Wie funktioniert Kunst in Zeiten des Krieges? Mit diversen Ausstellungen, Film-Screenings und Gesprächsrunden versucht die Kyiv Perenniale 2024 dieser Frage nachzugehen. novinki besuchte zwei Veranstaltungen der Eventreihe: das Screening der „Kharkiv Trilogy“ und die Ausstellung „The River Wailed Like a Wounded Beast“.
Perenniale, das sind Pflanzen, die mehrjährig blühen. Sie sind beständig, ausdauernd, trotzen widrigen Bedingungen und bahnen sich Jahr für Jahr ihren Weg ans Licht. Ebenso beharrlich sind die Künstler*innen, Aktivist*innen und Journalist*innen, deren Werke, die im Schatten der bereits zehn Jahre andauernden Aggression Russlands gegen die Ukraine entstanden sind, auf der diesjährigen Kyiv Perenniale in Berlin ausgestellt wurden.
Zwischen Eröffnung am 23. Februar kurz vor dem zweiten Jahrestag der russischen Vollinvasion in der Ukraine und Finissage am Tag der Wahl des EU-Parlaments am 9. Juni erinnerte die Perenniale nicht nur an den Schrecken und Widerstand der letzten Jahre. Sie richtete auch einen mahnenden Appell an die Länder Europas, die Ukraine in ihrem existentiellen Kampf ums Überleben zu unterstützen. Die Ausstellungen und Diskussionsrunden beschäftigten sich mit den vielschichtigen Realitäten des Krieges in der Ukraine und der Frage, wie sich diese dokumentieren lassen. Dabei blickten die Beitragenden nicht nur auf die Vergangenheit, sondern auch in die Zukunft – und suchten in Zeiten des Krieges und des russländischen Imperialismus nach Perspektiven für Demokratie und Unabhängigkeit. Die Perenniale zeugt von der anhaltenden Resilienz der ukrainischen Bevölkerung, die trotz Traumata, Vertreibung und Zerstörung das Geschehene aufarbeitet und für eine selbstbestimmte Zukunft kämpft.
„Krieg ist nicht horizontal”, erklärt Vasyl‘ Čerepanyn (Wasyl Tscherepanyn), künstlerischer Leiter der Kyiv Perenniale, im Interview. Er umschließe nicht nur Militärtaktiken, Besetzungen und Wiedereroberungen, sondern auch die „vertikale Dimension” des Konflikts, die tiefgreifenden Auswirkungen auf die Menschen und die Umwelt. „Im Moment versuchen die meisten Kulturschaffenden, die Kriegsverbrechen direkt vor Ort künstlerisch festzuhalten. Deshalb sind viele der Ausstellungen der Perenniale dokumentarisch inszeniert oder setzen sich damit auseinander, wie sich dieses Unrecht nachweisen lässt.“ Dass die Perenniale als Fortsetzung der pan-europäischen Kyiv Biennale 2023 in Berlin stattfindet, ist kein Zufall: „Gerade diese Stadt ist ausschlaggebend für Entscheidungen in Europa allgemein, aber insbesondere auch in Bezug auf die Ukraine”, betont Čerepanyn.
Kharkiv Trilogy: „Hinter dieser Schönheit ist nichts als der Tod“
von Mara Buddeke
Charkiv, Rydnev-Park: Die Sonne scheint, Vögel zwitschern, bunte Blumen blühen, Menschen schlendern durchs Bild. Doch die idyllische Atmosphäre des Sommernachmittags bricht auf, als wütende Stimmen laut werden: „Faschisten! Arschlöcher!“ – „Ruhm für die Ukraine!“ – „Verdammt, wir sind doch alle aus Charkiv! Was wollt ihr? Für wen seid ihr?“ Es fallen Schüsse, Menschen rufen durcheinander, Sirenen ertönen – aber zu sehen sind nur ein Fahrradfahrer und Bäume, die in der Brise schwanken.
Mit den harten Kontrasten der Videomontage „Regular Places“ (2015) beginnt am Abend des 28. April das Screening der „Kharkiv Trilogy“. Gezeigt werden drei Kurzfilme, die der Künstler, Filmemacher und UdK-Dozent Mykola Ridnyi in einem Zeitraum von acht Jahren in seiner Heimatstadt Charkiv gedreht hat. Im Rahmen der Kyiv Perenniale werden sie zum ersten Mal als Trilogie gezeigt, die die Geschichte einer Stadt unter dem Eindruck des russischen (Angriffs-)Kriegs erzählt. Der Andrang ist groß: Die Plätze in der Kunstgalerie Between Bridges sind schnell belegt, und obwohl neue Stühle in den Saal getragen werden, müssen sich einige Zuschauer*innen damit begnügen, auf dem Boden zu sitzen oder zu stehen, als die Vorführung beginnt.
„Regular Places“ wurde kurz nach Russlands Annexion der Krim im Jahr 2014 gedreht. Die heftige Konfrontation zwischen Befürwortern einer unabhängigen Ukraine und prorussischen Separatisten hinterließ auch ihre Spuren in Charkiv. Zwar suggerieren die friedlichen Szenen, dass das Leben in der Stadt nach einem Jahr zum Alltag zurückgekehrt ist, denn Gewalt ist in keinem der Clips zu sehen. Doch die Tonspuren, die im Jahr zuvor aufgenommen und nachträglich eingefügt wurden, erzählen eine andere Geschichte. Ridnyi zeigt eine Stadt, die auf den ersten Blick ganz gewöhnlich wirkt, bei genauerer Beobachtung aber noch immer von den brutalen Auseinandersetzungen erschüttert ist. „Man kann nicht wissen, ob dieser Ort sicher ist“, erklärt Ridnyi nach dem Screening im Publikumsgespräch. „Die Gewalt kann immer wieder zurückkehren.“ Die Audiospuren habe er nicht zufällig gewählt: Sie wurden an denselben Orten aufgenommen, die auch in der jeweiligen Szene zu sehen sind.
„Ich sehe die Menschen fallen“
Während „Regular Places“ ein Panorama von Charkiv zeichnet, taucht „No! No! No!“ (2017) tiefer in das Leben der Einwohner*innen der Metropole ein. Der Kurzfilm folgt vier jungen Künstler*innen, die auf unterschiedlichste Art und Weise mit den Traumata des Krieges umgehen. „Ich sehe die Menschen fallen“, rezitiert eine queere Aktivistin aus einem Gedicht, in dem sie die Gewalterfahrungen während der Proteste thematisiert. Sie spielt die Szene nach: Wie sie von vier Männern auf der Straße angehalten wird, die sie brutal zu Boden werfen und verprügeln, bis sie schließlich entkräftet im Schnee liegen bleibt. Zwei Graffiti-Künstler ziehen durch die Stadt und gehen die Liste von Sätzen durch, die sie heute an die Wände von Charkiv schreiben wollen. Einer fehlt noch: Ні! Ні! Ні! (Ni! Ni Ni!), sprühen sie: Nein! Nein! Nein!, ein Appell gegen den Krieg. Ein Game-Designer präsentiert ein Videospiel, das er entwickelt hat. Mit ein paar Klicks navigiert er eine ältere Dame durch eine fahrige Schwarzweiß-Skizze Charkivs. Im Verlauf des Spiels verändert sich ihr Umfeld, Soldaten dringen in die Stadt ein, Häuser brennen, verstümmelte Leichen tauchen auf der Straße auf.
Die Aufnahmen der Künstler*innen werden immer wieder von Szenen des Krieges unterbrochen. Russische Soldaten begegnen sich im Zug, zeigen sich Bilder von Leichen – Menschen, die sie mit ihrem Panzer überrollt haben. Strommasten werden von Raketen getroffen, eine Explosion erschüttert die oberen Etagen eines Hochhauses. „Schön“, kommentiert eine Kinderstimme, als handele es sich um harmlose Feuerwerke.
Ridnyi verflicht die Bilder des Konflikts mit dem Porträt einer Generation, die lernt, mit dieser neuen Realität umzugehen. Wie seine Protagonist*innen sucht auch er nach einer Möglichkeit, das richtige Medium zu finden. Mal folgt er ihnen mit einer wackeligen Schwarzweiß-Kamera, dann verkleinert er den Frame auf einen Bruchteil des Screens, fügt eine verpixelte Explosion über das echte Kriegsgeschehen ein, spielt mit Negativen.
Auch das Ende des Films bleibt ambivalent: Eine Gruppe junger Menschen läuft am 1. Januar durch einen Tunnel und feiert mit lauten Rufen das neue Jahr, doch die Schreie brechen nicht ab und verwandeln die Festivität in ein Horrorszenario. Für Ridnyi weist dieser Schrei bereits in die Zukunft der Ukraine: „Um zu verstehen, welche Art von politischer Realität uns erwartet, müssen wir verstehen, was nach dem Schrei kommt.“
Mit Mut zur Lücke
„The District“ (2023) dokumentiert diese Welt nach dem Schrei im Charkiver Viertel Saltivka. Hier ist Ridnyi aufgewachsen, doch seit der Vollinvasion Russlands ist die Wohngegend zum Zeichen der Zerstörung in der Ukraine geworden. „Die meisten Leute, die hier filmen, haben diese spezifische Ästhetik. Sie zeigen die verbrannten Mauern und filmen bei schlechtem Wetter, um alles noch gruseliger und schlimmer zu machen“, erklärt Ridnyi nach der Vorführung. „Ich habe viel von solchem Material gesehen, und ich habe beschlossen, etwas ganz Anderes zu machen.“
Sein Saltivka ist idyllisch, aber er warnt: „Hinter dieser Schönheit ist nichts als der Tod.“ Eine gemächliche Kamerafahrt inszeniert die zertrümmerten Wohnblocks in Saltivka unter einem blauen Himmel, während eine weibliche Stimme Anekdoten aus dem Leben des Regisseurs erzählt – vom Leben in Saltivka vor dem Krieg. Sie erinnert an den Markt, das rege Treiben zwischen den Ständen, während das Publikum nur noch die Überreste des Basars zu sehen bekommt: die geschlossenen Läden, zerbrochenes Glas, ausgebrannte Dächer. Alle Menschen sind fort. Zuletzt bleibt die Kamera stehen und die Umrisse des Marktes verschwimmen – ein Ort, der nicht mehr existiert.
Ridnyi spielt auf unterschiedlichste Art und Weise mit diesen Techniken: Er platziert die Silhouette eines Telefons, das längst nicht mehr da ist, zeichnet die Bierpfützen auf dem Asphalt nach, blutrot, und lässt schließlich das gesamte Panorama der Stadt verschwimmen. „Ich hatte das Gefühl, das alles sei nicht echt“, berichtet Ridnyi von seinem ersten Besuch in dem zerbombten Viertel. „Und ich habe mich gefragt: Ist das hier real oder mein vergangenes Leben? Diese beiden Zustände sind nicht zu vergleichen, ich kann keine Brücke zwischen ihnen schlagen.“ In seiner filmischen Spurensuche zeigt er nicht nur Saltivka; er zeigt auch, was dort verloren gegangen ist, macht Abwesenheiten sichtbar.
Mit „Regular Places“, „No! No! No!“ und „The District“ dokumentiert Ridnyi, wie der sich zuspitzende Konflikt mit Russland über Jahre hinweg das Leben der Menschen in Charkiv beeinflusst hat – bis zu dem Punkt, an dem in den Ruinen der Stadt niemand mehr zu finden ist. Gerade die Bilder, die die Berichterstattung seit dem 24. Februar 2022 geprägt haben – Brutalität, Zerstörung und Tod –, spart er dabei aus oder inszeniert sie im unkonventionellen Stil. Obwohl die Gewalt des Krieges auf der visuellen Ebene nicht reproduziert wird, findet Ridnyi doch einen Weg, sie in seinen Filmen widerzuspiegeln. Er verweist auf die blinden Flecken, die sie zurückgelassen hat und dokumentiert, wie der Konflikt auch in vermeintlich ruhigeren Zeiten noch in Charkiv nachhallt.
Wasser und Trauma: Die Ukraine zwischen Zerstörung und Überlebenswillen
von Hanna Thiele
Die Ausstellung The River Wailed Like a Wounded Beast im Kunsthaus Bethanien eröffnet mit atmosphärischen Schwarzweiß-Fotografien des Flusses Dnipro aus den 1920er und 1930er Jahren. Zu sehen sind Fischer, raue Felsenlandschaften und Ausgrabungsstätten am Fluss. Es herrscht eine friedliche Atmosphäre. Die Bilder wirken erleichternd, denn für einen Moment vergessen wir den zermürbenden Krieg, in dem sich die Ukraine dieser Tage im Sinne ihrer Selbstbestimmung verteidigen muss. Nur ein kleines Detail in der Ausstellung thematisiert den laufenden Russland-Ukraine-Krieg. Es ist ein Punkt auf einer topographischen Karte, der auf die Sprengung des Kachovka-Damms 2023 verweist.
Die Ausstellung bewegt sich durch die Vergangenheit. Sie beleuchtet den Bau größenwahnsinniger Infrastrukturprojekte am Dnipro seit Ende der 1920er Jahre oder das sowjetische Narrativ der Unterwerfung der Natur. Doch sie spielt zeitgleich mit unserem heutigen Wissen über die Machtansprüche Putins in der Ukraine. Der seit 2014 anhaltende Krieg und die Vollinvasion seit Februar 2022 hängen wie ein Schatten über den Ausstellungsräumen. „Welche Parallelen und Kontinuitäten siehst du?”, scheint sie zu fragen.
Die Ausstellung war zuletzt im Dovženko-Center in Kyjiv zu sehen. Mit der verkleinerten und aktualisierten Version nehmen die Kurator*innen die Besuchenden mit auf eine Reise durch die industrielle Hydro-Infrastruktur in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Filmische Interpretationen der 1930er Jahre mit vorrangig sowjetisch-ideologischer Aufwertung des Baus großangelegter Wasserinfrastrukturprojekte dominieren die Ausstellung. Die gewaltigen Bilder wirken wie ein Sog, der die Besucher*innen mitreißt und sie die Macht der Propaganda spüren lässt.
Im ersten Raum werden Ausschnitte von Dziga Vertovs Film „Das Elfte Jahr“ von 1927 und „Ivan“ von Oleksandr Dovženko von 1932 gezeigt. Beide beleuchten den Bau des Wasserkraftwerks DniproHES mit zugehöriger Talsperre – und damit die Bezwingung des gewaltigen Dnipro. Auf sie sollen fünf weitere am Flussverlauf folgen. In „Das Elfte Jahr“ fliegen große industrielle Baustellen in monumentalen Bildern über die Leinwand. Es ist eine staubige Szenerie mit Baggern, Trümmerbergen und Gleisen. Arbeiter*innen und Pferde mühen sich auf der schier endlosen Baustelle ab, um das damals größte Wasserwerk Europas zu errichten. Bei Ausgrabungen auf der Baustelle werden Skelette gefunden. Sie zeugen von der Vergangenheit der Skythen, einem Reiternomadenvolk, das vor über 2000 Jahren auf dem Gebiet der heutigen Ukraine zu finden war. Seine Hinterlassenschaften werden, ebenso wie die umliegenden Dörfer, bald im Dienste der Modernisierung der sowjetischen Wirtschaft geflutet.
Diese nüchternen und rauen Panoramaaufnahmen werden von collagenartig vergrößerten Darstellungen eines Arbeiters durchbrochen. Die Aufnahmen der verwüsteten Landschaft erscheinen in sengendem Sonnenschein und erschaffen eine dystopische Kulisse. Eine ähnliche Atmosphäre herrscht im Film „Ivan“ auf der gegenüberliegenden Wand. Ein Arbeiter steht oberkörperfrei auf einem Kran. Die Froschperspektive verleiht ihm Größe und Kraft. Gewaltige Baugerüste rücken ins Bild. Auch ein Angler wird in der Sequenz abgelichtet, dessen Darstellung vermuten lässt, was an Lebensraum und Alltag verloren gehen wird. Beide Filmausschnitte vereint ein bejahender Blick auf die Großbauten.
Der gegenüberliegende Raum steht in einem starken Spannungsverhältnis dazu. Dort befinden sich topografische Karten der einzelnen Flussabschnitte des Dnipro. Rot gefärbt sind die Abschnitte, die mit der industriellen Nutzbarmachung geflutet wurden. Sie übersteigen das natürliche Flussbett um ein Vielfaches. Der Dnipro – drittlängster Fluss Europas und größter Strom in der Ukraine – war und ist die Lebensgrundlage für die Menschen der angrenzenden Dörfer und Städte. Zwischen 1927 und 1976 entstanden sechs große Stauseen auf dem heutigen ukrainischen Territorium zur elektrischen Energiegewinnung und der landwirtschaftlichen Bewässerung. Großprojekte wie diese waren ein Teil der unter Lenin begonnenen und von Stalin fortgeführten Agenda, die Natur mit technologischem Fortschritt zu bezwingen. Durch die Modernisierung sollte der Lebensstandard der Bevölkerung erhöht und die sozialistische Gesellschaft gestärkt werden. Die Bezwingung der Natur fungierte auch als Symbol der Überlegenheit des Sozialismus über den Kapitalismus und sollte die Stärke der Planwirtschaft und die Zukunftsfähigkeit des Kommunismus demonstrieren. Doch welche Konsequenzen hatte der Bau für Mensch und Natur? Eine kleine Informationstafel im Flur berichtet: Die 10.000 ukrainischen Arbeiter*innen litten unter Hunger, Krankheiten und mangelnder Hygiene. Die Langzeitfolgen waren verheerend. Auf den Karten befinden sich viele schwarze Punkte auf der roten Fläche der Flutung. Es sind die mehr als zweihundert überschwemmten Dörfer. 282.000 am Dnipro ansässige Menschen wurden bis in die 1970er Jahre zwangsumgesiedelt und gewaltige Flächen natürlicher Ökosysteme zerstört. Diese Kehrseiten der Großbauprojekte wurden aus dem sowjetischen Narrativ verbannt.
Eine Filmvorführung findet im Rahmen der Ausstellung gesondert statt: Der Film „Poema o more“ (Poem vom Meer) aus dem Jahr 1956 setzt das sowjetische Megabauprojekt des Dnipro-Wasserkraftwerks und die Flutung enormer Flächen für den zugehörigen Stausee künstlerisch in Szene. Oleksandr Dovženko, sowjetischer Avantgardist und Patriot, schrieb das Drehbuch zu seiner Rehabilitierung, nachdem er in Ungnade gefallen war. Seine Frau, Julija Solnceva, übernahm nach seinem Tod die Dreharbeiten. Der Film erzählt mit viel Pathos die Geschichte der Dorfbewohner*innen, deren Heimat bald geflutet werden wird. Zwei Männer fahren auf dem Dnipro im Sonnenuntergang mit einem Dampfer nach Hause in ihre geliebte Heimat. Funktionäre fliegen stolz über das auserwählte Land. Angesichts einer neuen Stadt, die am Fuß des gefluteten Gebietes zwischen Cherson und Zaporižžja (Saporischschja) entstehen wird, sehen die Menschen der (Zwangs-)Umsiedlung mit einem weinenden und einem lachenden Auge entgegen. Die Großartigkeit der Zukunft liegt in aller Munde. Ein Funktionär bekräftigt: „Ich kenne nur zwei Städte: Petersburg und Nova Kachovka” ‒ so der Name der neuen Stadt und Heimat.
Der Film romantisiert im Gestus des sozialistischen Realismus den stalinistischen Transformationsplan, den Süden der Ukraine und die Krim in einen Energiegenerator umzuwandeln. Folgen wie Vertreibung werden verklärt. Negative ökologische Auswirkungen für die Region werden aus dem Narrativ ausgespart. Im Raum der Filmvorführung bilden die topografischen Karten den Hintergrund, als mahnten sie, sich nicht von den idealisierten Filmspuren täuschen zu lassen.
Das Bindeglied zwischen den eingangs beschriebenen Fotografien, dem Raum der Karten und den Filmen sind zwei wellenförmig angeordnete Gedichte Dziga Vertovs und Viktor Petrovs im Flur. Letzterer, ein ukrainischer Autor, Wissenschaftler und Existentialist, ist eine historisch ambivalente Figur. Als Befürworter des deutschen Nazi-Regimes verfasste er 1944 in Deutschland das Buch Die ukrainischen Kulturschaffenden als Opfer des bolschewistischen Terrors. Jahre später in Moskau wiederum erhielt er sowjetische Orden und legte damit einen radikalen Kurswechsel hin. Ihm wird nachgesagt, sowjetischer Spion gewesen zu sein. Petrov veröffentlichte unter dem Pseudonym V. Domontovyč (W. Domontowytsch) folgendes Gedicht:
Wir standen
am Ufer und
lauschten
dem Tosen
des verstörten Flusses.
Er schrie
und
heulte
wie ein
verwundetes Tier.
Aus der Wunde
des zotteligen Tieres
floss
blaues
Blut
Das Bedrohliche im Gedicht steht der Verherrlichung der Flutung in den Filmen diametral entgegen. Die Verse heulte / wie ein / verwundetes Tier waren namensgebend für die Ausstellung – und weisen zudem auf ein historisches Trauma der ukrainischen Bevölkerung hin. Die Animalisierung des Wassers als verblutendes Tier macht den Schmerz für Mensch und Natur greifbar.
Auch wenn die Gewalt der stalinistischen Transformationspolitik kaum direkt thematisiert wird, so drängt sie sich den Besuchenden doch schreiend laut in der Ausstellung auf. Sie scheint durch das die Realität verschleiernde Gewand der sowjetischen Propaganda durch, sie wird spürbar in der Lyrik und sichtbar in den Karten der überschwemmten Landschaften und Dörfer. Es wird auch ein seidener Faden zur Gegenwart gesponnen mit dem Verweis auf die Sprengung des Kachovka-Damms im Juni 2023. Paradoxerweise wird die in der Sowjetunion als gewaltige Modernisierungsprojekt gebaute Infrastruktur heute zum strategischen Ziel der russischen Kriegsführung mit verheerenden Auswirkungen für Mensch und Natur. Im heutigen Diskurs der Dekolonisierung der Ukraine bekommt die Frage von Gewalt und gezielter Zerstörung im historisch-sowjetischen Kontext angesichts des aktuellen umfassenden Krieges eine neue Virulenz.
Beitragsbild: Filmstill aus „The District“ (2023), Bildquelle: Mykola Ridnyi.