Ein Portrait des Schriftstellers Arkadij Babčenko
Arkadij Babčenko weiß, was Krieg ist: 1996 schickte man ihn, kaum der Schule entwachsen, nach Tschetschenien; zum zweiten Tschetschenienkrieg meldete er sich drei Jahre später freiwillig – und ein drittes Mal fuhr er im Sommer 2008 als Korrespondent der Zeitschrift Novaja Gazeta, für die er seit 2005 regelmäßig berichtet, unter der Kuvertüre eines Freiwilligen auf den Schauplatz des russisch-georgischen Krieges. Neben seiner journalistischen Arbeit betätigte sich Babčenko in Südossetien als Kriegsphotograph und richtete seine Kamera unbeirrt auf all das, was die auf ein Bild vom sauberen Krieg bedachten russischen Medien nicht zeigen wollten: Zerstörung, Verwundung und Tod (weshalb man wohl auch, so Babčenko, versucht hat, eines seiner Bilder, das einen verwundeten Soldaten zeigt, dem amerikanischen Kriegsphotographen David Axe zuzuschreiben und als Bild aus dem Irak auszugeben).
Des Weiteren arbeitet Babčenko für die Internetseite Iskusstvo Vojny (Art of War), ein literarisch-therapeutisches Projekt, das Veteranen aus dem postsowjetischen Raum die Möglichkeit bieten soll, ihre Erinnerungen zu publizieren und so die Geister des Krieges in der Schrift zu bannen. Schreiben als autotherapeutischer Akt, Reintegration in die Gesellschaft über den Weg der Verschriftlichung des Traumas: Diesen Weg hat auch Babčenko selbst beschritten – mit Erfolg, auch wenn er, wie er selbst betont, mit Krieg und Tod auf keinen Fall Geschäfte machen möchte.
In deutscher Übersetzung sind bei Rowohlt inzwischen zwei Bücher von Babčenko erschienen: 2007 Die Farbe des Krieges und nun, 2009, wiederum übersetzt von Olaf Kühl, Ein guter Ort zum Sterben (Alchan-Jurt. Povest‘).
In Russland wird Babčenko zwar in Insiderkreisen neben Zachar Prilepin und Vladimir Makanin als einer der wichtigsten Autoren von Kriegs- bzw. Antikriegsliteratur gehandelt, dürfte dem russischen Publikum jedoch vor allem als jener Kriegsphotograph bekannt sein, der den Fernsehsender Pervyj kanal (Erster Kanal) wegen Verletzung seiner Autorenrechte gerichtlich belangt hat. In seiner Heimat ist Babčenko, den deutsche Rezensenten gerne mit Remarque und Babel vergleichen, stärker im Internet als auf dem Buchmarkt präsent: In Buchform erschien in Russland lediglich Alchan-Jurt und das auch erst im Jahre 2006, vier Jahre nach der Publikation des Textes auf der Internetseite der Zeitung Novyj Mir. Dabei wurde Alchan-Jurt von den russischen Medien positiv aufgenommen: Man verglich das Buch mit Bulat Okudžavas Bud‘ sdorov, školjar (Mach’s gut) oder Grigorij Baklanovs frühen Kriegserzählungen und lobte die glatte Schreibweise Babčenkos, die in der Tradition Nekrasovs und Vorob’evs stehe. Ein guter Anfang für einen jungen Autor ̶ da erstaunt es umso mehr, dass von Babčenko nicht mehr publiziert worden ist.
Denn wer sich auf die Suche nach dem russischen Original der in Deutschland hoch gelobten Farbe des Krieges begibt, wird feststellen, dass Auszüge dessen, was übersetzt als zusammenhängender Text herausgegeben wurde, im Internet nur in Form einzelner Erzählungen zu finden ist – so z.B. Vzletka. Povest‘ (2005), zu Deutsch: Die Startbahn. Die Erzählung fungiert in Die Farbe des Krieges als Eröffnungskapitel des ersten Teiles, welcher dem ersten Tschetschenienkrieg gewidmet ist. Mit Ausnahme des Zyklus‘ Desjat‘ serij o vojne (Zehn Bilder vom Krieg), Kriegsminiaturen, die im Jahre 2001 mit dem Literaturpreis Debjut (Debüt) ausgezeichnet wurden, ist Ein guter Ort zum Sterben also erheblich älter, als die in Die Farbe des Krieges versammelten Textfragmente. Bedauerlicherweise hat der Verlag es jedoch unterlassen, im Klappentext auf diese anachronistische Publikationsgeschichte zu verweisen, was bei den meisten Lesern wohl zu der Annahme führen wird, Ein guter Ort zum Sterben sei der spätere und leider vergleichsweise schwächere Text.
Während die Texte der Farbe des Krieges dem Leser die Entwicklung des Helden vom unerfahrenen Rekruten zum kampferprobten und angstgeschüttelten Soldaten präsentieren und insgesamt eine Zeitspanne von vier Jahren umfassen, konzentriert sich Ein guter Ort zum Sterben auf einen sehr kurzen Zeitraum – die Kämpfe, die im Dezember 1999 um das südlich von Groznyj gelegene Dorf Alchan-Jurt stattfanden. Die Männer von Generalmajor Šamanov richteten bei der Einnahme des Dorfes unter den letzten, trotz des schweren Bombardements in ihren Häusern verbliebenen Einwohnern ein Massaker an. Von Morden und Vergewaltigungen bei Babčenko jedoch keine Spur – sein Protagonist Artem hat andere Sorgen.
Das Soldatenleben ist beschwerlich. Der Unterschied zwischen „hier“ und „dort“, dem „eleganten Moskau“ und dem armseligen, verdreckten Tschetschenien, der Welt der mit Blumen und Wein Geburtstag feiernden Olga und dem Universum des Krieges ihres von Läusen und Hunger geplagten Mannes Artem, der, das Gesicht im Dreck, durch von Kühen verlassene Weiden robbt, immer auf der Flucht vor „seiner“, ihm den Tod bringenden Mine. Dieser Unterschied ist so unüberwindbar groß, dass allein der Gedanke an diese Welt des Friedens Artem grotesk erscheint. Das Leben der Soldaten in Tschetschenien ist von Entbehrungen geprägt. Einzig und allein an Zigaretten der Marke „Prima“, bitter, brennend und berauschend wie der Krieg, mangelt es nie – eine Prima im Mundwinkel, lässig auf einen Schützenpanzerwagen hingefläzt, ein verschlammtes Kissen im Rücken, lässt sich Artem durch das zerstörte Tschetschenien chauffieren, hin und her gerissen zwischen coolen Soldatenposen und eisiger Angst.
Der Krieg als Verbrechen an der zivilen Bevölkerung ist nicht das Thema Babčenkos. In Ein guter Ort zum Sterben wird der Tod von Zivilisten nur als Kollateralschaden von Gefechtshandlungen gezeigt, so dass die Frage nach der Schuld und dem Leben mit der Schuld, die Babčenko am Ende des Buches stellt, zwar angesichts der Unbarmherzigkeit, mit der das Militär gerade in Tschetschenien gegen die Zivilbevölkerung vorging, nur zu angebracht, aber nach Babčenkos auf die Kampfhandlungen fokussierter Darstellung etwas künstlich wirkt. In den Texten der Farbe des Krieges hingegen findet Babčenko die Kraft, den Krieg jenseits der Materialschlacht zumindest einmal zu zeigen: „Alle Männer, die man finden kann, werden auf den Platz geschleppt, auf einen Haufen geworfen, dann beginnt das Gemetzel. Einer drückt den Tschetschenen mit dem Bein auf den Boden, ein anderer zieht ihm die Hose aus und schneidet mit zwei, drei scharfen Rucken den Hodensack ab. Die Zähne der Bajonette verhaken sich im Fleisch und reißen die Gefäße aus dem Körper heraus. In einem halben Tag ist das ganze Dorf kastriert, dann zieht das Bataillon ab. Unsere Leute lassen wir am Kreuz hängen – die werden später von Spezialeinheiten abgenommen.“ (149-150).
Im Mittelpunkt seiner Texte steht der Verrat der militärischen Befehlshaber, der geld- und machtgierigen Politiker und der gleichgültigen Bevölkerung an den jungen Soldaten, die in Tschetschenien geopfert wurden. Während des ersten Krieges hätten die Soldaten gedacht, dass in Russland tagtäglich demonstriert werde – und dann doch erfahren müssen, dass ihr Sterben (und auch die Schuld, die sie, tötend, auf sich luden) gleichmütig hingenommen wurde. So zeigt Ein guter Ort zum Sterben die Soldaten als Opfer einer schlecht organisierten, korrupten Armee, deren Befehlshaber sich bereichern, während ihren Männern im Einsatz nicht einmal ein warmes Essen vorgesetzt wird – Kriegsliteratur als Gesellschaftskritik.
Wer jedoch Die Farbe des Krieges gelesen hat, weiß um Schlimmeres: Nächte-, ja tagelange Prügelorgien – das System der „dedovščina“ (die uneingeschränkte Herrschaft der „alten Männer“ über die jungen Rekruten, „Frischlinge“ genannt) in Kasernen direkt hinter der Front. Das Sezieren und Verladen von Leichen, die wie am Fließband aus Tschetschenien herausgeschafft werden. Mütter, die versuchen, Söhne zu identifizieren, von denen nicht mehr übrig geblieben ist, als ein glitschiger Fuß in einem Stiefel. Und Krieg, Kampf – und Sterben im Kampf. Die Radikalität dieser Erzählungen lässt ahnen, warum sich für solche Literatur in Russland kein Verleger findet – viel versöhnlicher liest sich hingegen Ein guter Ort zum Sterben, das dem Leser jene Bilder erspart, die Babčenko in den späteren Texten schonungslos offenlegt: Der Moment des Kampfes wird bis zuletzt hinausgezögert.
Lange Zeit blickt der Leser mit Artem auf Alchan-Jurt hinunter, versucht er, die schattenhaften Umrisse des Dorfes in der Dunkelheit hinter dem Sumpf auszumachen. Erst als sich die Truppen auf dem Rückzug und somit auf Augenhöhe mit dem Dorf befinden, beginnt der Krieg. Dabei bleibt der Feind stets unsichtbar: Das Feuer der feindlichen Maschinengewehre und Minenwerfer fetzt heran wie aus dem Nichts. Es existiert keine übergeordnete Instanz, die es dem Leser ermöglichen würde, mehr zu erfahren – sein Horizont bleibt auf das Wahrnehmungsfeld der Sinne Artems beschränkt. Und trotz des aktionsgeladenen finalen Feuerwerks, das den Einsatz beendet, prägt sich dem – vom Warten auf den Kampf zermürbten – Leser wohl gerade die Zeit des Wartens stärker ein, als jene kriegerischen Passagen, die versuchen, einen Moment reinen Krieges zu erfassen, ohne jedoch so weit zu gehen, dem Leser das Resultat des orgiastischen Schusswechsels auch vor Augen zu führen: „Der Effekt war umwerfend. Das machtvolle Donnern der Vierzehn-Millimeter-Geschosse übertönte alles ringsum, wieder summte es ihm in den Ohren. die Leuchtstoffkugeln schlugen in die Häuser ein, durchdrangen die Mauern und krepierten im Inneren, zerschredderten Dächer und fällten Bäume.“ (85) Der Tod bleibt, wie der Feind, unsichtbar. Die Materialschlacht verpufft im Nichts.
Die Wahrnehmung des Krieges aus der Perspektive der beteiligten Soldaten, das ästhetische Schauspiel nächtlicher Schusswechsel aus der panoramatischen Perspektive eines etwas entfernten Beobachters und die Unsichtbarkeit des Feindes, das sind Motive, mit denen schon der junge Tolstoj in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Poetik des Krieges revolutioniert hatte. Bei Tolstoj gehörte dazu aber auch die bis dahin drastischste Darstellung der Getöteten und Verwundeten. Babčenkos 150 Jahre später verfasster Text, Ein guter Ort zum Sterben,dagegen spart dies weitgehend aus. Hier bleibt als Anzeichen dessen, was dem Leser nicht gezeigt wird, nur die Angst, mit der der Krieg wie mit einer Schimmelschicht das Leben überzieht und in seinem Innersten aushöhlt. Es ist die Angst, die die Körpermaschinen vorantreibt und die Figuren zur Handlung zwingt, die Angst, die aus braven Moskauer Jungen Soldaten macht – Männer, deren übersteigerte Sinne in den Krieg hineinwachsen, deren Körper und deren rein körperliches, hypersensibilisiertes Erleben im Krieg wurzeln.
„Einem Menschen, der nie im Krieg gewesen ist, kann man den Krieg nicht erzählen – nicht weil er zu dumm oder zu begriffsstutzig wäre, sondern einfach, weil er nicht die nötigen Sinnesorgane besitzt, um den Krieg zu begreifen“, schreibt Babčenko in Die Farbe des Krieges. Der Topos der Unsagbarkeit des Krieges, umformuliert zum physischen Mangel des potentiellen Lesers. Und dennoch hat sich Babčenko den Krieg zu seiner Lebensaufgabe gemacht. Dennoch hofft er, mit seinen Texten den Toten ein Denkmal zu setzen und gegen das Vergessen und gegen Kriegstreiberei anschreiben zu können. Doch ist ein solcherart pädagogisches Schreiben überhaupt möglich? Babčenko gesteht selbst, dass er das Gesuch über den Einsatz im Kaukasus vielleicht nicht unterschrieben hätte, hätte er nicht in seiner Jugend die Texte Remarques, d.h. Antikriegsliteratur par excellence, gelesen. Die Zeugenschaft des Autors und der Zeugnisstatus der Texte sind keine Garantie dafür, dass sie ihre abschreckende Wirkung auch wirklich entfalten. Zu groß ist die Interpretationsfreiheit, zu mächtig die Imaginationskraft des Lesers. Zu groß auch die Gefahr einer Ästhetisierung – Babčenko spricht von einer Romantisierung – des Geschehens: Wer gut schreibt, trägt, so Babčenko, die Philosophie des Krieges in die Welt, wo sie ihr ansteckendes Potential entfalten kann.
Vielleicht möchte er seinen Texten deshalb ihren literarischen Status absprechen, sich selbst von der Verantwortung der Autorschaft entbinden und sich verstanden wissen als Medium des Themas Krieg, das durch ihn spricht, ohne dass er dieses Thema frei zu dem seinigen erwählt hätte. Babčenko befindet sich in der paradoxalen Situation, unter der im Kriege erfahrenen Negativität zwar einerseits zu leiden, andererseits aber das Nichts des Krieges und des Todes zum Innersten seines Wesens gemacht zu haben und nicht anders zu können, als obsessiv immer wieder an den Nullpunkt seines Lebens zurückzukehren. Es gilt, sich dem Schreiben als einer psychisch wie auch physisch zerstörerischen Handlung zu stellen, in der Hoffnung, die Gespenster des Krieges auf das Papier zu verdrängen, ja, sie in graphomanen Ergüssen geradezu zu ertränken.
Arkadij Babtschenko: Ein guter Ort zum Sterben. Deutsch von Olaf Kühl. Berlin, Rowohlt 2009. 128 S.
Russisch: Arkadij Babčenko: Alchan-Jurt. Moskva, Jauza 2006.
Arkadij Babtschenko: Die Farbe des Krieges. Deutsch von Olaf Kühl. Berlin, Rowohlt 2007. 256 S.