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„Man muss jetzt schreien“ - Interview mit Aliaksei Paluyan

Posted on 23. November 2021 by Eva Hofmann
Es sind bewegende Bilder, die in Aljaksej Polujans [Aliaksei Paluyan] Dokumentarfilm Courage zu sehen sind. Als die belarussische Freiheitsbewegung im August 2020 auf ihren Höhepunkt zusteuert, ist der Filmemacher mittendrin im Geschehen. Gemeinsam mit seiner Crew begleitet Palujan die Proteste und dokumentiert unter lebensgefährlichen Umständen den Kampf Tausender gegen das Regime. Im Zentrum: die Schauspieler_innen des „Belarus Free Theatre“, die mit ihrem Einsatz auf der Bühne für ein gerechtes Belarus kämpfen. novinki hat mit Aljaksej Polujan über seinen aufsehenerregenden Film, seine Mission als Filmregisseur und die Zukunft der Freiheitsbewegung in Belarus gesprochen.

Es sind bewegende Bilder, die in Aliaksei Paluyans Dokumentarfilm Courage zu sehen sind. Als die belarussische Freiheitsbewegung im August 2020 auf ihren Höhepunkt zusteuert, ist der Filmemacher mittendrin im Geschehen. Gemeinsam mit seiner Crew begleitet Palujan die Proteste und dokumentiert unter lebensgefährlichen Umständen den Kampf Tausender gegen das Regime. Im Zentrum: die Schauspieler_innen des „Belarus Free Theatre“, die mit ihrem Einsatz auf der Bühne für ein gerechtes Belarus kämpfen. novinki hat mit Aliaksei Paluyan über seinen aufsehenerregenden Film, seine Mission als Filmregisseur und die Zukunft der Freiheitsbewegung in Belarus gesprochen.

 

Eva Hofmann: Aliaksei, in Courage dokumentierst du die Protestbewegung in Belarus. Im Zentrum deines Films stehen die Schauspieler_innen des „Belarus Free Theatre“, ihre Arbeit und ihr Engagement in der belarussischen Freiheitsbewegung im Jahr 2020. Wie bist du auf die Theatergruppe aufmerksam geworden, was hat dich besonders an ihr fasziniert?

 

Aliaksei Paluyan: Während meiner Studienzeit in Minsk bin ich zum ersten Mal auf das „Belarus Free Theatre“ aufmerksam geworden. Ich wurde damals von einem Freund eingeladen, eine Vorstellung des Theaters zu besuchen. Er sagte, dass ich meinen Ausweis mitnehmen solle, da kurz zuvor alle Anwesenden im Theatersaal festgenommen wurden. Zuerst war ich schockiert, dann habe ich mich aber dafür entschieden, mitzukommen.

 

E.H.: Hast Du dich damals in Minsk bereits politisch engagiert?

 

A.P.: Ja, sehr. Schon während meiner Schulzeit war ich politisch aktiv und habe mich 2006 während der Wahlen in Belarus engagiert. Dafür war auch der Einfluss meiner Eltern entscheidend, die nie für Lukaschenko gestimmt und sich über andere Zeitungen als die Regierungsmedien informiert haben. Dadurch habe ich viel mitbekommen und mich auch an Demonstrationen beteiligt. Bei den Wahlen von 2010 waren ein Freund und ich die einzigen beiden auf unserer Etage im Studentenwohnheim, die nicht gewählt haben. Dadurch haben wir im darauffolgenden Jahr unseren Wohnheimplatz verloren.

 

E.H.: Wie hast du damals diese Vorstellung des „Belarus Free Theatre“ im Underground erlebt?

 

A.P.: 2011 kaufte man noch keine Karten für die Vorstellungen. Man wurde abgeholt und an einen geheimen Ort gebracht. Wir wurden in einen Raum geführt, der etwa 30 Quadratmeter groß war und keine Stühle hatte. Eine Bühne oder einen Theaterraum im klassischen Sinn gab es nicht. Ich war so begeistert, dass ich nach fünf Minuten bereits vergessen hatte, dass ich auf dem Boden saß. Denn die Schauspieler_innen des „Belarus Free Theatre“ sprachen mit uns über Themen, die weder im Theater noch allgemein in der Öffentlichkeit behandelt werden konnten: die Todesstrafe, Folter im Gefängnis, die Entführung von Aktivist_innen und Politiker_innen. Die Wahrhaftigkeit und der Mut, mit denen dort über diese Themen gesprochen wurde, haben mich fasziniert.

 

E.H.: War diese Erfahrung des Potenzials von Theater und Kunst als Möglichkeit des politischen Protests die Initialzündung für deine Karriere als Filmemacher?

 

A.P.: Ja, ich würde heute sagen, dass die erste Vorstellung, die ich im „Belarus Free Theatre“ besucht habe, mir damals den Impuls gegeben hat, noch einmal darüber nachzudenken, was ich eigentlich machen möchte. Mit meinem Studium der Informatik war ich nie wirklich glücklich, es begeisterte mich nicht. Ich habe aber als Student viel Theater gespielt und ich bin oft ins Kino gegangen. Das Kino war für mich Magie. Filme zu drehen war mein Traum. Nach dem Abend im „Belarus Free Theatre“ entdeckte ich zufällig im Goethe Institut in Minsk eine Ausschreibung für ein Austauschstudium in Kassel und bewarb mich. So landete ich an der Kunsthochschule Kassel, wo ich unglaublich starke Menschen kennengelernt habe, wie meine Professorin Yana Drouz und all die Menschen, die mit mir studiert haben. Das hat mir gezeigt: Wenn man wirklich Liebe und Leidenschaft für etwas empfindet, dann sollte man diesem Gefühl folgen.

 

E.H.: Wann und wie entstand die Idee für den Film Courage?

 

A.P.: Im Jahr 2018. Ich wollte einen Film über Künstler_innen in repressiven Systemen drehen. Seit dem Theatererlebnis in Minsk stand für mich fest, dass ich mit den Schauspieler_innen des "Belarus Free Theatre" zusammenarbeiten möchte. Ihre Wahrhaftigkeit beeindruckte mich, ebenso wie ihre Bereitschaft, Schwierigkeiten auf sich zu nehmen, um ihr Publikum zu sensibilisieren. 2018 sprach ich zuerst mit dem Schauspieler Denis Tarasenka, mit dem ich in meinem Kurzfilm Lake of Happiness zusammengearbeitet habe. Als ich ihm von meinem neuen Projekt berichtete, sagte er: „Aliaksei – aber ich bin nicht mehr am Theater!“ Dass Denis an keinem öffentlichen Theater spielen durfte, hat mir noch einmal gezeigt, wie hoch der Preis dafür ist, kritische Themen zu bearbeiten. Über Denis habe ich dann meine anderen beiden Protagonist_innen für Courage kennengelernt – Maryna Yakubovich und Pavel Haradnizky. Die Einfachheit und Offenheit ihrer Arbeit haben mich inspiriert, in meinem Film auch selbst mit möglichst einfachen Mitteln auf diese gewichtigen Themen aufmerksam zu machen.

 

E.H.: Welche Rolle spielte es dabei, dass du schon seit acht Jahren in Deutschland lebst?

 

A.P.: Es war sehr wichtig, dass ich mich in einer anderen Situation befinde als die Filmemacher_innen in Belarus. Einerseits werde ich dadurch in Belarus oft nicht richtig wahrgenommen. Andererseits ist es aber ein großer Vorteil für mich, zwischen zwei Ländern zu sein und die Distanz zu nutzen, um mit einem anderen Blick auf die Dinge zu schauen.

 

E.H.: Und wie hat sich das Filmprojekt entwickelt? Gab es ein Drehbuch?

 

A.P.: Nein, kein Drehbuch. Ich hatte einige Ideen, Vorstellungen und ein Konzept im Kopf.  Den Großteil der Story haben wir aber erst viel später nach Abschluss der gesamten Dreharbeiten im Schnitt zusammengeführt.

 

E.H.: Wie habt ihr mit der Realisierung begonnen?

 

A.P.: 2019 habe ich zunächst mit Jesse Mazuch, einem Kameramann aus Berlin, mehrere Theateraufführungen des "Belarus Free Theatre" besucht und viele statische Aufnahmen von Minsk gemacht. Es war mir wichtig, am Anfang des Films die Fassade eines liberalen Staates zu zeigen, die Lukaschenko über viele Jahre hinweg aufgebaut und dem Westen erfolgreich „verkauft“ hat. Die statischen Aufnahmen sollten zeigen, wie steril und unlebendig die Stadt wirkt. Um den gewünschten Effekt zu erzielen, haben wir die Sequenzen mit einer großen, auf einem Stativ befestigten Kamera gedreht. Diese Art zu drehen war natürlich sehr auffällig, aber ich wollte auch testen, wie weit wir gehen konnten, mit dieser weithin sichtbaren Technik und einem ausländischen Kameramann.

 

E.H.: Hat man euch gewähren lassen?

 

A.P.: Ja. Aber die Aufnahmen, die Tanya Haurylchyk als Kamerafrau während der Proteste drehte, erhielten dann einen ganz anderen Charakter. Wir haben uns auf die Ebene der Menschen und in die Protestbewegung hineinbegeben. Diese Sequenzen sind direkt aus der Situation heraus entstanden und zeichnen sich durch einen sehr emotionalen, offenen und lebendigen Stil aus. Es war mir wichtig, den Kontrast zwischen den statischen Aufnahmen der Stadt-Fassade einerseits und den lebendigen Bildern der Proteste andererseits herauszuarbeiten.

 

E.H.: Und die äußeren Bedingungen? War die Entwicklung abzusehen? Wie seid ihr mit der wachsenden Gefahr umgegangen?

 

A.P.: Ich hatte schon geahnt, dass es zu Aufständen kommen könnte, aber dass es so schnell passieren würde, damit hat keiner gerechnet. Vor allem auch die Coronapandemie hat die Prozesse beschleunigt. Wir haben uns auf brutale Proteste vorbereitet, aber wir haben nicht damit gerechnet, dass die Gegenreaktionen so gewaltsam ausfallen würden, dass die Polizei auf Menschen schießt und Menschen in den Gefängnissen gefoltert werden. Die schnelle Entwicklung, die unvorhersehbaren Ereignisse und die großen Momente der Bewegung konnten wir nur aus der Situation heraus dokumentieren. Wir haben versucht, alle aktuellen Geschehnisse aufzugreifen und zu filmen. Dadurch hat unsere Arbeit noch eine weitere, investigative Dimension erhalten. Wir waren immer auf der Suche nach einer heißen Spur und haben uns immer gefragt: Wo bewegt sich gerade etwas? Wo finden gerade die wichtigen Ereignisse statt? Diese Momente haben wir mit der Kamera festgehalten.

 

E.H.: Wie kam es dazu, dass der Kameramann/die Kamerafrau während der Dreharbeiten gewechselt hat?

 

A.P.: Im Jahr 2019 haben wir mit einem ausländischen Kameramann, Jesse Mazuch, gedreht. Als es Anfang 2020 jedoch die ersten Festnahmen gab, mussten wir uns darauf vorbereiten, dass die Dreharbeiten sehr gefährlich werden würden. Das Risiko für Jesse, der sich mit den Verhältnissen vor Ort zu wenig auskannte und sich in den Landesprachen schlecht verständigen konnte, schien mir einfach nicht mehr vertretbar. Durch eine Empfehlung wurde ich auf Tanya Haurylchyk aufmerksam, die auch als Journalistin Erfahrung hatte. Sie arbeitete für die unabhängige Zeitung „Naša Niva“ – die erste belarussische Zeitung, die heute ein wichtiges Medium für unabhängige Berichterstattung ist. Tanya sagte im Juli 2020 bei unserem ersten Telefonat sofort zu. Zunächst sollte noch das Stück Dogs of Europe des „Belarus Free Theatre“ gefilmt werden, aber dann ging es gleich auch um die Dokumentation der Proteste. Dafür mussten wir uns auch um Gasmasken kümmern. Die Zusammenarbeit mit Tanya lief außergewöhnlich gut und so harmonisch, dass manche Dinge gar nicht ausgesprochen werden mussten. Wir haben bis zum September 2020 gefilmt. Dann war es Zeit, sich in Sicherheit zu bringen.

 

E.H.: Das klingt sehr mutig!

 

A.P.: Ja, ich bin sehr dankbar dafür, dass Tanya den Mut hatte, diesen Film mit mir zu drehen. Ohne sie wäre Courage nicht entstanden. Sie ist die einzige Person unseres Drehteams, die sich heute noch in Belarus befindet. Und zwar aus Überzeugung. Sie hat eine bewusste Entscheidung getroffen und ist sich aller Konsequenzen bewusst. Obwohl wir bereits einen Plan vorbereitet hatten, wie sie das Land hätte verlassen können, sagte sie: „Wenn alle gehen, wer führt dann die Revolution weiter?“ Tanyas Beispiel zeigt ein weiteres Mal, dass die belarusische Revolution auch eine Revolution der Frauen ist. Ich respektiere ihre mutige Entscheidung, aber ich bange um sie.

 

E.H.: „Mut“, das ist das Thema des ganzen Films Courage. Woher kommt dieser unglaubliche Mut der Bevölkerung von Belarus, welche der Gefahr von Verhaftung und Polizeigewalt trotzt?

 

A.P.: Dieser Frage bin ich beim Schnitt des Films nachgegangen. Ich mag das Wort „Courage“ eigentlich nicht: Es ist durch die Sprache der sozialistischen Ideologie vorbelastet, von daher pathetisch aufgeladen und wurde oft zu manipulativen Zwecken missbraucht. Aber als ich im August 2020 in Belarus war, habe ich beobachtet, wie unglaublich stark die Menschen waren, die sich bewusst entschieden, auf die Straße zu gehen, wie sie trotz des Risikos von Verhaftung und Folter eine wunderbare und kreative Atmosphäre schufen. Dann änderte sich die Situation grundlegend: Die Menschen leben seither in Angst und leiden unter ständigen Repressionen, aber sie sind weiterhin unglaublich stark. Durch den Einschnitt der Ereignisse im letzten Jahr konnte die Gesellschaft endlich an Entwicklungen der 1990er Jahre anknüpfen, die viele Jahre durch Lukaschenko gestoppt worden waren, und im Widerstand gegen das Unrechtsregime den Aufbau des Landes vorantreiben. Seit einem Jahr ist Belarus ein anderes Land. Erst durch diese Erfahrung, diese Einsicht während der Dreharbeiten habe ich meine eigene Definition von Courage gefunden. Seitdem bedeutet das Wort für mich, dass Menschen auch in ausweglosen Situationen, in denen alles verloren scheint, den Mut finden, etwas zu verändern. Aus einer solchen ausweglosen und daher existentiell bedrohlichen Situation heraus entsteht Courage, der Mut zur Verteidigung des Äußersten. Die Revolution in Belarus war eine Revolution der Moral, bei der es nicht mehr um Politik oder um wirtschaftliche Interessen ging, sondern um die Menschen selbst. Wenn Frauen und Männer in Gefängnissen vergewaltigt werden, dann geht es nur noch um Menschenwürde und Grundrechte. In Belarus bedarf es ungeheurer Courage, um für diese Grundwerte menschlicher Existenz auf die Straße zu gehen.

 

E.H.: Für wen hast Du diesen Film gemacht? Wen adressiert er eigentlich in erster Linie?

 

A.P.: Ich habe den Film für Belarus und für die Menschen in Belarus gemacht, aber ich adressiere ein ausländisches Publikum. Der Austausch mit meinen Freund_innen in Deutschland hilft mir dabei herauszufinden, wie bestimmte Themen auf die westeuropäische Gesellschaft wirken. Das ist unglaublich wichtig, denn nur so kann es gelingen, lokale Themen in ihrer globalen Relevanz zu zeigen. Ich kann daran arbeiten, Menschen in anderen Ländern zu berühren – mit den Themen, die die Menschen in Belarus beschäftigen. Und wichtig ist auch, was die Protagonistin Maryna Yakubovich am Ende von Courage sagt: Das, was in Belarus passiert, ist nicht nur Sache dieses Landes. In Deutschland und in anderen europäischen Staaten sind ja ebenfalls autoritäre rechte Tendenzen auf dem Vormarsch. Deshalb ist es für alle Menschen wichtig aufzuwachen.

 

E.H.: Welche Rolle spielen die im Exil lebenden Belaruss_innen für die Freiheitsbewegung?

 

A.P.: Ich denke, sie bilden ein Sprachrohr. Nicolai Khalezin, der Gründer des "Belarus Free Theatre", der sich in London aufhält, ist hier ein gutes Beispiel: Er engagiert sich seit Langem in der Politik und setzt sich für die Durchsetzung von Sanktionen ein. Ich habe diese Rolle nun auch für mich entdeckt. Ich bin bereit, Verantwortung zu übernehmen und die damit verbundene Gefahr zu akzeptieren: Da ich bestimmt bereits auf einer Liste stehe, kann ich nun nicht mehr nach Belarus zurückkehren, um meine Eltern zu besuchen. Aber die Menschen im Exil haben ihre Entscheidung bewusst getroffen. Sie leben mit den Konsequenzen und akzeptieren, dass es kein Zurück gibt. Und sie wissen, dass sie jetzt schreien müssen und nicht verstummen dürfen, denn sonst wäre das die beste Voraussetzung für das Regime, dass diese Menschen aus dem Land sind.

 

E.H.: Können Menschen im Ausland die Bewegung und die Aktivist_innen in Belarus auch unterstützen? Ihr selbst habt auf der Berlinale dazu aufgerufen, Briefe an inhaftierte Aktivist_innen zu versenden. Ist das ein geeigneter Weg, sich solidarisch zu zeigen?

 

A.P.: Auf jeden Fall! Das ist eine große Hilfe. Viele Inhaftierte haben mir erzählt, dass es für sie noch viel wichtiger ist einen Brief zu erhalten als die klassischen „Überlebenspakete“ ihrer Familie. Ein Brief kann unglaublich viel neue Energie und frischen Wind in den Alltag der Gefangenen bringen, selbst wenn er einfach nur von einer schönen Reise berichtet. Wichtig ist, dass Belarus im Ausland ein wichtiges Thema bleibt, dass die Debatte nicht verstummt. Das Regime muss spüren, dass man die Zeit nicht mehr zurückdrehen kann, dass die Welt hinschaut und sieht, was in Belarus passiert und dies nicht mehr akzeptiert. Und das ist eigentlich die größte Unterstützung: Den Menschen zu zeigen, dass sie nicht vergessen werden.

 

E.H.: Gibt es aktuelle Projekte, an denen du arbeitest?

 

A.P.: Aktuell arbeite ich an einem Drehbuch, das thematisch an Courage anknüpft. Anhand von Motiven aus meiner Familiengeschichte geht es um die Frage, was Freiheit ist. Mein Geburtsjahr ist 1989 und ich wäre fast in Bernau bei Berlin geboren worden! Im Sommer 1989 war meine Mutter hochschwanger in Berlin, aber um mich zur Welt zu bringen, ist sie nach Belarus zurückgekehrt. Ich wurde am 18. Oktober geboren, zwei Wochen bevor die Berliner Mauer fiel. Zwei Jahre später zerbrach die Sowjetunion. Hier und dort kamen die Menschen in eine Situation, auf die sie nicht vorbereitet waren. Sie wussten nicht, was Freiheit ist, aber mussten ein neues Land aufbauen. Mit den Fragen und den Problemen, die daraus entstanden, beschäftige ich mich in meinem neuen Drehbuch. Und ich möchte diese historischen Situationen mit der heutigen neuen Realität in Belarus verbinden. Der Sohn, dessen Geschichte der Film von Geburt an erzählen wird, wird schließlich aktiv an der Protestbewegung in Belarus teilnehmen. Es wird ein Spielfilm.

 

E.H.: Vielen Dank für das Interview!

Eva Hofmann führte das Interview im Juni 2021.

„Man muss jetzt schreien“ - Interview mit Aliaksei Paluyan - novinki
Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

„Man muss jetzt schreien“ – Inter­view mit Ali­aksei Paluyan

Es sind bewe­gende Bilder, die in Ali­aksei Palu­yans [Aljaksej Polujan] Doku­men­tar­film Cou­rage zu sehen sind. Als die bela­rus­si­sche Frei­heits­be­we­gung im August 2020 auf ihren Höhe­punkt zusteuert, ist der Fil­me­ma­cher mit­ten­drin im Geschehen. Gemeinsam mit seiner Crew begleitet Palujan die Pro­teste und doku­men­tiert unter lebens­ge­fähr­li­chen Umständen den Kampf Tau­sender gegen das Regime. Im Zen­trum: die Schauspieler_innen des „Belarus Free Theatre“, die mit ihrem Ein­satz auf der Bühne für ein gerechtes Belarus kämpfen. novinki hat mit Ali­aksei Paluyan über seinen auf­se­hen­er­re­genden Film, seine Mis­sion als Film­re­gis­seur und die Zukunft der Frei­heits­be­we­gung in Belarus gesprochen.

 

Eva Hof­mann: Ali­aksei, in Cou­rage doku­men­tierst du die Pro­test­be­we­gung in Belarus. Im Zen­trum deines Films stehen die Schauspieler_innen des „Belarus Free Theatre“, ihre Arbeit und ihr Enga­ge­ment in der bela­rus­si­schen Frei­heits­be­we­gung im Jahr 2020. Wie bist du auf die Thea­ter­gruppe auf­merksam geworden, was hat dich beson­ders an ihr fasziniert?

 

Ali­aksei Paluyan: Wäh­rend meiner Stu­di­en­zeit in Minsk bin ich zum ersten Mal auf das „Belarus Free Theatre“ auf­merksam geworden. Ich wurde damals von einem Freund ein­ge­laden, eine Vor­stel­lung des Thea­ters zu besu­chen. Er sagte, dass ich meinen Aus­weis mit­nehmen solle, da kurz zuvor alle Anwe­senden im Thea­ter­saal fest­ge­nommen wurden. Zuerst war ich scho­ckiert, dann habe ich mich aber dafür ent­schieden, mitzukommen.

 

E.H.: Hast Du dich damals in Minsk bereits poli­tisch engagiert?

 

A.P.: Ja, sehr. Schon wäh­rend meiner Schul­zeit war ich poli­tisch aktiv und habe mich 2006 wäh­rend der Wahlen in Belarus enga­giert. Dafür war auch der Ein­fluss meiner Eltern ent­schei­dend, die nie für Lukaschenko gestimmt und sich über andere Zei­tungen als die Regie­rungs­me­dien infor­miert haben. Dadurch habe ich viel mit­be­kommen und mich auch an Demons­tra­tionen betei­ligt. Bei den Wahlen von 2010 waren ein Freund und ich die ein­zigen beiden auf unserer Etage im Stu­den­ten­wohn­heim, die nicht gewählt haben. Dadurch haben wir im dar­auf­fol­genden Jahr unseren Wohn­heim­platz verloren.

 

E.H.: Wie hast du damals diese Vor­stel­lung des „Belarus Free Theatre“ im Under­ground erlebt?

 

A.P.: 2011 kaufte man noch keine Karten für die Vor­stel­lungen. Man wurde abge­holt und an einen geheimen Ort gebracht. Wir wurden in einen Raum geführt, der etwa 30 Qua­drat­meter groß war und keine Stühle hatte. Eine Bühne oder einen Thea­ter­raum im klas­si­schen Sinn gab es nicht. Ich war so begeis­tert, dass ich nach fünf Minuten bereits ver­gessen hatte, dass ich auf dem Boden saß. Denn die Schauspieler_innen des „Belarus Free Theatre“ spra­chen mit uns über Themen, die weder im Theater noch all­ge­mein in der Öffent­lich­keit behan­delt werden konnten: die Todes­strafe, Folter im Gefängnis, die Ent­füh­rung von Aktivist_innen und Politiker_innen. Die Wahr­haf­tig­keit und der Mut, mit denen dort über diese Themen gespro­chen wurde, haben mich fasziniert.

 

E.H.: War diese Erfah­rung des Poten­zials von Theater und Kunst als Mög­lich­keit des poli­ti­schen Pro­tests die Initi­al­zün­dung für deine Kar­riere als Filmemacher?

 

A.P.: Ja, ich würde heute sagen, dass die erste Vor­stel­lung, die ich im „Belarus Free Theatre“ besucht habe, mir damals den Impuls gegeben hat, noch einmal dar­über nach­zu­denken, was ich eigent­lich machen möchte. Mit meinem Stu­dium der Infor­matik war ich nie wirk­lich glück­lich, es begeis­terte mich nicht. Ich habe aber als Stu­dent viel Theater gespielt und ich bin oft ins Kino gegangen. Das Kino war für mich Magie. Filme zu drehen war mein Traum. Nach dem Abend im „Belarus Free Theatre“ ent­deckte ich zufällig im Goethe Institut in Minsk eine Aus­schrei­bung für ein Aus­tausch­stu­dium in Kassel und bewarb mich. So lan­dete ich an der Kunst­hoch­schule Kassel, wo ich unglaub­lich starke Men­schen ken­nen­ge­lernt habe, wie meine Pro­fes­sorin Yana Drouz und all die Men­schen, die mit mir stu­diert haben. Das hat mir gezeigt: Wenn man wirk­lich Liebe und Lei­den­schaft für etwas emp­findet, dann sollte man diesem Gefühl folgen.

 

E.H.: Wann und wie ent­stand die Idee für den Film Cou­rage?

 

A.P.: Im Jahr 2018. Ich wollte einen Film über Künstler_innen in repres­siven Sys­temen drehen. Seit dem Thea­ter­er­lebnis in Minsk stand für mich fest, dass ich mit den Schauspieler_innen des “Belarus Free Theatre” zusam­men­ar­beiten möchte. Ihre Wahr­haf­tig­keit beein­druckte mich, ebenso wie ihre Bereit­schaft, Schwie­rig­keiten auf sich zu nehmen, um ihr Publikum zu sen­si­bi­li­sieren. 2018 sprach ich zuerst mit dem Schau­spieler Denis Tara­senka, mit dem ich in meinem Kurz­film Lake of Hap­pi­ness zusam­men­ge­ar­beitet habe. Als ich ihm von meinem neuen Pro­jekt berich­tete, sagte er: „Ali­aksei – aber ich bin nicht mehr am Theater!“ Dass Denis an keinem öffent­li­chen Theater spielen durfte, hat mir noch einmal gezeigt, wie hoch der Preis dafür ist, kri­ti­sche Themen zu bear­beiten. Über Denis habe ich dann meine anderen beiden Protagonist_innen für Cou­rage ken­nen­ge­lernt – Maryna Yaku­bo­vich und Pavel Hara­d­nizky. Die Ein­fach­heit und Offen­heit ihrer Arbeit haben mich inspi­riert, in meinem Film auch selbst mit mög­lichst ein­fa­chen Mit­teln auf diese gewich­tigen Themen auf­merksam zu machen.

 

E.H.: Welche Rolle spielte es dabei, dass du schon seit acht Jahren in Deutsch­land lebst? 

 

A.P.: Es war sehr wichtig, dass ich mich in einer anderen Situa­tion befinde als die Filmemacher_innen in Belarus. Einer­seits werde ich dadurch in Belarus oft nicht richtig wahr­ge­nommen. Ande­rer­seits ist es aber ein großer Vor­teil für mich, zwi­schen zwei Län­dern zu sein und die Distanz zu nutzen, um mit einem anderen Blick auf die Dinge zu schauen.

 

E.H.: Und wie hat sich das Film­pro­jekt ent­wi­ckelt? Gab es ein Drehbuch?

 

A.P.: Nein, kein Dreh­buch. Ich hatte einige Ideen, Vor­stel­lungen und ein Kon­zept im Kopf.  Den Groß­teil der Story haben wir aber erst viel später nach Abschluss der gesamten Dreh­ar­beiten im Schnitt zusammengeführt.

 

E.H.: Wie habt ihr mit der Rea­li­sie­rung begonnen?

 

A.P.: 2019 habe ich zunächst mit Jesse Mazuch, einem Kame­ra­mann aus Berlin, meh­rere Thea­ter­auf­füh­rungen des “Belarus Free Theatre” besucht und viele sta­ti­sche Auf­nahmen von Minsk gemacht. Es war mir wichtig, am Anfang des Films die Fas­sade eines libe­ralen Staates zu zeigen, die Lukaschenko über viele Jahre hinweg auf­ge­baut und dem Westen erfolg­reich „ver­kauft“ hat. Die sta­ti­schen Auf­nahmen sollten zeigen, wie steril und unle­bendig die Stadt wirkt. Um den gewünschten Effekt zu erzielen, haben wir die Sequenzen mit einer großen, auf einem Stativ befes­tigten Kamera gedreht. Diese Art zu drehen war natür­lich sehr auf­fällig, aber ich wollte auch testen, wie weit wir gehen konnten, mit dieser weithin sicht­baren Technik und einem aus­län­di­schen Kameramann.

 

E.H.: Hat man euch gewähren lassen?

 

A.P.: Ja. Aber die Auf­nahmen, die Tanya Hau­ryl­chyk als Kame­ra­frau wäh­rend der Pro­teste drehte, erhielten dann einen ganz anderen Cha­rakter. Wir haben uns auf die Ebene der Men­schen und in die Pro­test­be­we­gung hin­ein­be­geben. Diese Sequenzen sind direkt aus der Situa­tion heraus ent­standen und zeichnen sich durch einen sehr emo­tio­nalen, offenen und leben­digen Stil aus. Es war mir wichtig, den Kon­trast zwi­schen den sta­ti­schen Auf­nahmen der Stadt-Fas­sade einer­seits und den leben­digen Bil­dern der Pro­teste ande­rer­seits herauszuarbeiten.

 

E.H.: Und die äußeren Bedin­gungen? War die Ent­wick­lung abzu­sehen? Wie seid ihr mit der wach­senden Gefahr umgegangen?

 

A.P.: Ich hatte schon geahnt, dass es zu Auf­ständen kommen könnte, aber dass es so schnell pas­sieren würde, damit hat keiner gerechnet. Vor allem auch die Coro­na­pan­demie hat die Pro­zesse beschleu­nigt. Wir haben uns auf bru­tale Pro­teste vor­be­reitet, aber wir haben nicht damit gerechnet, dass die Gegen­re­ak­tionen so gewaltsam aus­fallen würden, dass die Polizei auf Men­schen schießt und Men­schen in den Gefäng­nissen gefol­tert werden. Die schnelle Ent­wick­lung, die unvor­her­seh­baren Ereig­nisse und die großen Momente der Bewe­gung konnten wir nur aus der Situa­tion heraus doku­men­tieren. Wir haben ver­sucht, alle aktu­ellen Gescheh­nisse auf­zu­greifen und zu filmen. Dadurch hat unsere Arbeit noch eine wei­tere, inves­ti­ga­tive Dimen­sion erhalten. Wir waren immer auf der Suche nach einer heißen Spur und haben uns immer gefragt: Wo bewegt sich gerade etwas? Wo finden gerade die wich­tigen Ereig­nisse statt? Diese Momente haben wir mit der Kamera festgehalten.

 

E.H.: Wie kam es dazu, dass der Kameramann/die Kame­ra­frau wäh­rend der Dreh­ar­beiten gewech­selt hat? 

 

A.P.: Im Jahr 2019 haben wir mit einem aus­län­di­schen Kame­ra­mann, Jesse Mazuch, gedreht. Als es Anfang 2020 jedoch die ersten Fest­nahmen gab, mussten wir uns darauf vor­be­reiten, dass die Dreh­ar­beiten sehr gefähr­lich werden würden. Das Risiko für Jesse, der sich mit den Ver­hält­nissen vor Ort zu wenig aus­kannte und sich in den Lan­despra­chen schlecht ver­stän­digen konnte, schien mir ein­fach nicht mehr ver­tretbar. Durch eine Emp­feh­lung wurde ich auf Tanya Hau­ryl­chyk auf­merksam, die auch als Jour­na­listin Erfah­rung hatte. Sie arbei­tete für die unab­hän­gige Zei­tung „Naša Niva“ – die erste bela­rus­si­sche Zei­tung, die heute ein wich­tiges Medium für unab­hän­gige Bericht­erstat­tung ist. Tanya sagte im Juli 2020 bei unserem ersten Tele­fonat sofort zu. Zunächst sollte noch das Stück Dogs of Europe des „Belarus Free Theatre“ gefilmt werden, aber dann ging es gleich auch um die Doku­men­ta­tion der Pro­teste. Dafür mussten wir uns auch um Gas­masken küm­mern. Die Zusam­men­ar­beit mit Tanya lief außer­ge­wöhn­lich gut und so har­mo­nisch, dass manche Dinge gar nicht aus­ge­spro­chen werden mussten. Wir haben bis zum Sep­tember 2020 gefilmt. Dann war es Zeit, sich in Sicher­heit zu bringen.

 

E.H.: Das klingt sehr mutig! 

 

A.P.: Ja, ich bin sehr dankbar dafür, dass Tanya den Mut hatte, diesen Film mit mir zu drehen. Ohne sie wäre Cou­rage nicht ent­standen. Sie ist die ein­zige Person unseres Dreh­teams, die sich heute noch in Belarus befindet. Und zwar aus Über­zeu­gung. Sie hat eine bewusste Ent­schei­dung getroffen und ist sich aller Kon­se­quenzen bewusst. Obwohl wir bereits einen Plan vor­be­reitet hatten, wie sie das Land hätte ver­lassen können, sagte sie: „Wenn alle gehen, wer führt dann die Revo­lu­tion weiter?“ Tanyas Bei­spiel zeigt ein wei­teres Mal, dass die bela­ru­si­sche Revo­lu­tion auch eine Revo­lu­tion der Frauen ist. Ich respek­tiere ihre mutige Ent­schei­dung, aber ich bange um sie.

 

E.H.: „Mut“, das ist das Thema des ganzen Films Cou­rage. Woher kommt dieser unglaub­liche Mut der Bevöl­ke­rung von Belarus, welche der Gefahr von Ver­haf­tung und Poli­zei­ge­walt trotzt?

 

A.P.: Dieser Frage bin ich beim Schnitt des Films nachgegangen. Ich mag das Wort „Cou­rage“ eigent­lich nicht: Es ist durch die Sprache der sozia­lis­ti­schen Ideo­logie vor­be­lastet, von daher pathe­tisch auf­ge­laden und wurde oft zu mani­pu­la­tiven Zwe­cken miss­braucht. Aber als ich im August 2020 in Belarus war, habe ich beob­achtet, wie unglaub­lich stark die Men­schen waren, die sich bewusst ent­schieden, auf die Straße zu gehen, wie sie trotz des Risikos von Ver­haf­tung und Folter eine wun­der­bare und krea­tive Atmo­sphäre schufen. Dann änderte sich die Situa­tion grund­le­gend: Die Men­schen leben seither in Angst und leiden unter stän­digen Repres­sionen, aber sie sind wei­terhin unglaub­lich stark. Durch den Ein­schnitt der Ereig­nisse im letzten Jahr konnte die Gesell­schaft end­lich an Ent­wick­lungen der 1990er Jahre anknüpfen, die viele Jahre durch Lukaschenko gestoppt worden waren, und im Wider­stand gegen das Unrechts­re­gime den Aufbau des Landes vor­an­treiben. Seit einem Jahr ist Belarus ein anderes Land. Erst durch diese Erfah­rung, diese Ein­sicht wäh­rend der Dreh­ar­beiten habe ich meine eigene Defi­ni­tion von Cou­rage gefunden. Seitdem bedeutet das Wort für mich, dass Men­schen auch in aus­weg­losen Situa­tionen, in denen alles ver­loren scheint, den Mut finden, etwas zu ver­än­dern. Aus einer sol­chen aus­weg­losen und daher exis­ten­tiell bedroh­li­chen Situa­tion heraus ent­steht Cou­rage, der Mut zur Ver­tei­di­gung des Äußersten. Die Revo­lu­tion in Belarus war eine Revo­lu­tion der Moral, bei der es nicht mehr um Politik oder um wirt­schaft­liche Inter­essen ging, son­dern um die Men­schen selbst. Wenn Frauen und Männer in Gefäng­nissen ver­ge­wal­tigt werden, dann geht es nur noch um Men­schen­würde und Grund­rechte. In Belarus bedarf es unge­heurer Cou­rage, um für diese Grund­werte mensch­li­cher Exis­tenz auf die Straße zu gehen.

 

E.H.: Für wen hast Du diesen Film gemacht? Wen adres­siert er eigent­lich in erster Linie?

 

A.P.: Ich habe den Film für Belarus und für die Men­schen in Belarus gemacht, aber ich adres­siere ein aus­län­di­sches Publikum. Der Aus­tausch mit meinen Freund_innen in Deutsch­land hilft mir dabei her­aus­zu­finden, wie bestimmte Themen auf die west­eu­ro­päi­sche Gesell­schaft wirken. Das ist unglaub­lich wichtig, denn nur so kann es gelingen, lokale Themen in ihrer glo­balen Rele­vanz zu zeigen. Ich kann daran arbeiten, Men­schen in anderen Län­dern zu berühren – mit den Themen, die die Men­schen in Belarus beschäf­tigen. Und wichtig ist auch, was die Prot­ago­nistin Maryna Yaku­bo­vich am Ende von Cou­rage sagt: Das, was in Belarus pas­siert, ist nicht nur Sache dieses Landes. In Deutsch­land und in anderen euro­päi­schen Staaten sind ja eben­falls auto­ri­täre rechte Ten­denzen auf dem Vor­marsch. Des­halb ist es für alle Men­schen wichtig aufzuwachen.

 

E.H.: Welche Rolle spielen die im Exil lebenden Belaruss_innen für die Freiheitsbewegung?

 

A.P.: Ich denke, sie bilden ein Sprach­rohr. Nicolai Kha­lezin, der Gründer des “Belarus Free Theatre”, der sich in London auf­hält, ist hier ein gutes Bei­spiel: Er enga­giert sich seit Langem in der Politik und setzt sich für die Durch­set­zung von Sank­tionen ein. Ich habe diese Rolle nun auch für mich ent­deckt. Ich bin bereit, Ver­ant­wor­tung zu über­nehmen und die damit ver­bun­dene Gefahr zu akzep­tieren: Da ich bestimmt bereits auf einer Liste stehe, kann ich nun nicht mehr nach Belarus zurück­kehren, um meine Eltern zu besu­chen. Aber die Men­schen im Exil haben ihre Ent­schei­dung bewusst getroffen. Sie leben mit den Kon­se­quenzen und akzep­tieren, dass es kein Zurück gibt. Und sie wissen, dass sie jetzt schreien müssen und nicht ver­stummen dürfen, denn sonst wäre das die beste Vor­aus­set­zung für das Regime, dass diese Men­schen aus dem Land sind.

 

E.H.: Können Men­schen im Aus­land die Bewe­gung und die Aktivist_innen in Belarus auch unter­stützen? Ihr selbst habt auf der Ber­li­nale dazu auf­ge­rufen, Briefe an inhaf­tierte Aktivist_innen zu ver­senden. Ist das ein geeig­neter Weg, sich soli­da­risch zu zeigen?

 

A.P.: Auf jeden Fall! Das ist eine große Hilfe. Viele Inhaf­tierte haben mir erzählt, dass es für sie noch viel wich­tiger ist einen Brief zu erhalten als die klas­si­schen „Über­le­bens­pa­kete“ ihrer Familie. Ein Brief kann unglaub­lich viel neue Energie und fri­schen Wind in den Alltag der Gefan­genen bringen, selbst wenn er ein­fach nur von einer schönen Reise berichtet. Wichtig ist, dass Belarus im Aus­land ein wich­tiges Thema bleibt, dass die Debatte nicht ver­stummt. Das Regime muss spüren, dass man die Zeit nicht mehr zurück­drehen kann, dass die Welt hin­schaut und sieht, was in Belarus pas­siert und dies nicht mehr akzep­tiert. Und das ist eigent­lich die größte Unter­stüt­zung: Den Men­schen zu zeigen, dass sie nicht ver­gessen werden.

 

E.H.: Gibt es aktu­elle Pro­jekte, an denen du arbeitest?

 

A.P.: Aktuell arbeite ich an einem Dreh­buch, das the­ma­tisch an Cou­rage anknüpft. Anhand von Motiven aus meiner Fami­li­en­ge­schichte geht es um die Frage, was Frei­heit ist. Mein Geburts­jahr ist 1989 und ich wäre fast in Bernau bei Berlin geboren worden! Im Sommer 1989 war meine Mutter hoch­schwanger in Berlin, aber um mich zur Welt zu bringen, ist sie nach Belarus zurück­ge­kehrt. Ich wurde am 18. Oktober geboren, zwei Wochen bevor die Ber­liner Mauer fiel. Zwei Jahre später zer­brach die Sowjet­union. Hier und dort kamen die Men­schen in eine Situa­tion, auf die sie nicht vor­be­reitet waren. Sie wussten nicht, was Frei­heit ist, aber mussten ein neues Land auf­bauen. Mit den Fragen und den Pro­blemen, die daraus ent­standen, beschäf­tige ich mich in meinem neuen Dreh­buch. Und ich möchte diese his­to­ri­schen Situa­tionen mit der heu­tigen neuen Rea­lität in Belarus ver­binden. Der Sohn, dessen Geschichte der Film von Geburt an erzählen wird, wird schließ­lich aktiv an der Pro­test­be­we­gung in Belarus teil­nehmen. Es wird ein Spielfilm.

 

E.H.: Vielen Dank für das Interview!

Eva Hof­mann führte das Inter­view im Juni 2021.