Henryk Grynbergs Prosaband „Flüchtlinge“ (Uchodźcy, 2004) erzählt die Geschichte seiner Generation: Es ist die Geschichte von ’Schiffbrüchigen‘, der polnischen und polnisch-jüdischen Migrant_innen der 1950er und 1960er Jahre, die im Exil nach einem Zufluchtsort suchen, stets begleitet von dem Gefühl, fremd zu sein.
Was weiß man hierzulande schon über das polnische Exil, insbesondere jenes Exil des Ausnahmejahrs 1968? Während in Westdeutschland die Proteste der Studentenbewegung im Jahr 1968 im Mittelpunkt politischer Ereignisse standen, erreichte in der Volksrepublik Polen die Hetze der kommunistischen Partei sowohl gegen jüdische Polen als auch nicht-jüdische freidenkende Intellektuelle ihren Kulminationspunkt. Nach der Absetzung der Aufführung von Totenfeier, eines romantischen Dramas des polnischen Nationaldichters Adam Mickiewicz, kam es im März 1968 zu Massenprotesten der Warschauer Studierenden und Intellektuellen. Die polnischen Jüdinnen und Juden wurden der Anstiftung zu diesen Protesten beschuldigt. Unter dem Deckmantel des nach dem Sechstagekrieg im gesamten Ostblock betriebenen ‚Antizionismus‘ begann die Säuberung der Staatsverwaltung, der Wissenschaft und des kulturellen Lebens von ‚zionistischen Elementen‘. Diese Ereignisse führten zu einer durch Schikanen erzwungenen Massenmigration. Obwohl Henryk Grynberg die Volksrepublik Polen bereits im Oktober 1967 verließ, fühlt er sich doch als Sprecher der ‚Märzflüchtlinge‘ von 1968. Sein autobiographischer Erzählband Flüchtlinge aus dem Jahr 2004 erschien 2018 in der deutschen Übersetzung von Lothar Quinkenstein.
Die Unsichtbarkeit der Jüdinnen und Juden
Das zentrale Thema der Prosa von Henryk Grynberg ist das spannungsvolle polnisch-jüdische Verhältnis. In seinen frühen Erzählungen Der jüdische Krieg (1965) und Sieg (1969) setzt er sich mit dem tragischen Schicksal seiner Familie auseinander. Grynberg beschränkt sich nicht nur auf den Zeitraum des Holocausts, sondern geht über den Zweiten Weltkrieg hinaus in die Nachkriegszeit. Die Erzählung Sieg, die von der Zeit des Wiederaufbaus des Landes als Volksrepublik in den 1950er Jahren handelt, beendet Grynberg mit dem Gedanken, dass der Unterschied zwischen Krieg und Frieden für Jüdinnen und Juden klein sei. Während das Land den Sieg feierte, verspürten sie auch nach der Befreiung durch die Sowjetarmee und in der späteren Nachkriegszeit eine schwer definierbare Angst, als wäre der Krieg immer noch da, verborgen unter der Oberfläche des Lebens. Man kann dem Eindruck kaum widerstehen, dass Grynberg diesen Gedanken in seinem Buch Flüchtlinge weiterverfolgt. Mit zynischer Bitterkeit beschreibt er die Unsichtbarkeit des Jüdischen im polnischen öffentlichen Diskurs, im Kulturbetrieb, in der Künstler_innenszene und sogar in der Filmindustrie. Dabei wurden Kinos im Nachkriegspolen überwiegend von Jüdinnen und Juden gegründet und betrieben. In der berühmten Filmhochschule in Łódź haben überwiegend Jüdinnen und Juden gelehrt. Über das Jüdische sprach man aber nicht; so studierte man auch die Werke von Franz Kafka oder Bruno Schulz ohne zu wissen, dass sie jüdisch waren.
Die Unsichtbarkeit des Jüdischen in den ersten Nachkriegsjahrzehnten begegnet Grynberg auch während seiner Aufenthalte in Italien, Argentinien und noch später im Exil in den USA. Die eigene jüdische Herkunft wird von seinen Zeitgenossen nicht selten verdrängt, verschwiegen oder sogar durch Vortäuschung einer antisemitischen Haltung überspielt. Doch offenbart sie sich in ungewollten Gesten, im flüchtigen Gespräch oder durch die zufällig entdeckte Tätowierung auf dem Arm. Grynberg schont die Zeitgenoss_innen nicht: Die Pflaster auf den Nasen auffällig vieler Frauen in Argentinien seien weder die Folge einer Gewalttat noch eines Unfalls. Es sind Jüdinnen, die ihre „jüdischen Nasen loswerden möchten“. Keiner traute sich, Jude zu sein. Selbst in Israel, im Zufluchtsort für Verfolgte, schämte man sich, Jiddisch zu sprechen, denn „Israel schämte sich für diejenigen, die sich ermorden ließen“. In der Geschichte der europäischen Städte, die Grynberg auf seinen Reisen besucht, verbirgt sich oft eine lange Geschichte der Flucht bzw. Vertreibung der Jüdinnen und Juden. Die eigene jüdische Herkunft wird von seinen Zeitgenossen nicht selten verdrängt, verschwiegen oder sogar durch Vortäuschung einer antisemitischen Haltung überspielt. Doch offenbart sie sich in ungewollten Gesten, im flüchtigen Gespräch oder durch die zufällig entdeckte Tätowierung auf dem Arm. Grynberg schont die Zeitgenoss_innen nicht: Die Pflaster auf den Nasen auffällig vieler Frauen in Argentinien seien weder die Folge einer Gewalttat noch eines Unfalls. Es sind Jüdinnen, die ihre „jüdischen Nasen loswerden möchten“. Keiner traute sich, Jude zu sein. Selbst in Israel, im Zufluchtsort für Verfolgte, schämte man sich, Jiddisch zu sprechen, denn „Israel schämte sich für diejenigen, die sich ermorden ließen“. In der Geschichte der europäischen Städte, die Grynberg auf seinen Reisen besucht, verbirgt sich oft eine lange Geschichte der Flucht bzw. Vertreibung der Jüdinnen und Juden.
Grynberg hat sich nicht zuletzt aus Protest gegen die Eingriffe der Zensur in seine ersten Erzählungen, die Anfang der 1960er Jahre in der Volksrepublik Polen erschienen sind, für ein Leben im Exil entschieden. Seine Suche nach einem Zufluchtsort war zugleich eine Suche nach schriftstellerischer Freiheit. Wenn Freiheit für Jüdinnen und Juden der alten Zeit bedeutete, wie Grynberg in Flüchtlinge schreibt, unter dem Feigenbäumchen zu sitzen und sich vor nichts fürchten zu müssen – und ohne Angst schreiben zu können, wie der Jude der neuen Zeit hinzufügen würde –, so stellt sich für den Autor die Frage, wo man dieses Feigenbäumchen hernehme.
Grynberg als Chronist
In Flüchtlinge erzählt Grynberg nicht nur von seinem Leben, sondern schreibt die Geschichte der künstlerischen Bohème Polens der 1950er und 1960er Jahre. Zunächst ist es die Bohème, die sich um das Jüdische Theater in Łódź formierte und in der er nach einem kulturellen Asyl suchte. Später bleibt für Grynberg, der 1967 von einer Gasttournee mit dem Jüdischen Theater in New York nicht mehr in seine Heimat zurückkehrt, und andere polnische und polnisch-jüdische Künstler_innen nur noch das Exil. In seiner Chronik tauchen Namen wie Roman Polański, Sławomir Mrożek und Czesław Miłosz auf, aber auch Krzysztof Komeda, ein Jazzpianist, der unter anderem die Filmmusik für Polański komponierte, oder Marek Hłasko, ein Schriftsteller, der einen Kultstatus genoss und als polnischer James Dean bezeichnet wurde. Grynbergs Erzählung lässt uns am Menschlichen hinter den großen Namen teilhaben und an den vergeblichen Bemühungen jener Kunstschaffender, unter den staatssozialistischen Bedingungen weiterhin Künstler zu bleiben. Er nannte sie „die Generation der Heruntergekommenen“.
Flüchtlinge lässt sich nicht klar einer literarischen Gattung zuordnen. Grynbergs Erzählform verbindet die Merkmale von Autobiographie, Reportage und Essay. Obwohl es an manchen Stellen, insbesondere dort, wo Grynberg Aktivitäten der polnischen Regierung gegen Jüdinnen und Juden schildert, nicht an einer emotionalen Dramaturgie fehlt, überwiegt in seinem Buch eine anekdotische Erzählweise. Grynberg verfasst seine Chronik einerseits mit einem nüchternen Blick, andererseits mit Witz und Ironie. Auch wenn eine tiefgehende Analyse einzelner Schicksale fehlt, verbirgt sich oft zwischen den Zeilen der anekdotenhaft und leicht erzählten Geschichten der Protagonisten ein tragisches Schicksal – wie in der Geschichte des geheimnisvollen Marek W., eines Schulfreunds von Grynberg aus der Oberschule in Łódź. Ein Jahr vor dem Abitur wurde er von der Schule entlassen, da er als ‚zersetzendes Element‘ eingestuft wurde. Er wollte Journalismus studieren, um ins Ausland fahren zu können. Später erfährt Grynberg, dass Marek W. in Wirklichkeit David Kleinmann heißt und im Zweiten Weltkrieg von einer polnischen Familie gerettet wurde. Zuerst wanderte er nach Wien aus und heiratete die Tochter eines argentinischen Großgrundbesitzers. In den Briefen an seine Mutter schrieb er, dass es ihm gut ginge und er durch Pampalandschaften ritte. Zu einem späteren Zeitpunkt trifft ihn Grynberg in einem Café in Argentinien. Marek W. hatte einen zu großen Anzug an und trug bei sich einen versteckten Revolver, vorne fehlten ihm die Zähne. Auf die Frage hin, was für Nachrichten Grynberg seiner Mutter übermitteln solle, wurde sein Blick traurig. In einer solchen Weise erzählt Grynberg seine Geschichten: Vieles wird angedeutet bzw. nebenbei erwähnt.
Die deutschsprachige Ausgabe wurde vom Arco Verlag in Zusammenarbeit mit Henryk Grynberg vorbereitet und für die deutschen Leser_innen mit zusätzlichem Material versehen. Anders als die polnische Originalausgabe wurde sie mit zahlreichen Fotos ausgestattet. Das betont nicht nur den dokumentarischen Charakter, sondern verleiht auch den Protagonisten, deren Geschichten erzählt werden, ein Gesicht. Ein hinzugefügtes Interview mit dem Autor aus dem Jahr 2017 spannt den Bogen bis in die Gegenwart. Auf den Innenseiten des Buchumschlages wurde Grynbergs Gedicht Unser Pazifik aus dem Band Antynostalgia (1971) platziert, das die schmerzhafte Erfahrung des Exils – das Gefühl, nirgendwo mehr zu Hause zu sein – verarbeitet und den polnischen Exilant_innen in San Francisco gewidmet ist. Lothar Quinkenstein unterstützt zudem die deutschsprachigen Leser_innen durch die Bereitstellung eines Glossars. Die deutsche Ausgabe von Flüchtlinge soll, so der Übersetzer, einen Beitrag zur Erinnerung gegen die Unwissenheit über das polnische und polnisch-jüdische Exil um das Jahr 1968 leisten.
Literatur
Grynberg, Henryk: Uchodźcy. Warszawa 2004 (neue Ausgabe: Wołowiec 2018).
Grynberg, Henryk: Flüchtlinge. Aus dem Polnischen von Lothar Quinkenstein. Wuppertal 2018.
Grynberg, Henryk: Der Sieg. Drei Erzählungen. Aus dem Polnischen von Vera Cerny und Lothar Quinkenstein. Berlin 2016.
Weiterführende Links
Interview mit Henryk Grynberg zum Buch Flüchtlinge in polnischer Sprache.