Julia Cimafiejeva: „Man kann mit seinen Zweigen und Blättern machen, was man will, aber die Wurzeln bleiben dieselben“

Die belarusische Dichterin Julia Cimafiejeva lebt derzeit in Deutschland im Exil; 2025 ist sie Stipendiatin des Berliner Künstlerprogramms des DAAD im Bereich Literatur. Im novinki-Interview, geführt im Juni 2024, erzählt sie von dem Geschmack der belarusischen Sprache, von Erfahrungen des weiblichen Körpers – und von der fatalen Unsichtbarkeit der politischen Gewalt des Lukašenka-Regimes in westlichen Medien.

 

novinki: Guten Tag, Frau Cimafiejeva, ich freue mich sehr auf das Gespräch mit Ihnen. Wir sprechen online. Darf ich Sie fragen, wo Sie sich gerade befinden?

 

Julia Cimafiejeva: Im Moment lebe ich in Hamburg. Nach den Ereignissen von 2020 haben wir – mein Mann Al’herd Bacharėvič (Alhierd Bacharevič), der auch Schriftsteller ist, und ich – Belarus verlassen. Erst waren wir zu Gast bei der Kulturvermittlung Steiermark in Graz, dann wohnten wir in Chemnitz und in der Schweiz, jetzt in Hamburg. Das Großstadtleben habe ich vermisst und es gefällt mir. Wir leben nun schon eine Weile im deutschsprachigen Raum, deswegen lerne ich Deutsch, obwohl ich die Sprache bereits an der Universität gelernt habe – aber das ist schon 20 Jahre her.

 

novinki: Und woran arbeiten Sie aktuell?

 

Cimafiejeva: Ich arbeite an einem neuen Gedichtband auf Belarusisch. Es geht um meine Familienangehörigen. Sie waren Dorfbewohner und Bauern, ganz normale Menschen, die wegen der Kriege und anderer Katastrophen mehrfach umziehen mussten. Zum Beispiel 1986: Nach der Katastrophe von Čornobyl’ wurden wir evakuiert und mussten unser Dorf verlassen. Damals war ich noch ein kleines Mädchen. Und es ist auch ein Buch über mein Leben im Exil.

 

„Man kann mit seinen Zweigen und Blättern machen, was man will, aber die Wurzeln bleiben dieselben. Natürlich nehme ich meine Wurzeln immer mit.“

 

novinki: Sie schreiben viel über Herkunft, die eigenen Wurzeln oder das Leben auf dem Land.

 

Cimafiejeva: Ja, das neue Buch ist eine Art Fortsetzung der Themen, über die ich zuvor geschrieben habe. Für die Belarus*innen ist die Verbindung zu ihren Wurzeln sehr wichtig. Eines der Hauptthemen der belarusischen Literatur ist die Liebe zum ‚Mutterland‘. Das ist oft pathetisch und patriotisch, für mich ist es aber auch ein persönliches Thema. Als kleines Mädchen wollte ich aus dem Dorf wegziehen. Ich wollte in einer Großstadt leben und nichts mehr mit den riesigen Feldern zu tun haben, mit der Arbeit auf dem Land und der Pflege von Tieren und Pflanzen. Ich hasste diese Arbeit. Aber in der Stadt habe ich die Verbindungen zu dem Ort, aus dem ich stamme, und zu den Tätigkeiten meiner Kindheit wiederentdeckt. Jetzt kann ich mir ein Leben ohne Pflanzen zum Beispiel gar nicht mehr vorstellen. Deswegen ist dies auch ein Thema meiner Gedichte. Diese Gedichte sind einerseits autobiographisch, sie integrieren aber auch Motive aus der klassischen belarusischen Literatur wie den Wald oder die Schwäne. In den Gedichten „Feld I“ und „Feld II“ versuche ich diese Motive aufzugreifen und zugleich neu zu behandeln – aber nicht aus der Perspektive eines nostalgischen Bauernkindes, das nun in der Stadt lebt. Vielmehr habe ich versucht, aus der Perspektive einer Dichterin des 21. Jahrhunderts zu schreiben – mit Rückgriff auf die amerikanische und europäische Poesie. Man kann mit seinen Zweigen und Blättern machen, was man will, aber die Wurzeln bleiben dieselben. Natürlich nehme ich meine Wurzeln immer mit.

 

novinki: Das ist eine schöne Metapher.

 

Cimafiejeva: Wenn ich über das Exil spreche, vergleiche ich mich mit einem Baum. In der Schweiz oder in Deutschland sehe ich oft Bäume, deren Äste gekürzt wurden. Diese Bäume müssen ihre Äste neu wachsen lassen, aber die Wurzeln und Stämme bleiben erhalten. So sehe ich mein Leben im Exil, egal in welchem Land.

 

„Unser Körper ist auch die Arena des Kampfes mit der Welt. Das ist etwas, was mir als Frau und Dichterin wichtig erscheint.“

 

novinki: Der Baum ist für Sie auch eine Metapher für den Körper, der in Ihren Gedichten sehr präsent ist. Häufig ist das ein weiblicher Körper: Frauen, die sich die Haare rasieren oder nackt dargestellt werden. Und dann gibt es den fruchtbaren Boden und die Muttersprache. Man kann nicht umhin, das Weibliche überall in Ihrem Werk zu entdecken…

 

Cimafiejeva: Ja, ich betrachte mich selbst als Feministin. An der Universität habe ich Adrienne Richs Lyrik studiert und sie später übersetzt. Ihre Themen sind auch für mich wichtig. Ich bin eine Tochter des intersektionalen Feminismus. Aber das sind nur Konzepte, dazu kommen unsere realen Erfahrungen als Frauen. Durch unseren Körper lernen wir von früh an, denn wir müssen etwas verstecken, wir müssen uns verstellen, wir müssen schön sein oder umgekehrt: Wir wollen hässlich sein. Das Rasieren des Kopfes ist solch ein Akt. Unser Körper ist also auch die Arena des Kampfes mit der Welt. Das ist etwas, was mir als Frau und Dichterin wichtig erscheint. Mir geht es aber auch um den Prozess des Geborenwerdens, Wachsens, Alterns und Sterbens.

 

novinki: Im Gedicht Der Angststein haben wir es mit einer Metapher zu tun, die nicht nur für eine individuelle Angst, sondern auch für kollektive Traumata stehen kann. Wollten Sie dadurch ein kollektives Gefühl erzeugen?

 

Cimafiejeva: Es ist interessant, wie oft ich nach der Lektüre dieses Gedichts in Deutschland Menschen getroffen habe, die mir gesagt haben, dass sie dasselbe für ihr Land fühlen. Der Stein der Angst, der von Generation zu Generation weitergegeben wird, hindert uns daran, die Wahrheit über uns selbst und unsere Vergangenheit zu erfahren, weil diese Wahrheit gefährlich sein kann. Es ist also etwas, das nicht nur für meine Familie oder für Belarus gilt. Und natürlich hilft die Poesie (manchmal sogar besser als Prosa), das auszusprechen, was viele fühlen, aber nicht in Worte fassen können. Es würde mich freuen, wenn Der Angststein in diesem Sinne funktioniert.

 

novinki: Wann wurden Sie sich Ihrer Rolle als Autorin bewusst?

 

Cimafiejeva: Nun, das ist eine komplizierte Frage. Wenn man Gedichte schreibt, kann man nicht erwarten, dass man davon leben kann. Aber mittlerweile betrachte ich mich als professionelle Schriftstellerin. Ich habe schon als Kind geschrieben, mit zwanzig habe ich aufgehört. 2006 habe ich angefangen, Gedichte zu übersetzen. Damals hatte ich einen Job bei einem Mediensender, dabei viel freie Zeit und Internetzugang, also begann ich während der Arbeitszeit zu übersetzen, meistens Gedichte aus dem Englischen ins Belarusische. Durch die Übersetzung wurde mir klar, dass ich meine eigenen Gedichte verfassen möchte. Und zwar in einer Sprache, die ich bei der Übersetzung für mich entdeckt habe, einer anderen als die der traditionellen belarusischen Dichter – ohne Reime und in freien Versen.

 

novinki: Welche Autor*innen haben Ihre Poesie beeinflusst?

 

Cimafiejeva: Ales’ Razananaŭ zum Beispiel. Er wurde ins Deutsche übersetzt und ist leider vor einigen Jahren verstorben. Oder Valžyna Mort, eine belarusische Autorin in meinem Alter, die schon viel früher mit dem Schreiben begonnen hat. Ich entdeckte ihre Gedichte und war fasziniert von der Art und Weise, wie sie die poetische Sprache anders als klassische Autor*innen einsetzt. Außerdem Walt Whitman, Fernando Pessoa, Paul Celan, Anne Sexton, Sylvia Plath oder Adrienne Rich, um nur einige zu nennen.

 

„Ich liebe die belarusische Sprache. Ich liebe, wie sie klingt und ich liebe, wie sie schmeckt.“

 

novinki: Die Sprache ist ein wichtiges Thema für Sie. Was passiert, wenn man die Sprache wechselt, z. B. in Ihrem „My European Poem“?

 

Cimafiejeva: Als ich mich 2006 für die belarusische Sprache als Sprache meines Schreibens und Übersetzens entschied, war das für mich eine ästhetische und keine politische Entscheidung. Denn ich liebe die belarusische Sprache. Ich liebe, wie sie klingt und ich liebe, wie sie schmeckt. Ich habe einmal gesagt, dass sie mir den Mund versüßt, sie ist viel süßer als die russische Sprache. Wenn man auf Russisch schreibt, fühlt man Tolstoj, Dostoevskij, Čechov, usw. Diese bärtigen Männer stehen hinter deinem Rücken und atmen dir in den Nacken. Mit der belarusischen Sprache ist man freier, man kann machen, was man will, z.B. die Illias, Walt Whitman, Virginia Woolf oder James Joyce übersetzen. Es lässt sich so viel schreiben, ohne dass der große Bruder einen überwacht. Trotzdem ist die Sprachenfrage schmerzhaft, denn Belarus ist ein postkolonialer Staat und der Einfluss der russischen Sprache ist sehr groß. Man findet aber kaum jemanden, der in Belarus geboren wurde und keine Ahnung von der Sprache hat. Und nach 2020 und 2022 lernten immer mehr Belarus*innen Belarusisch, sie können wenigstens auf Belarusisch lesen. Wir möchten mehr Literatur ins Belarusische übersetzten, deswegen habe ich zusammen mit meinen Kollegen und Freunden 2009 die Literaturzeitschrift PrajdziSviet gegründet, die sich der Übersetzung ausländischer Texte ins Belarusische widmet. Aber Sie hatten mich nach dem Englischen gefragt…

 

novinki: Ja, ich hatte nach dem Gedicht „My European Poem“ gefragt, das Sie kurz vor den Wahlen und Protesten 2020 auf Facebook veröffentlichten.

 

Cimafiejeva: Ich hatte wenige Tage vor der Wahl 2020 nachts eine Idee. Das waren zunächst nur ein paar Zeilen, aber ich wusste, dass dieses Gedicht auf Englisch verfasst werden sollte. Nur in der Sprache der Gewinner konnte ich dieses Gedicht schreiben, weil wir in Belarus bei so vielen Wahlen die Erfahrung des Scheiterns gemacht haben. Damals konnte ich mit meinen Freunden weder über Hoffnung noch über Angst sprechen, weil es uns banal und gleichzeitig naiv erschien. Wir sprachen über die Ereignisse und das, was vor sich ging, aber wir konnten nicht über eine Veränderung der Lage sprechen, weil es zu schmerzhaft war. Deshalb habe ich es mit einer anderen Sprache versucht, mit der Sprache derer, die sehen, dass diese Welt ihnen gehört. Diese Sprache gab mir die Möglichkeit, über Hoffnung und Angst zu schreiben. So konnte ich aber auch meine Facebook-Freunde erreichen, die aus verschiedenen Ländern kommen.

 

novinki: So erreicht man natürlich ein anderes Publikum.

 

Cimafiejeva: Ja, und in verschiedenen Ländern gibt es auch das Problem mit den Übersetzer*innen aus dem Belarusischen – selbst in Europa. In Deutschland haben wir vielleicht vier Übersetzer*innen. In den Niederlanden gibt es niemanden.

 

novinki: In Ihrem „Minsk. Tagebuch“ (2021) erwähnen Sie, dass Sie eine Zeit lang keine Gedichte schreiben konnten. Wie hat Ihnen das Tagebuch und die Dokumentation der Ereignisse durch Fotografie dabei geholfen, das Geschehen von 2020 zu verarbeiten?

 

Cimafiejeva: Unser aller Leben ist damals so intensiv geworden, dass es unmöglich war, in poetischer Form zu schreiben, weil man dafür Distanz zu den Ereignissen braucht. Zu dieser Zeit haben mein Mann und ich viel über die Situation diskutiert. Ich habe gesagt, dass wir auf die Straße gehen müssen, um an den Protesten teilzunehmen, dass wir auch mit unserem Körper und nicht nur mit unseren Texten dabei sein müssen. Und ich habe natürlich auch Fotos gemacht, weil ich das Gefühl hatte, dass das, was passierte, für Belarus sehr wichtig und einzigartig war. 2020 habe ich aber noch kein Tagebuch geschrieben. Ich hatte wenig Zeit und Lust. Dann wurde ich aber gebeten, einen Essay für die Financial Times zu schreiben, der unter dem Titel „1st of October“ veröffentlicht wurde, und ich dachte: „Hm, die Leute könnten denken, dass das ein Tagebuch sei, obwohl es das nicht ist. Aber ok, warum sollte ich der Financial Times vorschreiben, was sie zu tun hat. Wer bin ich schon?“ Dieser Text wurde in einer schwedischen Zeitung veröffentlicht und ein schwedischer Verleger fragte nach mehr, er wollte ein Tagebuch veröffentlichen. Ich hatte zwar nicht mehr geschrieben, aber den starken Wunsch, meine Erinnerungen für mich und andere Generationen festzuhalten. Wir hatten allerdings nur wenig Zeit. Später in Graz hat Al’hierd mich überzeugt, weiter daran zu arbeiten. Also habe ich angefangen, über die Ereignisse im August und im März 2021 zu schreiben.

 

„Wie kann man in einer solchen Situation sprechen, wenn (…) die belarusische Sprache zur Sprache des Mitangreifers wird?“

 

novinki: Das Tagebuch ist auch ein politischer Text. Sehen Sie Ihr Schreiben (zumindest auch) als eine Form von Protest oder Aktivismus?

 

Cimafiejeva: Ich möchte mich nicht als Aktivistin bezeichnen. Vielleicht sieht es so aus, denn das Schreiben gehört zu unserer Exilerfahrung. Wir können unser Land nicht besuchen, lesen aber jeden Tag über die Verhaftungen und Folterungen, u.a. von unseren Freund*innen. 2020 fühlten sich viele belarusische Autor*innen sprachlos, aber langsam begannen wir, über die Gewalt zu schreiben. 2022 gab es dann aber einen weiteren Moment der Sprachlosigkeit, da Belarus als Mitangreifer im russischen Krieg gegen die Ukraine galt und heute noch gilt. Wie kann man in einer solchen Situation sprechen, wenn das eigene Land so gesehen wird und wenn die belarusische Sprache zur Sprache des Mitangreifers wird? Lukašenka hasst die belarusische Sprache und unterdrückt sie in vielerlei Hinsicht. Es ist eine sehr sensible Situation. Ich war seit fast vier Jahren nicht mehr in Belarus und fange an, Orte und Bilder zu vergessen, sogar die Straßennamen, also schreibe ich darüber. Gleichzeitig werden wir zu Veranstaltungen, Diskussionen und Festivals eingeladen und natürlich sprechen wir dort über die politische Situation in Belarus. Wir sehen es als unsere Aufgabe an, wir sprechen dort aber nicht in künstlerischer, sondern in publizistischer Sprache. Vielleicht sollte man Poesie nicht wie eine Waffe einsetzen.

 

novinki: Das schränkt den Text auch ein…

 

Cimafiejeva: Und vereinfacht. Das Politische vereinfacht alles, und das will ich nicht.

 

„Wir haben es nicht gewollt, aber wir haben das Gefühl, dass wir es machen müssen: über die Situation von Belarus zu sprechen, wo wir eine Bühne haben. Natürlich tun wir das.“

 

novinki: Ihr Gedichtband Motherfield, der 2022 auf Englisch erschien, hat international viel Aufmerksamkeit erlangt. Sie sind eine hörbare belarusische Stimme im Ausland geworden. Fühlen Sie sich verantwortlich, Ihrer Kultur gerecht zu werden?

 

Cimafiejeva: Ein Professor und Freund von uns, Heinrich Kirschbaum, hat in einer Diskussion die belarusischen Autor*innen als Kulturbotschafter von Belarus bezeichnet. Und natürlich spüren wir das. Wir haben es nicht gewollt, aber wir haben das Gefühl, dass wir es machen müssen: über die Situation von Belarus zu sprechen, wo wir eine Bühne haben. Natürlich tun wir das.

 

novinki: Für belarusische Autor*innen ist es schwierig geworden, ihre Texte in Belarus zu veröffentlichen. Viele veröffentlichen jetzt im Ausland. Wie würden Sie den Literaturmarkt in Belarus heute beschreiben, auch im Vergleich zu vorher?

 

Cimafiejeva: Ich würde nicht sagen, dass wir früher einen umfangreichen Markt hatten. Aber es ist richtig, nach den Protesten von 2020 wurden viele Verlage geschlossen, ihnen wurden die Lizenzen entzogen. Einige der Verleger*innen kamen ins Gefängnis oder verließen das Land. Momentan gibt es vielleicht ein oder zwei unabhängige, nicht-staatliche Verlage, die in Belarus arbeiten und versuchen, weiterhin belarusische Bücher zu veröffentlichen, aber sie sind sehr vorsichtig und vermeiden politische Themen. Wir haben mehrere Verlage, die im Ausland arbeiten, zum Beispiel Januškevič oder Gutenberg in Polen, Skaryna Press in Großbritannien, hochroth Minsk in Berlin, Vesna in Prag. Sie geben Gedichte in belarusischer und russischer Sprache heraus. Und wir als Autor*innen nehmen an Veranstaltungen und Lesungen für die belarusische Öffentlichkeit teil. Zum Beispiel hatten Al’hierd und ich im Mai 2024 eine Tournee für das belarusische Publikum, mit zweien unserer Verleger, Andrej Januškevič und Siarhej Šupa. Wir waren in den baltischen Ländern, in Breslau und in Prag. Die Situation der belarusischen Literatur ist außerhalb des Landes nicht schlechter als vor 2020. Im Land aber gibt es Zensur, man kann für Likes und Kommentare verhaftet werden, und das kulturelle Leben ist in den Untergrund gegangen.

 

„Aber wurden unsere Antworten – die Antworten der Autor*innen aus einem ‚bedauernswerten‘ Land – wirklich ernst genommen? Wurden unsere Warnungen wirklich gehört? Mittlerweile wird die Verschlechterung der politischen Situation in Belarus unsichtbar.“

 

novinki: In Ihrem Gedicht „Interview“, das 2022 wenige Wochen nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine verfasst wurde, schreiben Sie, dass von den westlichen Medien immer dieselben Fragen gestellt werden. Was könnte sich verbessern?

 

Cimafiejeva: Das stimmt, ich bin ein bisschen müde von den immer gleichen Fragen, die mir gestellt werden, aber noch müder bin ich von den immer gleichen Antworten, die ich geben muss. Antworten, die man sofort wieder vergisst. 2020 und 2021 gaben Al’hierd und ich zusammen, aber auch einzeln, mehrere Dutzend Interviews über die damalige Situation in Belarus und die Rolle Putins darin. Aber wurden unsere Antworten – die Antworten der Autor*innen aus einem „bedauernswerten“ Land – wirklich ernst genommen? Wurden unsere Warnungen wirklich gehört? Mittlerweile wird die Verschlechterung der politischen Situation in Belarus unsichtbar. Generell gilt ein politisches Interview in der westlichen Gesellschaft als ein Produkt. Wir verwenden Ressourcen, um es zu produzieren, aber die Lebensdauer eines Interviews ist so kurz wie die einer Plastiktüte.

 

novinki: Was sind Ihre Pläne für die nahe Zukunft?

 

Cimafiejeva: Momentan ist es schwer, Pläne zu machen. Wir wissen nicht, wie unsere Zukunft in drei Monaten oder einem Jahr aussehen wird, also plane ich weiterzuleben und weiterzuschreiben.

 

novinki: Vielen Dank für das Gespräch!

 

Im Interview erwähnt: Die deutschen Ausgaben sind bei der edition.fotoTAPETA (Berlin), die englische Gedichtsammlung bei Deep Vellum (Dallas) erschienen. Bildquellen: edition-fototapeta.eu / deepvellum.org.

 

Literaturverzeichnis:

Cimafiejeva, Julia: Der Angststein. Berlin 2022.

Cimafiejeva, Julia: Minsk. Tagebuch. Berlin 2021.

Cimafiejeva, Julia: Zirkus. Gedichte. Berlin 2019.

Cimafiejeva, Julia: Motherfield. Dallas (Texas) 2022.

 

Das Titelbild zeigt Julia Cimafiejeva, aufgenommen von Al’herd Bacharėvič. Quelle: Julia Cimafiejeva.

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