„Je’vida“: Hinabtauchen in einen See der Erinnerung

Aus wie viel Erinnerung besteht ein Mensch? Was wird von einer Kultur weitergegeben, wenn die Herkunft verleugnet, die Sprache gewaltsam aberzogen wird? Diesen Fragen nähert sich der nach seiner Protagonistin benannte Film Je’vida (2023) in der skoltsamischen Sprache, die Je’vida nicht mehr sprechen darf. Der Film erzählt davon, wie persönliches Schicksal, Familienbande und Herkunft unlösbar miteinander verwoben sind.

 

„A short ski doesn’t carry long”, sagt der Großvater in der ersten Szene zu seiner kleinen Enkelin Je’vida, die sich in die Riemen ihres Ruderbootes stemmt. Der Großvater antwortet mit diesem skoltsamischen Sprichwort auf die Frage seiner Enkelin: Wie soll sie jetzt, selbst noch ein Kind, schon an die Kinder ihrer Kinder denken? Je’vida nutzt als erster Spielfilm durchgängig die Sprache der Skoltsamen, und erzählt in dieser Sprache die Geschichte einer indigenen Frau.

 

Später im Film, als die gealterte Je’vida Gegenstände aus ihrer Vergangenheit verbrennt, kann im Wirrwarr aus Objekten und Flammen auch das schwelende Ende eines Skis erspäht werden. Eine Entdeckung, die exemplarisch für die Erzählweise des Films steht: Erinnerung und Gegenwart, Kleidung und Identität, Sprichwort und Objekt sind eng miteinander verbunden. Der Film erzählt durch kluge Komposition, wie solche Verbindungen aussehen können.

 

Erzählt wird aus der Perspektive der Skoltsamin Je’vida, die nach dem Tod ihrer Schwester den Ort ihrer Kindheit noch einmal aufsuchen muss. Aufgewachsen ist sie mit Schwester, Mutter und den Großeltern in der unberührten Natur Lapplands am Ufer eines Waldsees. Mitte des 20. Jahrhunderts führte die indigene Familie ein einfaches Leben, teilte sich eine kleine Hütte und lebte großteils autark vom Fischfang – Besuche von außerhalb waren selten. Bis auf traditionelle Anlässe, wie Feste, bei denen man sich zum Tanzen und Musizieren trifft, bleiben die Familien der Volksgruppe normalerweise unter sich.

 

Der Film verbildlicht dieses Gefühl eines Eintauchens in die Vergangenheit: Zwischen die Erinnerungsfragmente sind Szenen aus dem See geschnitten – ein Mädchen springt ins Wasser, eine Silhouette taucht unter, schwimmt entlang eines Fischernetzes, Sonnenlicht fällt in hellen Strahlen auf sandigen Grund.

 

Je’vidas Leben wird in sprunghafter Rückschau präsentiert, die Handlung wechselt zwischen ihren verschiedenen Lebensphasen: ihrer Kindheit (1952) und Jugend (1960er Jahre) sowie der Gegenwart, in der wir Je’vida als gealterte Frau, die die Rückkehr in die eigene Vergangenheit nur widerwillig unternimmt, begegnen. Sichtlich belastet kämpft sie mit Erinnerungen, die nach und nach an die Oberfläche treiben. Je’vida hat keine nostalgischen Gefühle, sondern wird unwillkürlich in ihre Erinnerung geworfen. Der Film verbildlicht dieses Gefühl eines Eintauchens in die Vergangenheit: Zwischen die Erinnerungsfragmente sind Szenen aus dem See geschnitten – ein Mädchen springt ins Wasser, eine Silhouette taucht unter, schwimmt entlang eines Fischernetzes, Sonnenlicht fällt in hellen Strahlen auf sandigen Grund. An diesem See hat sich Je’vidas Kindheit abgespielt. Deshalb scheint es passend, dass ihre Rückschau von Aufnahmen des Hinabtauchens in ebenjenen See begleitet wird, die das Gefühl des Untergehens in Erinnerung verdeutlichen. Auch das treibende Fischernetz steht sinnbildlich für das Erinnern: Als Objekt, das manches hält und anderes durch Lücken zwischen den Maschen verliert. Es wird später in der Handlung noch eine Rolle spielen.

 

Je’vidas idyllisches Aufwachsen am See, in enger Beziehung zu ihrem Großvater (auf skoltsamisch: Aje), findet nach dessen Tod ein abruptes Ende. Die Großmutter beschließt, Je’vida auf ein Internat in der Stadt zu schicken, damit ihre Enkelin Finnisch lernen kann. Der kleinen Je’vida wird erst bewusst, dass sie einer Randgruppe angehört, als sie das Internat betritt. Denn dort wird sie wegen ihrer Kleidung, ihrer Sprache und ihrer Essgewohnheiten durch die anderen Kinder ausgegrenzt und verspottet, durch die Erwachsenen brutal zur Anpassung gezwungen.

 

 

Es verwundert deshalb nicht, dass wir in der nächsten Rückblende eine ganz veränderte junge Frau antreffen. Sie ist Mitte zwanzig, stellt sich mit dem finnischen Namen Lida vor, geht einer Arbeit in der Stadt nach und hat ihre traditionellen Pelzschuhe durch hochhackige Tanzschuhe ersetzt. Ihre Großmutter, die als verbliebenes Familienmitglied am Waldsee wohnt, sieht sie nur noch selten. Als Je’vida mit der Aussicht auf eine vielversprechende Heirat in eine andere, weit entfernte Stadt aufbricht, verliert sich der Kontakt.

 

Schlussendlich treffen wir Je’vida wieder als einsilbige Frau, die vom Leben gezeichnet wirkt. Der Kreis schließt sich: Wir sind in der Gegenwart angelangt und sehen sie bei der Rückkehr an den Kindheitsort gemeinsam mit ihrer Nichte. Durch Je’vidas Erinnerungsstücke hat sich mittlerweile ein Bild ergeben, durch welches wir ihr abweisendes Verhalten nachvollziehen können: Die junge Frau und die gealterte Frau begegnen sich und begegnen sich nicht. Die Nichte hat viele Fragen zu ihrer Herkunft, denn ihre Mutter hat ihr die indigenen Wurzeln verschwiegen. Je’vida reagiert jedoch unwirsch. Wir verstehen: Sie kämpft ihren eigenen Kampf mit dem Zeitstrudel, der sie gefangen nimmt.

 

Je’vida verbrennt gegen den Willen ihrer Nichte Gegenstände aus der Vergangenheit und betritt schließlich die Werkstatt, das Reich ihres geliebten Großvaters, dem sie selbst als Kind so viele Fragen gestellt hat. Auch noch nach seinem Tod konnte das Mädchen ihrem Aje begegnen. Oft saß er dabei bei dem Fischernetz, an dem er knüpfte und schnitt, um es zu flicken. Als das Kind Je’vida ihn nach ihrem ersten, furchtbaren Tag im Internat fragt, ob sie ein „Missverständnis“ sei, so wie die Vögel, die sich in Großvaters Fischernetz verfangen, verneint dieser bestimmt. Er zeigt ihr ein kleines Loch, das er im Netz offenlässt, damit die Vögel und sie immer dort hindurchschlüpfen und fliehen können. Es ist eben jenes Fischernetz, das wir sehen, wenn die Kamera unter die Oberfläche des Sees taucht, es ist der gleiche Prozess von Knüpfen und Lösen, der metaphorisch Je’vidas Leben durchzogen hat.

 

Als die gealterte Je’vida der Gegenwart erneut den Schuppen betritt, begegnet sie ihrem Großvater wieder. Nichts hat sich verändert, er knüpft wie eh und je an seinem Netz. Je’vidas Erinnerung hat die Zeit überdauert und lässt ihn im Werkzeugschuppen als Gesprächspartner erneut lebendig werden.

 

Der Film zeigt, wie stark das Aufwachsen in einer bestimmten Kultur den daraus hervorgehenden Menschen formt – sogar, wenn dieser Mensch gezwungen wird, seine Herkunft zu verleugnen. Auch porträtiert die Begegnung zwischen den beiden Frauen, wie Herkunft nachfolgende Generationen prägen kann.

 

Durch dieses Wiedersehen angestoßen, beginnt sie sich nun doch schrittweise ihrer Nichte zu öffnen. Der Film zeigt, wie stark das Aufwachsen in einer bestimmten Kultur den daraus hervorgehenden Menschen formt – sogar, wenn dieser Mensch gezwungen wird, seine Herkunft zu verleugnen. Auch porträtiert die Begegnung zwischen den beiden Frauen, wie Herkunft nachfolgende Generationen prägen kann. Obwohl die Nichte kaum Informationen von ihrer Mutter bekommen hat, beschäftigt sich die junge Frau im Rahmen ihrer Kunst mit den Themen der Skoltsamen: Sie zeichnet Seen und Wälder.

 

Außerdem sind da die körperlichen Ähnlichkeiten über Generationen hinweg: Die Frauen im Film, die jeweils hervorragend gecastet sind, ähneln sich alle gegenseitig. Als die Nichte in einer Darstellung des Waldsees Je’vidas Profil in das im Wasser sichtbare Wurzelwerk hineinzeichnet, sehen wir in einem Gesicht die Züge aus vier Generationen: die Mutter, die Großmutter, Je’vida und die Nichte, alles findet sich in dem Kunstwerk wieder.

 

Bemerkenswert an dem Film ist, dass die Verwobenheit von Erinnerung und Heute nicht durch verwirrende Wechsel zwischen den Zeitebenen hergestellt wird. Ganz im Gegenteil: Es ist immer klar, an welcher Stelle von Je’vidas Biographie wir uns befinden, ob wir gerade gemeinsam in ihre Erinnerung geworfen werden, oder ob wir ihr heutiges Ich bei der Rückkehr an den Kindheitsort begleiten. Insofern erscheint auch die künstlerische Entscheidung, den gesamten Film in schwarz-weiß zu drehen, sinnvoll. Ein Wechsel zwischen Zeiten durch den Wechsel von farbigem Bild zu schwarz-weiß zu kennzeichnen, würde mit der subtilen Erzählweise des Films brechen. Das durchgängige, kontrastarme Farbschema betont, wie untrennbar verwoben Vergangenheit und Gegenwart miteinander sind.

 

 

Im Film Je’vida erscheint kein Objekt wahllos, kein Dialog beliebig und auch die Sprünge zwischen den Zeiten ergeben ein fragmentarisches, aber chronologisch sinnvolles Bild. Eines, das erst nach und nach vollständig wird, wie das beim Erinnern an weit zurück Liegendes eben der Fall ist.

 

Der Film zeigt anhand von Je‘vidas Schicksal, wie die indigene Bevölkerung von Finnland unter Druck gesetzt wurde, ihre Sprache und Herkunft aufzugeben. Die circa 300 verbliebenen Sprecher*innen der skoltsamischen Sprache bemühen sich heute um den Erhalt ihrer vielfältigen Vokabeln sowie ihrer naturverbundenen Kultur. Je’vida ist, wie auch der schwedische Film Ein Mädchen aus dem Norden aus dem Jahr 2016, ein sorgfältig komponierter Beitrag zu diesem Bestreben.

 

Die Brillanz des Films zeigt sich daran, dass die Handlung auch universell lesbar ist: Sensibel werden allgemeine Fragen nach Herkunft und Erinnerung thematisiert. Konkrete Antworten werden nicht gegeben, allerdings auch an keiner Stelle gesucht. Die Regisseurin Gaurilova ist sich offensichtlich der Besonderheit von Je’vidas fiktiver Perspektive bewusst. Dafür gibt der Film etwas Anderes mit auf den Weg: Eindrucksvolle Bilder, die sich in den Maschen unserer lückenhaften Erinnerung verfangen und auch lange nach Verlassen des Kinos noch nachwirken werden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Katja Gauriloff: Je’vida, Finnland 2023, 99 Min.

 

Quelle der Filmstills und des Filmplakats im Beitrag: https://www.yellowaffair.com/jevida.

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