Drei philosophische Nüsse für Aschenbrödel. Rezension

Wer die konzeptionellen Differenzen zwischen den postkonzeptualistischen Künstlern Russlands genauer verstehen möchte, für den wird das Buch Tri spora (dt. „Drei Streitgespräche“) von einigem Interesse sein. Es vereinigt im Wesentlichen Briefe der Moskauer Künstler Dmitrij Gutov (geb. 1960) und Anatolij Osmolovskij (geb. 1969) von November 2003 bis März 2004. Nadežda Gutova, die Frau Gutovs, hat sie zusammengestellt und mit einem Anmerkungsapparat versehen. Erschienen ist das Buch in Gutovs Verlag Grundrisse, der sonst vornehmlich die Schriften von Michail Lifšic publiziert.
Bereits seit Mitte der 1990er Jahre widmet sich Dmitirj Gutov mit dem von ihm gegründeten Lifšic-Institut der Propagierung des Werks dieses sowjetischen Philosophen und Kunstwissenschaftlers. Mit gleichgesinnten Künstlern versucht er hier darüber hinaus, Lifšic’ Theorie zum Ausgangspunkt einer neuen realistischen künstlerischen Ausrichtung zu machen. Lifšic (1905-1983) spielte in der sowjetmarxistischen Philosophie eine bedeutende Rolle, insofern er sich um eine Rekonstruktion einer Ästhetik in den Werken von Marx und Engels sowie von Lenin bemühte. Im Deutschen ist vor allem seine Streitschrift „Warum ich kein Modernist bin“ (1966) bekannt. Trotz seiner grundsätzlichen Verankerung im Marxismus muss Lifšic, ähnlich wie der ältere Georg Lukács, mit dem er zeitweilig zusammengearbeitet hat, eher zu den Reformkräften innerhalb des sowjetischen Kulturbetriebs gerechnet werden.
Der philosophischen und ästhetischen Ausrichtung Gutovs entsprechend, geht es im ersten Streitgespräch um den Realismus („O realizme“). Das zweite Thema, „Über die abstrakte Kunst“ („O abstrakcionizme“), betrifft die künstlerische Ausrichtung, die sich im Werk Anatolij Osmolovskij nach seiner Abwendung von der radikalen Performance-Kunst 2002 durchgesetzt hat. Osmolovskij ist bekannt für seine spektakulären Aktionen in den 1990er Jahren. Seine Gruppe ETI (Expropriation des Territoriums der Kunst) legte in der Aktion „ETI-Text“ 1991 mit ihren Körpern ein Fluchwort mit drei Buchstaben auf den Pflastersteinen des Roten Platzes; mit der Regierungsunabhängigen Kontrollkommission veranstaltete Osmolovskij 1998 anlässlich des dreißigjährigen Jubiläums der Pariser Mai-Ausschreitungen eine künstlerische ‚Barrikade’ auf der Bol’šaja-Nikitskaja-Straße unweit des Kremls. Fast noch wichtiger dürfte jedoch Osmolovsijs Rolle als Ideologe des Moskauer Aktionismus gewesen sein. Der internationale Erfolg anderer Moskauer Aktionisten – Aleksandr Breners, insbesondere aber des ‚Hundemanns’ Oleg Kuliks – war durchschlagender. Der letzte Block von Briefen „Über die Religion und den linken Aktivismus“ („O religii i levom aktivizme“) setzt sich anlässlich des damals beginnenden Prozesses gegen die Organisatoren der Ausstellung Achtung, Religion! mit den – auch in der aktuellen künstlerischen Diskussion nach wie vor unausweichlichen – Themen des Konflikts der zeitgenössischen Kunst mit der Russischen Orthodoxen Kirche sowie des ‚linken Aktivismus’ in der Kunst auseinander.
Osmolovskij kritisiert Gutovs Bemühungen, Lifšic zum Zentrum einer zeitgenössischen ästhetischen Theorie und zum Ausgangspunkt einer ästhetischen Praxis machen zu wollen, schonungslos. Nicht nur die Zweitrangigkeit des Denken Lifšic’ würde dies nicht erlauben, auch würde es Gutov nicht gelingen, den Eindruck zu zerstreuen, es handle sich bei seinem Unterfangen lediglich um ein postmodernes Projekt, das nicht weniger ironisch oder simulakrenhaft sei als etwa der Schönheitskult der Neuen Akademie Timur Novikovs im Petersburg der 1990er Jahre. An dieser Kritik Osmolovskijs ist viel dran. Gutovs Retourkutsche, bei Osmolovskijs plötzlicher Begeisterung für die abstrakte Kunst würde es sich nur um einen erneuten und vermutlich sehr kurzlebigen Schachzug eines Meisters der sozialen Provokation handeln, ist gleichfalls interessant, weist Gutov damit doch auf die eminente Wichtigkeit der eigenen demonstrativen Positionierung des Künstlers im russischen Kunstbetrieb hin. Von heute aus gesehen kann man indes feststellen, dass Osmolovskij sich in seinen individuellen Arbeiten seit 2002 treu geblieben ist – sein Markenzeichen ist nunmehr eine konzeptuelle, auf Objekte und „visuell überzeugende Statements“ orientierte Kunst. Treffender erscheint da die 2008 im Chudožestvennyj žurnal geäußerte Kritik des Philosophen Igor’ Čubarov, Osmolovskij verhalte sich wie ein Kleinkapitalist, der mangels handwerklicher Fertigkeiten Objekte fertigen lässt und sie mit seinem, in  den wilden Zeiten der ursprünglichen Akkumulation, also den 1990er, Jahren erworbenen Marken-Namen versieht. In der Tat wirkt Osmolovskij Propagierung eines ‚Abstraktionismus’ mit Verweis auf die großen amerikanischen Nachkriegsvertreter etwas aufgesetzt. Für die Entwicklung einer eigenen Handschrift, wie jene sie hatten, bedurfte es einer Geschichte, die eine ganz andere ist als die Osmolovskijs.
Es sind nun aber die Fronten zwischen den künstlerischen Positionen in Russland besonders verhärtet, und man wird als Außenstehender Osmolovskij gerne zugestehen wollen, ein reifer, interessanter Künstler zu sein. Dass ihm das in Russland so viele absprechen, liegt indes an einer bestimmten Radikalität des russischen Kunst-Diskurses, die Osmolovskij selbst in Vollendung vorführt. Seine eigene Sturm-und-Drang-Zeit im Aktionismus der 1990er Jahre sieht Osmolovskij als Teil jener Geschichte, die ihn nunmehr determiniert, die Position einer ‚reinen Kunst’ einzunehmen, welche der Kulturindustrie des siegreichen Kapitalismus entgegentritt. Es sind somit vielleicht weniger seine glänzenden Objekte, die Osmolovskij zu einem roten Tuch unter den linken Künstlern machen, als vielmehr seine Strategie der Immunisierung seiner Person gegen Kritik: Osmolovskij reklamiert für sich gerade deswegen ‚marxistisch’ zu sein, weil er die Kinderkrankheit des politischen Radikalismus hinter sich gelassen habe, um nunmehr wiederum den Anforderungen der Zeit gemäß, die hohe Kultur zu verteidigen, die als solche eine Beleidigung für den Kapitalismus darstelle. Es ist dies übrigens eine Position, die Osmolovskij angesichts des Gerichtsprozesses gegen die radikale Aktionskunstgruppe Pussy Riot, mit der sich Osmolovskij solidarisch zeigt, in letzter Zeit etwas relativiert hat. Jedenfalls rettet Osmolovskij für sich den Titel des ‚Marxisten’, indem nun das ‚Zeitgemäße’, ‚Zeitgenössische’ zum Kennzeichen des Marxisten erklärt wird. Es stellt sich indes schon die Frage, ob denn nun unbedingt das Fragwürdigste an Osmolovskijs Gewährmann Theodor W. Adorno – sein Elitismus – das Zeitgemäße ist. Und skeptisch stimmt zudem die Abstraktheit der Diskussion. Obwohl Osmolovskij wiederholt kritisiert, dass sich die Diskutanten zu sehr wie Philosophen und Soziologen gebärden, während er sich lediglich künstlerische Aufgaben stellen wolle, bleiben seine Behauptungen, die Geschichte auf seiner Seite zu haben, rein abstrakt. Auf diese Weise ermöglicht eben die nicht-diskursive Kunst – „Kunst ohne Rechtfertigung“ („iskusstvo bez opravdanija“), die Osmolovskij vertreten will, die rückhaltlose Selbstbeweihräucherung.
Damit ist ein Stichwort gefallen, das einen Aspekt des Buchprojekts bezeichnet, welcher in der Besprechung des Buches leider nicht ausgelassen werden kann. Ärgerlich stimmt bei der Lektüre von vornherein die Form des Buchs. Offensichtlich stammt der Text aus der E-Mail-Korrespondenz der mittlerweile etwas eingeschlafenen Diskussionsrunde Grundrisse, die Dmitrij Gutov leitet. Die Entscheidung für einen Briefwechsel zwischen Gutov und Osmolovskij muss als Selbststilisierung erscheinen. Wer will schließlich schon das undisziplinierte und zerfasernde Gebrabbel eines E-Mail-Verteilers gedruckt sehen? Wenn man jedoch alle Beteiligten bis auf zwei aus dem Haupttext tilgt, hat man ein würdiges Zwiegespräch zwischen zwei Philosophen vor sich – so wohl das editorische Kalkül. Schade nur, dass das so einfach nicht geht, und der Leser doch neugierig ist, was denn wohl der gerne provozierende Künstler und Kunstkritiker Vladimir Sal’nikov denn wirklich geschrieben hat, dass Gutov und Osmolovskij ihn so regelmäßig und einträchtig für komplett doof erklären. Briefe der Philosophin, Dichterin und Musikerin Keti Čuchrov, von Bogdan Mamonov (Gruppe Escape) und Dmitrij Vilenskij (Gruppe Čto delat’), nicht aber vom Philosophen Igor’ Čubarov, werden wenigstens im Anmerkungsapparat abgedruckt. Ihre Beiträge, zu denen sie eingeladen wurden, sind zum Teil berechtigterweise irritiert von der prätentiösen, esoterischen Diskussion. Ihre Kritik dient Gutov und Osmolovskij jedoch leider meist nur zur polemischen Abgrenzung. Osmolovskijs sich an Vilenskij richtende und hier zum wiederholten Male geäußerte Kritik, dass Politik lediglich das Kriterium der Wirksamkeit kenne und von daher Kunst und Politik verschiedene Regeln hätten, ist bedenkenswert. Nun gut, aber selbst wenn wir den Video-Arbeiten bzw. multimedialen Installationen von Čto delat’ jegliche politische Wirksamkeit absprechen wollten, wären sie ästhetisch wirklich weniger interessant als die Kunstwerke Osmolovskijs? Solche konkreten Fragen werden von allen Beteiligten tunlichst vermieden, mit Ausnahme von Keti Čuchrov. Ihr Einwand, dass es anachronistisch sei, ein bestimmtes philosophisches System zum Ausgangspunkt der Bestimmung zu machen, was Kunst sein solle, bringt ihr prompt den Vorwurf des ‚Postmodernismus’ von Seiten Osmolovskij ein. Dieser stimmt mit Čuchrov überein, dass es keine Entscheidung zwischen ‚Realismus’ und ‚Abstraktionismus’ geben könne – aber warum besteht er dann auf einer Entscheidung zwischen ‚autonomer Kunst’ und ‚politischer Kunst’? Die Kritik aus dem leider nicht abgedruckten Brief Igor Čubarovs, der den Streit zwischen ‚Realismus’ und ‚Abstraktionismus’ für falsch erklärt, weil dabei für das Kunstwerk von einer irgendwie vorgegebenen, widerzuspiegelnden Wirklichkeit ausgegangen würde, trifft den Kern des Problems. Es geht im Prinzip um grundlegende Fragen der künstlerischen Mimesis, die man – Osmolovskijs Kritik ist hier berechtigt – nicht mit dem Begriff des ‚Realismus’ adressieren kann, ohne dass aus diesem ein schwammiger Wertbegriff mit dem schlechten Nachgeschmack vergangener Tage wird. Es geht um ein Problem, das Čuchrov in ihrem Brief anspricht: um das Einbrechen eines ‚Realen’ ins Kunstwerk – ein Gelingen, dass durch die konzeptuelle Arbeit eines Künstlers letztlich nicht gewährleistet werden kann. In diesem Sinne ist Kunst zeitliches Geschehen – ‚zeitgenössisch’. Dabei eine feste Unterscheidung von ästhetischen und ‚kunstfremden’ Wirkungsintentionen voraussetzen zu wollen, muss als illusionär erscheinen.
Fazit: Wen die Debatten der zeitgenössischen Künstler in Moskau und Petersburg interessieren, der wird gerne zu diesem Buch greifen. Wer sich für diese bisher nicht interessiert hat, den wird auch dieses Buch nicht für sie begeistern können.

 

Dmitrij Gutov, Anatolij Osmolovskij: Tri spora. Verlag „Grundrisse“, Moskau 2012.

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