http://www.novinki.de

Ein lyrischer Kreuzweg

Posted on 27. Februar 2008 by Anne Krier
Die Lyrik der russischen Avantgardedichterin Nina Chabias lässt eine Welt im Taumel sinnlichen Empfindens und Erleidens entstehen, in der Lust und Schmerz, Erotik und Glaube miteinander verschmelzen. Eine Wiederentdeckung.

Die Gedichte der Nina Chabias

 

Verheißend exotisch, rätselhaft und etwas verrucht: so präsentiert sich der kürzlich im Leipziger Literaturverlag Erata unter dem Titel Guttapercha des gänsehäutigen Gehänges erschienene Gedichtband der russischen Avantgardedichterin Nina Chabias. Die Autorin selbst, im Klappentext zudem als „Dichterin der Moskauer Kutscher“ angekündigt, schien, im Unterschied zum Verlag, Wert auf Schlichtheit zu legen: denn jene Titel, die die Chabias ihren nun in deutsch-russischer Fassung publizierten Gedichtbänden gegeben hatte, lauten bloß Stichetty (Versette, 1922) und Stichi (Gedichte, 1926). Neben diesen beiden Textgruppen, die aus neun, respektiv 32 knapp proportionierten Gedichten der Jahre 1919 bis 1921 und 1920 bis 1925 bestehen, präsentiert Guttapercha des gänsehäutigen Gehänges noch zwei weitere Sammlungen: Nesobrannoe (Verstreutes) und DUBIA, die verstreut oder gar nicht publizierte Werke der Dichterin enthalten. Die Gedichte begleiten sechzehn dezent erotisch angehauchte Illustrationen der jungen Petersburger Künstlerin Djamal Dumabaeva, die das Image der Chabias als dekadenter Erotomanin noch unterstreichen.

Dass hier nicht die literarischen Ergüsse eines die Avantgardeszene der 20er Jahre heimsuchenden Vamps, sondern ernstzunehmende Dichtung präsentiert wird, betont der wissenschaftliche Apparat, in den die Gedichte eingebettet sind. Die voyeuristische Vorfreude des auf den „rätselhaftesten und zugleich anstößigsten“ Namen der russischen Literatur gespannten Lesers dämpft vor allem das Nachwort der Übersetzerin Henrike Schmidt, einer bekannten, derzeit an der Freien Universität Berlin tätigen Slavistin. Im Unterschied zu Schmidt, die im Nachwort eine erste und dennoch tief schürfende literaturwissenschaftliche Analyse der Gedichte vornimmt, gelingt es dem Vorwort Sergej Birjukovs bedauerlicherweise jedoch nicht, über die Darstellung der publikumswirksam skandalträchtigen Autorbiographie hinauszugehen.

Bei Birjukov erfährt der Leser von der vornehmen Herkunft und Erziehung der jungen Nina Petrovna Komarova (geboren 1892) und von ihrem Aufenthalt in Sibirien, wo die junge Frau während des Bürgerkriegs einen gewissen Obolenskij, einen weißen Kommandeur und vielleicht sogar Grafen, ehelichte. Hier begann sie, sich in ihre eigene Mystifikation zu verwandeln: die Chabias, eine erotisch provozierende und überlange Papirossi rauchende Dichterin. Nachdem Nina Chabias sich mit extravaganten öffentlichen Auftritten, ihrer Bekanntschaft zu den bekanntesten Vertretern der Avantgarde (darunter Namen wie Sergej Esenin, Boris Sadovskoj, Aleksej Kručonych und David Burljuk), sowie einem für seine Obszönität verschrienen Gedichtband (Stichetty, 1922) einen Namen gemacht hat, endet ihre literarische Karriere Ende der 20er Jahre. 1926 muss Nina Chabias - wahrscheinlich aus Geldmangel - auf den Druck ihres zweiten, schon fertig gesetzten Buches (Stichi) verzichten. Aus der wilden Dichterin wird nun eine Übersetzerin und, 1937, ein Opfer der stalinistischen Säuberungen. Nach dem berüchtigten Paragraphen 58 wird die Chabias zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt – wieder scheint sie ‚Glück’ zu haben, denn sie wird im Jahre 1942 vorzeitig entlassen. Nach Moskau jedoch kehrt sie nie zurück: 1943 taucht Nina Chabias in der turkmenischen Stadt Mary auf, dann aber verliert sich ihre Spur. Wo und wann sie gestorben ist, bleibt unbekannt.

So weit, so gut. Doch hätte man sich gewünscht, dass ein anerkannter Literaturwissenschaftler wie Birjukov von der leidigen Angewohnheit der Verlagswerbung und der Literaturkritik, das Publikumsinteresse immer zuerst auf die Person des Autors zu lenken, abrückt. Sollte Birjukov dies mit seinen Anspielungen auf einen „skandalumwitterten“ Esenin-Kreis, poetische Strömungen wie die Neoklassiker, die Zaumniki, die Imaginisten und Futuristen, sowie Verweise auf Dichter wie Burljuk, Kručonych, Šeršenevič und andere, die über die Dimension des literarischen Klatsches kaum hinausgehen, bezweckt haben, so ist es ihm misslungen: Einem mit der russischen Literaturgeschichte nicht vertrauten Leser bleibt nur der Griff zum Nachschlagewerk.

Einen wichtigen Hinweis darüber, wie die Gedichte der Chabias n i c h t zu lesen sind, gibt Birjukov seinem Leser dennoch: Nina Chabias schrieb
k e i n e Pornographie. Die Chabias schreibt von Körpern und der Liebe der Körper - doch schreibt sie weniger von der Lust, als von der Qual der Liebe. Und sie schreibt von der Lust der Qual: Der weibliche Körper, den die Chabias „in all seinen Formen und Falten“ nachzeichnet, durchläuft in den Gedichten des Bandes Stichetty einen erotischen Kreuzweg, an dessen Stationen Schmerz, Tod und Lust, Körperliches und Geistiges, sexuelle und religiöse Ekstase ineinander verschmelzen. So schreibt Chabias in einem ihrer frühen Gedichte (1912/1921): „Genug des tierischen Laufs im Rad/Den Hals verdreht die Schlinge aus Draht/Dem Sperma erwärmten Leib/Stellt der Täufer eine Kerze bei“ („Dovol’no kolesa belok/Arkane šeju tjanut’/Nad otoplennom spermoj telu/Krestitel’ postavil sveču“). Eros und Thanatos stehen in den wie bezugslos aneinander gereihten Versen nebeneinander und werden erst in der fließenden Grenze zwischen Sexuellem und Religiösem, in der engen Verwandtschaft zwischen dem Motiv der Taufe und dem der Profanierung des weiblichen Körpers durch den Geschlechtsakt – der doch gleichzeitig als wärmend und somit Leben spendend erscheint - miteinander vereint.

Diese enge Verquickung von Glauben, Gewalt und Erotik besitzt provokatives Potenzial, tendiert aber nie zur Vulgarität. Auch die obszöne Lexik, mit der ihre Gedichte angeblich „gespickt“ sein sollen, verwendet die Chabias recht selten. An der richtigen Stelle eingesetzt, offenbaren sich Einschübe wie „dem Sperma erwärmten Leib“ oder „die ausgewaschene klebrige Vulva“ jedoch als prägnanter als die durchgängige Verwendung von einschlägigem Vokabular. Eindeutige Bilder entstehen vor dem inneren Auge des Lesers auch durch gelungene Verschiebungen (‚sdvigi’), die ganz im Sinne der transrationalen Sprache der „zaumniki“ neue Wörter hervorbringen und Grammatik und Syntax dekonstruieren. So etwa der dem Vierzeiler Autograph (Avtograf, 1921) entnommene Titel der deutschen Ausgabe: Guttapercha des gänsehäutigen Gehänges (Gutaperču gusinyh mudej: wobei allerdings zu bemerken ist, dass das deutsche „Gehänge“ dem russischen „mudi“ an obszöner Ausdruckskraft um einiges unterlegen ist), eine Metapher, die an Einprägsamkeit ihresgleichen sucht. Ein Ausdruck aus der Botanik („Guttapercha“ bezeichnet den eingetrockneten Saft des malaiischen Guttapercha-Baumes, eine dem Kautschuk ähnliche Masse) wird hier kombiniert mit dem ersten Teil des russischen Ausdrucks für „Gänsehaut“ – „gusinaja koža“ – wobei die Haut aber durch das ordinäre „mudi“ ersetzt wird.

Schon hier deutet es sich an: Die Körper, die, wie Henrike Schmidt bemerkt, „in den Gedichten zur Sprache kommen, sind nicht schön“. Lächerlichkeit und Hässlichkeit, Leid und Tod, sie begleiten diese oft geschundenen Körper bis in die Tiefen der Lust: Hinter dem aufs Äußerste gereizten, körperlichen Empfindungsvermögen lauern Ekel und Angst. Die Dichterin, die eines ihrer Gedichte voll Freude jauchzen lässt: „Die Sonne mein Euter lecklauste/Poliert Kuppel Bauch/Zog die Wollust wie Gummi/Lausche das Schüstern der Schritte“ (Solnce moe vymja livyzalo/Loščit kupol život/Vytjanul smako rezinoj/slušaju šohot šagov“, ohne Titel, 1920), entwickelt in anderen Gedichten eine scharfe Beobachtungsgabe für Alter, Zerstörung und Zerfall inmitten altbekannter Lustgefühle. „O wie freudlos, wie karg der Abend/O wie das erregte Gesicht verbergen/In dem zertrampelten Beet/Meiner schielenden Tage.“ („O kak bezradosten, kak skuden večer/O kak lico trevožnoe sbereč’/Vrastrepannoj grjade/Moih raskosyh dnej“), schreibt sie an anderer Stelle. Erinnerte Lebensfreude steht gegen grausame Einsamkeit und erlösenden Tod: „Armselig wölfisch das Altern,/Wenn in grauen Schachteln die Zähne/Erkalten in goldener Fassung, -/Denk ich ans gelbe China und die Omsker/Burjaten breitlippig und stürmisch.“ (Ètoj vol’čej niščenskoj starost’ju,/Kogda v korobočkah seryh zuby/Stynut zolotoj oprave, -/Pomnju želtyj Kitaj i Omskih/Širokogubyh, pyl’nyh burjat.“

Nina Chabias’ „Gesamtwerk“, das durch Guttapercha des gänsehäutigen Gehänges wohl vollständig zugänglich gemacht worden sein dürfte, ist entsprechend der kurzen Schaffensperiode der Dichterin wenig umfangreich. Im Zentrum ihres Schaffens steht ein ausgeprägtes Interesse für alles Körperliche: selbst in den Gedichten, die nicht direkt dem Eros gewidmet sind, sticht die Faszination der Chabias für den weiblichen Körper im Brennpunkt sinnlichen Erlebens und Erleidens ins Auge. Körperbilder und körperliches Erleben strukturieren sowohl religiöse, wie alltägliche Themen, Gedichte mit biblischen Reminiszenzen, wie solche, die von herrenlosen Hunden oder trächtigen Katzen handeln. Zwar sind, mit Ausnahme der durch die Kubo-Futuristen hochgeschätzten Verschiebungen, die sprachlichen Mittel und die Symbolik, die die Gedichte gestalten, eher traditionell (Nina Chabias arbeitet vor allem mit die Inkongruenz ihrer Grammatik kontrastierenden Alliterationen und Assonanzen), die Schonungslosigkeit jedoch, mit der die Dichterin eine vor geschundenen Körpern geradezu wuchernde Welt entblößt, entspricht, ebenso wie ihre provokante Lebenshaltung, den revolutionären Ansprüchen jener Generation von Schriftstellern, die zu Beginn der 20er Jahre das Gesicht der russischen Avantgarde prägten.

 

Nina Chabias: Guttapercha des gänsehäutigen Gehänges. Gedichte. Aus dem Russischen übersetzt und kommentiert von Henrike Schmidt. Edition Erata. Leipzig 2008.

Ein lyrischer Kreuzweg - novinki
Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Ein lyri­scher Kreuzweg

Die Gedichte der Nina Chabias

 

Ver­hei­ßend exo­tisch, rät­sel­haft und etwas ver­rucht: so prä­sen­tiert sich der kürz­lich im Leip­ziger Lite­ra­tur­verlag Erata unter dem Titel Gut­ta­percha des gän­se­häu­tigen Gehänges erschie­nene Gedicht­band der rus­si­schen Avant­gard­e­dich­terin Nina Chabias. Die Autorin selbst, im Klap­pen­text zudem als „Dich­terin der Mos­kauer Kut­scher“ ange­kün­digt, schien, im Unter­schied zum Verlag, Wert auf Schlicht­heit zu legen: denn jene Titel, die die Chabias ihren nun in deutsch-rus­si­scher Fas­sung publi­zierten Gedicht­bänden gegeben hatte, lauten bloß Sti­chetty (Ver­sette, 1922) und Stichi (Gedichte, 1926). Neben diesen beiden Text­gruppen, die aus neun, respektiv 32 knapp pro­por­tio­nierten Gedichten der Jahre 1919 bis 1921 und 1920 bis 1925 bestehen, prä­sen­tiert Gut­ta­percha des gän­se­häu­tigen Gehänges noch zwei wei­tere Samm­lungen: Nes­obrannoe (Ver­streutes) und DUBIA, die ver­streut oder gar nicht publi­zierte Werke der Dich­terin ent­halten. Die Gedichte begleiten sech­zehn dezent ero­tisch ange­hauchte Illus­tra­tionen der jungen Peters­burger Künst­lerin Djamal Duma­baeva, die das Image der Chabias als deka­denter Ero­to­manin noch unterstreichen.

Dass hier nicht die lite­ra­ri­schen Ergüsse eines die Avant­gar­de­szene der 20er Jahre heim­su­chenden Vamps, son­dern ernst­zu­neh­mende Dich­tung prä­sen­tiert wird, betont der wis­sen­schaft­liche Apparat, in den die Gedichte ein­ge­bettet sind. Die voy­eu­ris­ti­sche Vor­freude des auf den „rät­sel­haf­testen und zugleich anstö­ßigsten“ Namen der rus­si­schen Lite­ratur gespannten Lesers dämpft vor allem das Nach­wort der Über­set­zerin Hen­rike Schmidt, einer bekannten, der­zeit an der Freien Uni­ver­sität Berlin tätigen Sla­vistin. Im Unter­schied zu Schmidt, die im Nach­wort eine erste und den­noch tief schür­fende lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Ana­lyse der Gedichte vor­nimmt, gelingt es dem Vor­wort Sergej Bir­jukovs bedau­er­li­cher­weise jedoch nicht, über die Dar­stel­lung der publi­kums­wirksam skan­dal­träch­tigen Autor­bio­gra­phie hinauszugehen.

Bei Bir­jukov erfährt der Leser von der vor­nehmen Her­kunft und Erzie­hung der jungen Nina Petrovna Koma­rova (geboren 1892) und von ihrem Auf­ent­halt in Sibi­rien, wo die junge Frau wäh­rend des Bür­ger­kriegs einen gewissen Obo­lenskij, einen weißen Kom­man­deur und viel­leicht sogar Grafen, ehe­lichte. Hier begann sie, sich in ihre eigene Mys­ti­fi­ka­tion zu ver­wan­deln: die Chabias, eine ero­tisch pro­vo­zie­rende und über­lange Papi­rossi rau­chende Dich­terin. Nachdem Nina Chabias sich mit extra­va­ganten öffent­li­chen Auf­tritten, ihrer Bekannt­schaft zu den bekann­testen Ver­tre­tern der Avant­garde (dar­unter Namen wie Sergej Esenin, Boris Sadovskoj, Aleksej Kruč­onych und David Burljuk), sowie einem für seine Obs­zö­nität ver­schrienen Gedicht­band (Sti­chetty, 1922) einen Namen gemacht hat, endet ihre lite­ra­ri­sche Kar­riere Ende der 20er Jahre. 1926 muss Nina Chabias – wahr­schein­lich aus Geld­mangel – auf den Druck ihres zweiten, schon fertig gesetzten Buches (Stichi) ver­zichten. Aus der wilden Dich­terin wird nun eine Über­set­zerin und, 1937, ein Opfer der sta­li­nis­ti­schen Säu­be­rungen. Nach dem berüch­tigten Para­gra­phen 58 wird die Chabias zu zehn Jahren Lager­haft ver­ur­teilt – wieder scheint sie ‚Glück’ zu haben, denn sie wird im Jahre 1942 vor­zeitig ent­lassen. Nach Moskau jedoch kehrt sie nie zurück: 1943 taucht Nina Chabias in der turk­me­ni­schen Stadt Mary auf, dann aber ver­liert sich ihre Spur. Wo und wann sie gestorben ist, bleibt unbekannt.

So weit, so gut. Doch hätte man sich gewünscht, dass ein aner­kannter Lite­ra­tur­wis­sen­schaftler wie Bir­jukov von der lei­digen Ange­wohn­heit der Ver­lags­wer­bung und der Lite­ra­tur­kritik, das Publi­kums­in­ter­esse immer zuerst auf die Person des Autors zu lenken, abrückt. Sollte Bir­jukov dies mit seinen Anspie­lungen auf einen „skan­dal­um­wit­terten“ Esenin-Kreis, poe­ti­sche Strö­mungen wie die Neo­klas­siker, die Zaum­niki, die Ima­gi­nisten und Futu­risten, sowie Ver­weise auf Dichter wie Burljuk, Kruč­onych, Šerše­nevič und andere, die über die Dimen­sion des lite­ra­ri­schen Klat­sches kaum hin­aus­gehen, bezweckt haben, so ist es ihm miss­lungen: Einem mit der rus­si­schen Lite­ra­tur­ge­schichte nicht ver­trauten Leser bleibt nur der Griff zum Nachschlagewerk.

Einen wich­tigen Hin­weis dar­über, wie die Gedichte der Chabias n i c h t zu lesen sind, gibt Bir­jukov seinem Leser den­noch: Nina Chabias schrieb
k e i n e Por­no­gra­phie. Die Chabias schreibt von Kör­pern und der Liebe der Körper – doch schreibt sie weniger von der Lust, als von der Qual der Liebe. Und sie schreibt von der Lust der Qual: Der weib­liche Körper, den die Chabias „in all seinen Formen und Falten“ nach­zeichnet, durch­läuft in den Gedichten des Bandes Sti­chetty einen ero­ti­schen Kreuzweg, an dessen Sta­tionen Schmerz, Tod und Lust, Kör­per­li­ches und Geis­tiges, sexu­elle und reli­giöse Ekstase inein­ander ver­schmelzen. So schreibt Chabias in einem ihrer frühen Gedichte (1912/1921): „Genug des tie­ri­schen Laufs im Rad/Den Hals ver­dreht die Schlinge aus Draht/Dem Sperma erwärmten Leib/Stellt der Täufer eine Kerze bei“ („Dovol’no kolesa belok/Arkane šeju tjanut’/Nad otop­le­nnom spermoj telu/Krestitel’ post­avil sveču“). Eros und Tha­natos stehen in den wie bezugslos anein­ander gereihten Versen neben­ein­ander und werden erst in der flie­ßenden Grenze zwi­schen Sexu­ellem und Reli­giösem, in der engen Ver­wandt­schaft zwi­schen dem Motiv der Taufe und dem der Pro­fa­nie­rung des weib­li­chen Kör­pers durch den Geschlechtsakt – der doch gleich­zeitig als wär­mend und somit Leben spen­dend erscheint – mit­ein­ander vereint.

Diese enge Ver­qui­ckung von Glauben, Gewalt und Erotik besitzt pro­vo­ka­tives Poten­zial, ten­diert aber nie zur Vul­ga­rität. Auch die obs­zöne Lexik, mit der ihre Gedichte angeb­lich „gespickt“ sein sollen, ver­wendet die Chabias recht selten. An der rich­tigen Stelle ein­ge­setzt, offen­baren sich Ein­schübe wie „dem Sperma erwärmten Leib“ oder „die aus­ge­wa­schene kleb­rige Vulva“ jedoch als prä­gnanter als die durch­gän­gige Ver­wen­dung von ein­schlä­gigem Voka­bular. Ein­deu­tige Bilder ent­stehen vor dem inneren Auge des Lesers auch durch gelun­gene Ver­schie­bungen (‚sdvigi’), die ganz im Sinne der trans­ra­tio­nalen Sprache der „zaum­niki“ neue Wörter her­vor­bringen und Gram­matik und Syntax dekon­stru­ieren. So etwa der dem Vier­zeiler Auto­graph (Avto­graf, 1921) ent­nom­mene Titel der deut­schen Aus­gabe: Gut­ta­percha des gän­se­häu­tigen Gehänges (Gut­aperču gus­inyh mudej: wobei aller­dings zu bemerken ist, dass das deut­sche „Gehänge“ dem rus­si­schen „mudi“ an obs­zöner Aus­drucks­kraft um einiges unter­legen ist), eine Meta­pher, die an Ein­präg­sam­keit ihres­glei­chen sucht. Ein Aus­druck aus der Botanik („Gut­ta­percha“ bezeichnet den ein­ge­trock­neten Saft des malai­ischen Gut­ta­percha-Baumes, eine dem Kau­tschuk ähn­liche Masse) wird hier kom­bi­niert mit dem ersten Teil des rus­si­schen Aus­drucks für „Gän­se­haut“ – „gus­i­naja koža“ – wobei die Haut aber durch das ordi­näre „mudi“ ersetzt wird.

Schon hier deutet es sich an: Die Körper, die, wie Hen­rike Schmidt bemerkt, „in den Gedichten zur Sprache kommen, sind nicht schön“. Lächer­lich­keit und Häss­lich­keit, Leid und Tod, sie begleiten diese oft geschun­denen Körper bis in die Tiefen der Lust: Hinter dem aufs Äußerste gereizten, kör­per­li­chen Emp­fin­dungs­ver­mögen lauern Ekel und Angst. Die Dich­terin, die eines ihrer Gedichte voll Freude jauchzen lässt: „Die Sonne mein Euter lecklauste/Poliert Kuppel Bauch/Zog die Wol­lust wie Gummi/Lausche das Schüs­tern der Schritte“ (Solnce moe vymja livyzalo/Loščit kupol život/Vytjanul smako rezinoj/slušaju šohot šagov“, ohne Titel, 1920), ent­wi­ckelt in anderen Gedichten eine scharfe Beob­ach­tungs­gabe für Alter, Zer­stö­rung und Zer­fall inmitten alt­be­kannter Lust­ge­fühle. „O wie freudlos, wie karg der Abend/O wie das erregte Gesicht verbergen/In dem zer­tram­pelten Beet/Meiner schie­lenden Tage.“ („O kak bez­ra­dosten, kak skuden večer/O kak lico tre­vožnoe sbereč’/Vrastrepannoj grjade/Moih ras­kosyh dnej“), schreibt sie an anderer Stelle. Erin­nerte Lebens­freude steht gegen grau­same Ein­sam­keit und erlö­senden Tod: „Arm­selig wöl­fisch das Altern,/Wenn in grauen Schach­teln die Zähne/Erkalten in gol­dener Fas­sung, -/Denk ich ans gelbe China und die Omsker/Burjaten breit­lippig und stür­misch.“ (Ètoj vol’čej niščenskoj starost’ju,/Kogda v koro­bočkah seryh zuby/Stynut zolotoj oprave, -/Pomnju želtyj Kitaj i Omskih/Širokogubyh, pyl’nyh burjat.“

Nina Chabias’ „Gesamt­werk“, das durch Gut­ta­percha des gän­se­häu­tigen Gehänges wohl voll­ständig zugäng­lich gemacht worden sein dürfte, ist ent­spre­chend der kurzen Schaf­fens­pe­riode der Dich­terin wenig umfang­reich. Im Zen­trum ihres Schaf­fens steht ein aus­ge­prägtes Inter­esse für alles Kör­per­liche: selbst in den Gedichten, die nicht direkt dem Eros gewidmet sind, sticht die Fas­zi­na­tion der Chabias für den weib­li­chen Körper im Brenn­punkt sinn­li­chen Erle­bens und Erlei­dens ins Auge. Kör­per­bilder und kör­per­li­ches Erleben struk­tu­rieren sowohl reli­giöse, wie all­täg­liche Themen, Gedichte mit bibli­schen Remi­nis­zenzen, wie solche, die von her­ren­losen Hunden oder träch­tigen Katzen han­deln. Zwar sind, mit Aus­nahme der durch die Kubo-Futu­risten hoch­ge­schätzten Ver­schie­bungen, die sprach­li­chen Mittel und die Sym­bolik, die die Gedichte gestalten, eher tra­di­tio­nell (Nina Chabias arbeitet vor allem mit die Inkon­gruenz ihrer Gram­matik kon­tras­tie­renden Alli­te­ra­tionen und Asso­nanzen), die Scho­nungs­lo­sig­keit jedoch, mit der die Dich­terin eine vor geschun­denen Kör­pern gera­dezu wuchernde Welt ent­blößt, ent­spricht, ebenso wie ihre pro­vo­kante Lebens­hal­tung, den revo­lu­tio­nären Ansprü­chen jener Gene­ra­tion von Schrift­stel­lern, die zu Beginn der 20er Jahre das Gesicht der rus­si­schen Avant­garde prägten.

 

Nina Chabias: Gut­ta­percha des gän­se­häu­tigen Gehänges. Gedichte. Aus dem Rus­si­schen über­setzt und kom­men­tiert von Hen­rike Schmidt. Edi­tion Erata. Leipzig 2008.