Kriegsgedenken und Solidarität mit der Ukraine – in der Brandenburger Peripherie

Gemeinsames Kriegsgedenken und Solidarität mit der Ukraine in der Brandenburger Peripherie: Die Initiative „Schönhagen hilft“ organisierte am sog. „Tag der Befreiung vom Faschismus“, dem 9. Mai 2022, einen kulturellen Begegnungsraum mit Gedichten, Kurzgeschichten und Musik – von, für und mit geflüchteten Ukrainer:innen und Anwohner:innen der Gemeinde Gumtow – und schaffte es, den in diesen Zeiten so wichtigen kolonialgeschichtlichen Bogen zwischen Zweitem Weltkrieg und russischem Vernichtungskrieg zu spannen. Die folgende Reportage berichtet – in einer Rückblende – von Solidarität und stellt wichtige Fragen der Erinnerung.

 

Wie an das Ende des Zweiten Weltkriegs erinnern, wenn ein Land inmitten Europas von einer neuen historischen Katastrophe, von überkommen geglaubter Kriegsrohheit und genozidalen Greueltaten überzogen wird? Wenn der Siegestag über den Hitlerfaschismus von der russischen Seite als Triumph des Putinfaschismus zelebriert wird – ohne ihn selbst als solchen zu benennen?

Die Initiative „Schönhagen hilft“, die ukrainischen Geflüchteten in idyllisch-ländlicher Dörflichkeit Wohnraum und Einbindung in einen offenen, lokalen Kontext ermöglichen möchte, hat eine Veranstaltungsreihe ins Leben gerufen, die die Verbindungen zwischen der ukrainischen und deutschen Kultur zu stärken bestrebt ist – über die Sinnesebenen von Lyrik, Prosa, Kulinarik und Musik.

Felder vor blauem Himmel und Ortsschild Schönhagen, © Elisabeth Bauer

 

Am Sonntag, 8. Mai 2022, fand unter Mitwirkung der neuen ukrainischen Mitbürger:innen sowie Anwohner:innen der Gemeinde Gumtow in der Schönhagener evangelischen Kapelle die Auftaktveranstaltung eines kulturellen Begegnungsraums statt. Auch aus Berlin waren Gäste angereist, insgesamt kamen etwa vier Dutzend Besucher:innen.

Die aus Luhansk stammende ukrainische Schauspielerin Valeriia Kuzmenko, in den letzten Jahren am Molodyy Teatr in Kyjiw engagiert, und die in Karl-Marx-Stadt geborene Schauspielerin Kirsten Block, u.a. durch ihre Auftritte im „Tatort“ bekannt, trugen Gedichte vor: etwa von der namhaften ukrainischen Dichterin Lina Kostenko (*1930) oder den sowjetischen Dissidentenkreisen angehörenden Dichtern Vasyl‘ Stus, Ivan Dratsch und Vasyl‘ Simonenko – für diese Veranstaltung erstmals ins Deutsche übertragen.

Kurzgeschichten von Bertold Brecht, Wolfgang Borchard sowie den zeitgenössischen ukrainischen Autoren Andrij Bondar und Serhij Zhadan wurden verlesen. Zwischendurch ermöglichten musikalische Einlagen des Saxophonisten Thomas Pertzel und des Schauspielers und Liedermachers Stefan Jürgens für Momente der Andacht und Reflexion. Ein ukrainisches Büffet erwartete die Gäste auf dem Gemeindeplatz – zwischen Wiesen und rapsgelben Feldern.

 Veranstaltungsplakat, © Elisabeth Bauer

Inka Thunecke und ihren Mitstreiter:innen von der Schönhagener Initiative ist es zu verdanken, dass an diesem historischen Tag ein rundes Programm mit ukrainischen und deutschen Beitragenden zustande gekommen ist – und es dabei auch an einem kontextualisierenden historischen Überbau nicht fehlte.

„Wenn wir uns heute fragen, was denn die Ukrainer mit solcher Vehemenz verteidigen, so ist es mit einem Wort gesagt: Die Freiheit“, sagte die Co-Gründerin der Phronesis Diskurswerkstatt und langjährige Geschäftsführerin der Heinrich-Böll-Stiftung Brandenburg in ihrer Begrüßungsrede.

So verpasste es Thunecke auch nicht, die so wichtige Verbindung zwischen stalinistischem Holodomor, systematischen NS-Verbrechen – wie den Massenmorden in der Kyjiwer Schlucht Babyn Jar – und dem aktuellen Krieg im Namen eines neuen, russländischen Faschismus auf dem Territorium der heutigen Ukraine, deren Unabhängigkeit nicht erst seit diesem Frühjahr gefährdet ist, hervorzuheben. Osteuropahistoriker Timothy Snyder, der mit seinem Buch „Bloodlands“ einen angemessenen Begriff für jene doppelte Topographie kolonialer, terroristischer Verbrechen gefunden hat, betont, dass die Ukraine im Zweiten Weltkrieg so viele zivile Opfer wie kein anderes (postsowjetisches) Land zu verzeichnen hatte.

Valeriia Kuzmenko, Kirsten Block, Inka Thunecke © Elisabeth Bauer
Valeriia Kuzmenko © Elisabeth Bauer

 An diesem 77. Jahrestag der „Befreiung“ Deutschlands vom Faschismus, wurde in Schönhagen ein Zeichen für den entschiedenen Kampf für Freiheit und Demokratie gesetzt. Jedoch machte die Veranstaltung besonders eines deutlich: dass die ukrainische Kultur fatalerweise – trotz schicksalshafter Verstrickungen – bis heute ein blinder Fleck auf der deutschen Bewusstseins- und Erinnerungskarte ist, den es weiter auszuleuchten gilt.

„Italien oder Frankreich ohne Literatur verstehen, das geht nicht. Die Ukraine ohne Literatur verstehen – das geht genauso wenig“, sagt die Frau, der so viel daran gelegen ist, soziale und politische Themen in die Brandenburger Peripherie zu bringen – und sich dabei auch für den ukrainisch-deutschen Austausch engagiert.

Die Ukrainerin Valeriia Kuzmenko, Anfang zwanzig, fühlte sich unterdessen nach der Lesung in der Ortskapelle – ihr erster Auftritt seit der Invasion vom 24. Februar 2022 – in mehrfacher Hinsicht schmerzlich an ihr zeitweilig verlorenes Heimatland erinnert: Die Rapsfelder und der blaue Himmel, Gelb und Blau, hätten auf dem Weg die ukrainische Nationalflagge vor ihren Augen aufziehen lassen. Und die alte Kastanienallee im Dorf Schönhagen, gerade in üppiger Blüte stehend, erinnere sie an die grünen, von Kastanien gesäumten Straßen von Kyjiw.

 

Die Initiative Schönhagen hilft! sammelt fortlaufend Spenden, etwa, um den neuen ukrainischen Mitbürger:innen Sprachkurse anbieten zu können. Spende sind herzlich willkommen und können an folgendes Spendenkonto gerichtet werden: 

 

Sparkasse Prignitz: „Schönhagen hilft“ / IBAN: DE07 1605 0101 1010 0176 80.

Mehr Infos: https://www.phronesis-diskurs.de/schoenhagen-hilft

Video-Aufzeichnung der Veranstaltung: https://vimeo.com/778833437?embedded=true&source=video_title&owner=147342138

 

Kastanienbaum in Schönhagen, © Elisabeth Bauer

Ivan Drač, Vasyl’ Stus und Vasyl’ Symonenko in Übersetzung

Іван Драч – Соняшний етюд

Де котиться між голубих лугів

Хмарина ніжна з білими плечима,

Я продаю сонця – оранжові, тугі,

З тривожними музичними очима.

Ось сонце віри, чисте і просте,

Ось сонце міри з віжками на храпах,

Ось сонце смутку, звідки проросте

Жорстока мудрість в золотих накрапах.

І переливно блискотять сонця

Протуберанцями сторч головою.

Беріть сонця – кладіть мені серця,

Як мідяки, пожмакані журбою.

Я ваші душі клином обмину,

Я не поставлю їх на п’яні карти,

А що сонця за дорогу ціну,

То сонце завжди серця варте.

 

“Вітчизна”, 10, 1961

Ivan Drač: Sonnenetüde 

Wo sich zwischen blauen Wiesen dreht

Eine sanfte Wolke mit weißen Schultern

Verkaufe ich Sonnen — orangene, traurige,

Mit ängstlichen, musikalischen Augen.

Hier die Sonne des Glaubens, schlicht und einfach.

Hier die Sonne des Maßes, im Zaume gehalten,

Hier die Sonne der Trauer, aus der erwächst

Die grausame Weisheit in goldenen Tröpfchen.

Und grell funkeln die Sonnen

Mit Protuberanzen auf des Kopfes Höhe.

Nimm die Sonnen — gib mir die Herzen,

Wie Kupfer, von Kummer zermahlen.

Ich werde eure Seelen mit dem Keil verschonen,

Ich setze sie nicht trunken auf’s Spiel,

Und die Sonnen zu hohem Preise,

Die sind immer ein Herz wert.

 

„Vaterland“, 10, 1961

Іван Драч – Нічний етюд

Не кров з молоком, а кров із ніччю –

Про тебе задумуватись весняною порою

І сльози збирати по твоєму обличчю

Тугою всезнаючою рукою.

Ти – спеки настій. Ти – пустеля палюча.

В тобі заблукати, а потім не вийти.

Ти – пристрасті дикої горда круча,

З якої кидатись несамовитим.

Руки обплетені, вуста обпалені

Глибинними незагнузданними пожежами,

І зеленокоса ніжність пальми

Тебе не схолодить своїми одежами.

Зорі б тобі підійшли за намисто,

Та од захоплення повмирають…

І як ти землі не підпалиш, вогниста,

 

Мій буйний,

Мій карий,

Мій чорний раю!

Ivan Drač: Nachtetüde 

Kein Blut mit Milch, sondern Blut mit Nacht –

An dich in der Frühlingszeit zu denken

Und Tränen von deinem Gesicht zu lesen

Mit bestimmter, allwissender Hand.

Du – ein Hitzeextrakt. Du – eine sengende Wüste.

Sich in dir verlieren und dann nicht rauskommen.

Du – ein stolzer Hang wilder Leidenschaft,

Von dem es einen ungestüm hinunterreißt.

Die Hände gebunden, die Lippen verbrannt

Von tiefen, unbändigen Feuern,

Und die grün-züngelnde Sanftheit der Palme

Kühlt dich mit ihren Kleidern nicht ab.

Sterne würden dir als Halsschmuck dienen

Und vor Verzückung sterben…

Wenn du die Erde nicht anzündest, feurig,

 

Mein wildes,

Mein braunes,

Mein schwarzes Paradies!

Василь Стус: За мною Київ тягнеться у снах

 

За мною Київ тягнеться у снах.

Зелена глиця і темнава червінь

достиглих черешень. Не зрадьте, нерви:

попереду — твій край, твій крах, твій прах.

Прослалася дорога — вся в снігах,

і простори — горбаті і безкраї —

подвигнуть розпач. О коханий краю,

ти наче посаг мій — у головах.

І сива мати височіє в снах.

Рука її, кістлява, наче гілка

у намерзі. Лунає десь гагілка,

і в сонці стежка. Й тупіт у степах.

 

Vasyl’ Stus: Kyjiw folgt mir in den Träumen 

 

Kyjiw folgt mir in den Träumen.

Grüner Glanz und ein dunkler Wurm

in reifen Kirschen. Verratet es nicht, Nerven:

vor dir – dein Land, dein Verderben, dein Staub.

Gepflastert war die Straße ganz in Schnee

und die Ebenen – hügelig und grenzenlos –

rufen Verzweiflung hervor. Oh, geliebtes Land,

du bist wie meine Mitgift – in den Köpfen.

Ergraut, erhebt sich die Mutter in den Träumen.

Ihre Hand, knochig, wie ein Ast im Frost.

Irgendwo ertönt ein Gurgeln, im Sonnenstrahl.

Und ein Stampfen in der Steppe.

Василь Симоненко: Ми думаєм про вас…

 

Ми думаєм про вас. В погожі літні ночі,

В морозні ранки, і вечірній час,

І в свята гомінки, і в дні робочі

Ми думаємо, правнуки, про вас.

Ми думаєм про вас – і тому наші руки

Не в’януть біля плуга і станка,

Тому серця у нас не витончена мука,

А радість голосиста і дзвінка.

Ні, то не сум промінить риса кожна,

То творчість б’є з натхненних наших віч,

А творчість завжди мрійна і тривожна,

Немов травнева неспокійна ніч.

Ні, сонний спокій зовсім нам не сниться,

Ні, нас не вабить ніжна тишина –

Прийдешнє осяває наші лиця,

Неспокій творчий з вічністю єдна.

І тому ми спокійно і суворо

Стрічаємо у праці і борні

Наклепи злобні і тупі докори,

Потоки божевільної брехні.

Ми думаєм про вас. В погожі літні ночі,

В морозні ранки і вечірній час,

На свята гомінки і в дні робочі,

Нащадки дорогі, ми захищаєм вас.

 

 

1.II.1958

Vasyl’ Symonenko: Wir denken an euch…

 

Wir denken an euch. In heiteren Sommernächten,

An frostigen Morgen, in der Abendstunde,

Sowohl an Feier- als auch an Werktagen

Wir denken an euch – damit unsere Hände

Neben Pflug und Maschine nicht niedersinken,

Damit unsere Herzen kein feines Mehl sind,

Sondern die Freude laut und tönend sei.

Nein, nicht Traurigkeit durchzieht jeden Zug,

Kreativität schlägt aus unseren leuchtenden Augen,

Kreativität ist immer träumerisch und ängstlich,

Wie eine unruhige Mainacht.

Nein, wir träumen nicht von schläfriger Ruhe,

Nein, lassen uns nicht von schmeichelnder Stille verlocken –

Das Kommende erhellt unsere Gesichter,

Schöpferische Unruhe ist mit der Ewigkeit vereint.

Und darum sind wir ruhig und hart

Begegnen bei der Arbeit und im Kampfe

Boshaften Verleumdungen und stumpfen Vorwürfen,

Strömen wahnsinniger Lügen.

Wir denken an euch. In heiteren Sommernächten,

An frostigen Morgen, in der Abendstunde,

Sowohl an Feier- als auch an Werktagen,

Liebe Nachkommen, wir beschützen euch.

 

1.II.1958

Übersetung: Elisabeth Bauer

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