Lassen sich familiäre Traumata literarisch besser auf Distanz, in einer Fremdsprache bearbeiten? Geht der Literatur in Zeiten neuer historischer Katastrophen und zivilisatorischer Verbrechen ihre Vielschichtigkeit und reflektorische Tiefe verloren? Nach der Lektüre von Vielleicht Esther (2014), Das Foto schaute mich an (2022) und Als wäre es vorbei. Texte aus dem Krieg (2025) von der ukrainischen Schriftstellerin Katja Petrowskaja stellt Arkadij Mazur diese und andere Fragen – in Form eines persönlichen Essays.
Zum ersten Mal habe ich Katja Petrowskaja im Jahr 2021 in Moskau gesehen. Trotz der zunehmenden politischen Beschränkungen, war es damals noch möglich, die ukrainische Schriftstellerin aus Berlin auf der jährlichen Internationalen Buchmesse für Belletristik und Sachbücher Non/fiction zu hören, wo sie die russische Übersetzung ihres Buches Vielleicht Esther (2014) vorstellte – eine Autofiktion über ihre Familiengeschichte, die sich über Epochen, Länder, Regime und Nationen erstreckt. Die chaotische und sprachenübergreifende Struktur des Textes erweist sich als schreibende Therapie, die der Autorin exzeptionell erlaubt, die Erinnerung an all die Gewalterfahrungen und das brutale Auseinanderreißen der großen jüdischen Familie aus Kyjiw zu bewahren. Ein Grund, warum sie auf Deutsch schreibe, liege in der Eigenheit der Fremdsprache (oder „Stummsprache“, denn Deutsch heißt auf Russisch nemeckyj – немецкий), eine gewisse Distanz zwischen Trauma und Realität zu ermöglichen. So kam es, dass das Buch der russischsprachigen Schriftstellerin ins Russische übersetzt werden musste – eine Aufgabe, die der bekannte Übersetzer Mikhail Rudnitsky übernahm, der in Moskau ebenfalls auf dem Podium saß, sich über grammatische Fehler der Autorin im Originaltext echauffierte und sich anmaßte, die Genialität, Schönheit und Jugend der Autorin zu kommentieren.
Man kann Vielleicht Esther als einen archivarischen Detektivroman über die eigene Familie und ihre Vergangenheit bezeichnen. Auf der Suche nach Vorfahren wird der Leser durch mehrere Zeit- und Raumebenen geführt: ein Konzentrationslager in Österreich damals und ein Museum an dessen Stelle heute, ehemalige Adressen und vergessene Verwandte aus Polen, die Straßen Kyjiws in der Kindheit der Protagonistin und in der Gegenwart. All diese Zeitschichten reimen sich auf wundersame Weise und interagieren miteinander, so etwa das Schild „Bombardier – willkommen in Berlin!“, das die Autorin surreal an die Vergangenheit der Stadt erinnert. Die Vergangenheit ist nicht vergangen – sie bleibt in Erinnerungen, Schildern, Déjà-vus und Familiennamen präsent, auch wenn diese fast vergessen sind und nur mit „vielleicht“ genannt werden.
Beim Lesen des Buches dachte ich auch an meine eigenen Vorfahren, über die ich kaum etwas weiß. Warum studiere ich die Geschichte meines Landes aus modernen wissenschaftlichen Büchern, wenn ich fast nichts über die Familie meines Großvaters aus Lwiw weiß? Oder über den anderen Familienzweig aus dem Westen von Belarus? Ich weiß fast nichts selbst über jene, die immer in Moskau gelebt haben – obwohl sie mich direkt betreffen. Der einzige Weg, die Traumata der Vergangenheit zu verarbeiten und mit der von Gewalt geprägten Geschichte der Sowjetunion ins Reine zu kommen, ist, alles über das Leben realer Menschen zu erfahren. Menschen, die mit mir verbunden sind.
Zu ähnlichen Gedanken führt auch ein anderes Buch von Katja Petrowskaja: Das Foto schaute mich an (2022). Wie schon in Vielleicht Esther ist die Erzählstruktur nicht linear: die Erzählerin springt zwischen Epochen und Ländern, ausgehend von Fotos, die mit persönlichen Geschichten oder wichtigen Lebenseindrücken verbunden sind. Indem sie Momente aus der endlosen globalen Mediathek festhält, wollte Katja Petrowskaja „die Inflation der Bilder bremsen, nicht weltweit, sondern für sich selbst, als wäre das Betrachten ein langsamer, etwas altmodischer Prozess.“ Deshalb schreit das Buch nicht, es eilt nicht – es versenkt den Leser vielmehr in Nachdenklichkeit, kulturelle wie historische Schichten und Nostalgie.
Der Text stellt viele Fragen – sowohl im wortwörtlichen als auch im metaphorischen Sinne. „Wirkt sie so unschuldig, weil sie ihrer Verträumtheit so treu ist? Warum ist gerade sie, die das Genre des Familienfotos bricht, so natürlich? … Wie real ist das Imaginäre?“ oder „War ein stiller, einsamer Ästhet? … Ein Perverser oder ein Kranker? Und wo ist die Grenze?“ Selbst dort, wo keine konkrete Frage gestellt wird, spürt man Zerbrechlichkeit, Vergänglichkeit, Unausgesprochenes – und gleichzeitig Sanftheit, Wärme, Nostalgie. Es kann sich um Überlegungen zur sowjetischen Geschichte handeln, um Kafka, Regen, Blumen, eine portugiesische Roma-Familie – oder um die eigene junge Mutter und die auf der Schaukel sitzende Babuschka.
Dabei spricht das Buch auch über Komplexes – etwa über den seit 2014 andauernden russischen Angriffskrieg, der mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und Kampfhandlungen im Donbas seinen Anfang nahm. Das Werk wurde vor Beginn der vollumfänglichen Invasion verfasst, vermittelt aber deutlich deren Ursprünge. Wie auch in Vielleicht Esther werden schwierige Erinnerungen in eine literarische Welt in einer fremden, „stummen“ Sprache verdrängt, die es erlaubt, Traumata zu bearbeiten und nur das Konstruktive zurückzulassen.
Im neuerschienenen Buch von Katja Petrowskaja, Als wäre es vorbei. Texte aus dem Krieg (2025), ist kaum noch Raum für Erinnerungen oder das uneindeutige Literaturspiel. Der Schmerz der Autorin über das Leiden ihres Heimatlands kommt direkt und unversteckt zum Ausdruck – es gibt keine zeitlichen Verflechtungen, keine komplexen Metaphern und Erzählstrukturen. Der rote Faden setzt sich aus dokumentierten Ereignissen und Fotos aus dem Kriegsverlauf zusammen – Ausbruch, Bombardierungen, die Belagerung und vollkommene Zerstörung Mariupols, die systematischen Gräueltaten in Butscha. Auch um das Leben in Angst und den Mut der Menschen in der Ukraine geht es. Trotz einiger literarischer Bilder (etwa die verfremdete Wahrnehmung eines Schildes auf einem Feld – „als würden Minen im Gemüsebeet wachsen oder am Waldrand“, S. 51) bleibt der Text prinzipiell unmetaphorisch. An die Stelle literarischer Vielschichtigkeit tritt ein politischer Slogan – und ein Schrei über das Grauen des Krieges im Heimatland.
Es ist schwer zu sagen, ob dem Werk dadurch die künstlerische Kraft abhandenkommt. Denn: Konnte man es überhaupt anders schreiben? Beim Lesen wird deutlich, dass Petrowskaja nicht mehr die Schriftstellerin ist, die sie früher war. Aber wie hätte sie unter dem Eindruck des Krieges dieselbe bleiben können?
Seit der Ausweitung des Krieges frage ich mich, ob man sich weiterhin mit den Traumata der Vergangenheit beschäftigen kann, wenn im selben Augenblick grausame Verbrechen verübt werden, Bomben auf Dächer fallen und Menschen in sinnlosen Kämpfen sterben. Kann man sich der distanzierten Familienvergangenheit annehmen, wenn es doch gleichzeitig so wichtig erscheint, jede Kleinigkeit der kriegsgeschundenen Gegenwart wahrzunehmen, zu dokumentieren und möglichst präzise zu berichten? Gibt es in Zeiten von Traumata Raum für Reflexion? Gibt es Familiengeschichte, wenn die Familie im Jetzt in Gefahr ist?
Ich kenne keine Antworten auf diese Fragen. Aber ich glaube an die heilende Kraft der Kunst – trotz allem. Und eines weiß ich sicher: dass ich noch einmal auf der freien Moskauer Non/fiction-Buchmesse dabei sein möchte – um dort einer Lesung von Katja Petrowskaja zu lauschen.
Literaturverzeichnis:
Vielleicht Esther. Geschichten. Suhrkamp, Berlin 2014.
Das Foto schaute mich an. Kolumnen. Suhrkamp, Berlin 2022.
Als wäre es vorbei. Texte aus dem Krieg. Suhrkamp, Berlin 2025.
Bilderquelle des Titelbilds und der Buchcover im Text: Suhrkamp Verlag.