Jugoslawien ist nicht mehr. Wie aber lässt sich der Zerfall dieser Nation darstellen, ohne den untergegangenen Staat zu romantisieren? Der serbische Spielfilm Sramota (Lost Country), der 2023 in Cannes Premiere feierte, begibt sich auf eine Gratwanderung zwischen Regimekritik und Jugo-Nostalgie.
Ein Junge, vielleicht fünfzehn Jahre alt, klettert barfuß einen Walnussbaum hinauf. Er pflückt eine Handvoll Nüsse von den Ästen und wirft sie seinem Großvater zu. Es ist eine idyllische Szene: Ein leichter Wind fährt durch sattgrüne Blätter und der Großvater erzählt von seiner Zeit im olympischen Wasserpolo-Team Jugoslawiens. Auf der blauen Trainingsjacke des Jungen leuchtet der abblätternde Schriftzug Yugoslavia. Dann schwenkt die Kamera über das sonnenbeleuchtete Hinterland Serbiens und der Junge bemerkt, wie am Horizont dunkle Wolken aufziehen. Ein Unwetter liegt in der Luft.
Es ist 1996 und das Gewitter, das in Vladimir Perišić’ neuem Film Lost Country über der serbischen Provinz aufzieht, ist ein metaphorisches: An diesem Novemberabend braut sich eine landesweite Protestbewegung zusammen. Die Präsidentschaftswahlen enden damit, dass dem sozialistischen Regime Slobodan Milošević’ vorgeworfen wird, die Wahlergebnisse verfälscht und sich den Sieg erschlichen zu haben. In körnigen Super-16-Bildern hält das französisch-brasilianische Kamerateam Sarah Blum und Louise Botkay fest, wie sich die Anhänger des demokratischen Oppositionsbündnisses Zajedno (Zusammen) versammeln und sich Straßenschlachten mit der Polizei liefern. Es sind Bilder, die deutlich an den dokumentarischen Stil von Fernsehreportagen aus den 1990er-Jahren erinnern. Sie wirken so rau und ungekünstelt, dass sie die Fiktionalität des Films beinahe untergraben.
Zeit der Monster
Anhand des Jungen aus dem Walnussbaum erzählt Perišić gemeinsam mit der französischen Drehbuchautorin Alice Winocour, wie die Demonstrationen die serbische Gesellschaft entzweien. Der ruhige Jugendliche Stefan (Jovan Ginić) steht zwischen den Fronten: zwischen seinen Schulfreunden einerseits, die die Proteste unterstützen, und seiner geliebten Mutter (Jasna Đuričić) andererseits, die dem Milošević-System eng verbunden bleibt. Sie ist nicht nur die Sprecherin der Sozialistischen Partei, auch ihr Vorname Marklena – ein Portemanteau aus Marx und Lenin – macht sie zu einer Repräsentantin der serbischen Elite, die dem Sozialismus treu geblieben ist. Der Film führt vor, wie Stefan an dem Druck zerbricht, sich für eine Seite entscheiden zu müssen. Das Heile-Welt-Getue seiner Familie kann er nicht ertragen, aber auch von seinen ehemaligen Freunden wendet er sich ab. Sie hänseln und verprügeln ihn, weil er seine Mutter verteidigt.
Eine immer düsterer werdende Bildsprache unterstreicht die zunehmende Einsamkeit des Protagonisten. Die bunten, gesättigten Farben, die den Film anfangs auszeichnen, bleichen im Verlauf der Handlung aus. In langen Nachtaufnahmen streift Stefan verloren durch die Straßen Belgrads und mischt sich unter die Protestierenden. Er schaut ihnen ohnmächtig dabei zu, wie sie sich Kämpfe mit den Gegendemonstranten liefern, die die Regierung aus der serbischen Provinz herantransportiert hat. Einige Demonstranten werden brutal von der Geheimpolizei zusammengeschlagen. Ein Mädchen zieht Stefan an sich und malt ihm eine Joker-Maske aufs Gesicht, vermutlich, um ihn zum Mitmachen zu bewegen. Doch er flieht vor ihr. Diese Belgrader Nacht ist die „Zeit der Monster“ im Sinne Antonio Gramscis: „Das Alte stirbt und das Neue kann nicht zur Welt kommen: Es ist die Zeit der Monster.“ In dieser Zwischenwelt hält es Stefan nicht mehr aus. Ein Crescendo der Verzweiflung begleitet ihn gegen Ende des Films, das den Zuschauer:innen auch noch in den Ohren dröhnt, wenn der Vorhang schließt.
Spirale der Gewalt
Es ist besonders die Eskalation der Gewalt, die der Film darzustellen versteht. Persönliche Angriffe auf Stefan und seine Mutter mehren sich, er geht nur noch mit Kapuze aus dem Haus, um nicht direkt als Marklenas Sohn erkannt zu werden. Und obwohl Stefan als konfliktscheu dargestellt wird, lässt auch er sich in einer Schlüsselszene zu einer Gewalthandlung hinreißen. Er lauert seiner Mutter zu Hause auf und bedroht sie mit einem Messer, damit sie mit ihm über ihre Rolle bei der Wahlfälschung spricht. Marklena kann die Situation zwar entschärfen und Stefan wieder in die Arme nehmen. Aber die grundlegende Vertrauensbasis in ihrer Beziehung wirkt zerbrochen.
Gerade die Mutter-Sohn-Beziehung weist starke autobiographische Bezüge auf. Der aus Belgrad stammende Perišić nahm als 19-Jähriger selbst an den im Film porträtierten Demokratieprotesten teil – trotz oder gerade wegen der Parteimitgliedschaft seiner Mutter. In einem Interview mit dem Belgrader Filmkritiker Vladan Petković erklärt Perišić, dass er die Demonstrationen als befreiend empfunden habe. Stefan hingegen lässt sich nicht von den Protesten mitreißen. Stattdessen kehrt er sich seinem Inneren zu und wird in eine depressive Findungsphase geworfen, in der er seine angestaute Wut letztlich gegen sich selbst richtet.
Mit der Figur des Stefan gelingt es dem Autor:innenteam Winocour und Perišić außerdem, die physische Gewalt im Umfeld der Proteste näher zu analysieren. Es ist eine Gewalt, die nicht einfach im luftleeren Raum entsteht, sondern vielmehr auf die gesellschaftlichen Verhältnisse innerhalb Serbiens zurückzuführen ist. Der Film geht von einem Autoritarismus aus, der so in sich verwachsen, so tief im Unbewussten der Menschen festsitzt, dass er sich nicht einfach durch rationale Aktionen von Politiker:innen oder Protestierenden ändern lässt. Es ist eine Gewalt, die nicht einfach im luftleeren Raum entsteht, sondern in einer durch den Krieg radikalisierten, autoritär geführten Gesellschaft. Man denke zum Beispiel an die Massaker von Vukovar, Krushë e Madhe oder den Genozid von Srebrenica. Stefan ist trotz der anfänglichen Wutausbrüche der Einzige, dem es im Film gelingt, aus dieser Spirale der physischen Gewalt auszubrechen und eine Beobachterposition einzunehmen.
Möglicherweise geht es Perišić in seinen Filmen genau darum, erst einmal nur zu beobachten. Auch sein Debüt Obični ljudi (Ordinary People, 2009), das auf die Kriegsverbrechen Bezug nimmt, die in den Jugoslawien-Kriegen verübt wurden, lässt sich wie eine Versuchsanordnung verstehen. Lost Country widmet sich demgegenüber viel eindeutiger den inneren Problemen des Landes und stellt das politische System Serbiens infrage. Perišić ist diese kritische Verhandlung wohl auch deshalb möglich, weil er nicht von finanzieller Förderung durch den serbischen Staat abhängig ist. Der seit einigen Jahren in Paris lebende Regisseur arbeitet auch in seinem aktuellen Film vorwiegend mit französischen und luxemburgischen Produktionsfirmen und Gewerken zusammen.
Nationale Nabelschau
Zwar gibt es unterschiedliche Perspektiven, die in Lost Country aufeinandertreffen – die der Systemtreuen und der Regimegegner –, dennoch fällt auf, dass der Film ausnahmslos serbische Sichtweisen repräsentiert. Das lässt sich zwar teils aus der Anlage des Films erklären, der post-jugoslawische Geschichte am Beispiel eines Jungen aus der höheren Belgrader Gesellschaft erzählen will. Aber angesichts der zahlreichen Verweise auf die unmittelbare gesamtjugoslawische Vergangenheit ist es doch verwunderlich, dass andere jugoslawische Nationalitäten, etwa die kroatische und bosnische, so gewissenhaft ausgeblendet werden.
Die starke Zentrierung auf homogen serbische Perspektiven wirft auch die Frage auf, inwiefern dieser Film mit einem idealisierenden Blick auf das „verlorene Land“ Jugoslawien schaut. Während der originale Filmtitel Sramota (Scham), noch darauf verweist, dass sich der Protagonist für seine Familie schämt, klingen in der übersetzten Version Lost Country bereits implizite Sehnsuchtsgefühle nach einem Früher an, in dem vermeintlich noch alles in Ordnung war. Besonders Szenen aus dem unbeschwerten Leben am Anfang des Films, die Stefan bei seinen Großeltern auf dem Land verbringt, machen das wehmütige Moment in Lost Country deutlich. Im Gegensatz zu der zerrütteten Gegenwart wirken sie wie ein Abglanz der goldenen Jahre unter Präsident Tito. Diese Nostalgie nach dem ‚alten‘ Jugoslawien, die vergleichbar ist mit der sogenannten Ostalgie, der verklärenden Erinnerung an die DDR, birgt die Gefahr, den kritischen Blick auf die komplexen Konflikte Ex-Jugoslawiens zu verschleiern.
In der internationalen Wahrnehmung hat dem Film dieser nostalgische Serbozentrismus allerdings nicht geschadet. Die Festivals in Athen, Zagreb und Chicago haben den Film für die Hauptwettbewerbe nominiert, und Jovan Ginić wurde für sein Schauspieldebüt in Cannes und Sarajevo ausgezeichnet. Diese positive Rezeption kann auch damit zusammenhängen, dass sich Lost Country hervorragend als Kritik an der gegenwärtigen politischen Situation in Serbien lesen lässt. Auch nach den Kommunal- und Parlamentswahlen im Dezember 2023 wurden wieder Vorwürfe nach Wahlfälschung laut. Trotz landesweiten Protesten konnte die rechtspopulistische Serbische Fortschrittspartei von Aleksandar Vučić erneut den Sieg für sich beanspruchen. Es ist fast unheimlich, wie sehr die Filmszenen die aktuelle politische Situation vorwegzunehmen scheinen. Bis heute scheint die Gewalt, die seit Milošević von der Belgrader Regierung ausgeht, ungebrochen.
Perišić, Vladimir: Sramota (Lost Country), Serbien, 2023, 98 Min.
Quelle des Titelbildes: https://www.semainedelacritique.com/en/edition/2023/movie/lost-country