einer tatarischen Familie herausstellen soll. In anderen Landesteilen dagegen wird Sergej selbst immer wieder angefeindet, weil man ihn für einen Separatisten hält. Die Front reist immer mit ihm und den Bienen.
Kurkov, der unter anderem in seinem Ukrainischen Tagebuch (Dnevnik Majdana) von 2014 zu aktuellen politischen Ereignissen und dem Krieg in der Ukraine Stellung nahm, schrieb mit Graue Bienen einen klassischen Antikriegsroman. Es geht ihm nicht um die Kriegsereignisse selbst oder die detaillierte Schilderung von Kämpfen. Vielmehr stellt er anhand der Bienen dar, wie Mensch und Tier im Krieg leiden, wie sie sich dennoch anpassen und selbst im Krieg versuchen, Normalität herzustellen. Die Bienen bilden so den Gegenpart zum Chaos der Kämpfe: Sie schwärmen friedlich aus, kehren wieder zurück und übertönen mit ihrem Summen den Lärm beziehungsweise die „Stille“ der Artillerie. Dass auch sie eines Tages ergrauen könnten wie die Landschaft ringsum, das ist der Alptraum des Imkers Sergej, gegen den er sich mit seinem Roadtrip stemmt.
Kurkow, Andrej: Graue Bienen. Aus dem Russischen von Johanna Marx und Sabine Grebing. Zürich: Diogenes Verlag, 2019, 445 S.
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