„Es ist das Gift des Krieges, das die Kampfzone immer weiter ausdehnt und die Anerkennung der Verbundenheit mit dem Gegenüber und damit die Kommunikation zwischen Menschen verunmöglicht.“ In Form eines persönlichen Zeugnisses reflektiert Susanne Frank darüber, was dieser Jahrestag bedeutet.Um 4 Uhr früh bin ich aufgewacht, als mir der Gedanke durch den Kopf schoss, dass Jahrestage mir noch nie etwas bedeutet haben… Aber jetzt? Auf einmal wird eine Bedeutung von „Jahrestag“ offensichtlich, die mir bisher komischerweise nie in den Sinn gekommen ist. Jahrestage begeht man, um sich daran zu erinnern, dass sich an diesen Tagen etwas ereignet hat, was die Welt grundlegend verändert hat: die Geburt eines Menschen, eine Staatsgründung, ein Überfall, ein Friedensschluss. Natürlich! Heute ist das nicht nur wichtig, sondern unumgänglich … Jetzt, am Jahrestag, werden die schon früh aufgrund der Evidenz des Geschehens ausgesprochenen Worte wie „Zeitenwende“ in ihrer ganzen Dimensionalität reflektiert.
Der 24. Februar 2023 begann am Vorabend mit der Finissage der Fototagebuch-Ausstellung von Yevgenia Belorusets „Nebenan / Поруч. Das Kiewer Kriegstagebuch, eine Installation“ im Bundestag. Ich erinnerte mich, dass ich genau vor einem Jahr, am Abend des 22.2.2022 mit Yevgenia, die damals in Kyiv war, zoomte und sie fragte, ob sie die Prognosen der Medien in Deutschland bestätigen könne, dass ein russischer Angriff auf die Ukraine unmittelbar bevorstünde. Yevgenia war äußerst beunruhigt, aber sie meinte, dass die soeben von Putin verkündete Annexion der sog. DNR und die Eingliederung der Donezker Oblast‘ in die Russische Föderation wohl das alleinige Ziel der militärischen Umzingelung der Ukraine sei. Sie hielt einen Angriff auf Kyiv für ausgeschlossen. Drei Tage später rollten die russischen Panzer auf Kyiv zu und Yevgenia begann, ihr „Tagebuch des Krieges“ für den Spiegel und den RBB zu führen… und in Berlin versammelte sich die größte Demonstration seit Jahrzehnten zum Protest gegen den russischen Angriff.
Ein Jahr später erzählt Yevgenia im Podiumsgespräch mit Katja Petrovskaja, dessen emotionale Dichte und Chaotik auch als ein Symptom der anhaltenden Überwältigung durch den schrecklichen Angriffskrieg erscheinen, u.a. von einer interessanten Beobachtung: Als künstlerische Fotografin hätte sie eine Dimension der Theorie der Fotografie noch nie so konkret nachvollziehen können wie im Kontext des Krieges, den sie in den ersten Monaten in Kiew dokumentierte: den an die Spezifik des Mediums, das Spuren von Licht und Schatten erzeugt, gebundenen Wunsch, das Jetzt – das, was jetzt noch da ist, aber morgen vielleicht schon nicht mehr – zu bewahren und festzuhalten… Also gerade nicht die im Anschluss an Roland Barthes auch immer wieder diskutierte Dimension des durch die Fotografie repräsentierten „immer schon gewesenen“ also vergangenen Augenblicks, die die Fotografie mit dem Tod verbindet, sondern umgekehrt den Versuch, mithilfe der Fotografie das Leben zu bewahren, das im nächsten Moment weg oder in Tod verwandelt sein kann.
Nicht nur in Hinblick auf altbekannte Theorien, sondern in jeder Hinsicht hat dieser vollumfängliche Angriff Russlands und die damit verbundene globale Ausweitung (der Bedeutung) des Krieges sowohl kolossale Verunsicherungen bisheriger Gewissheiten und ein dementsprechendes Ringen um eine adäquate Sprache bewirkt als auch immer wieder den Eindruck hervorgerufen, dass nun die bislang nicht (vollständig) erkannte Wahrheit zutage träte.
Obwohl ich mir ganz sicher bin zu wissen, was „Faschismus“ bedeutet und zahlreiche Korrespondenzen erkenne zwischen der politischen Strategie Hitlers bzw. des Dritten Reiches und derjenigen Putins – rassistischer bzw. an Rassismus grenzender Nationalismus, Propaganda mit extremer Zuspitzung des Feindbilds und Hatespeech, populistischer Führerkult, genozidaler Vernichtungskrieg, national-imperiale Mythopoetik –, können wir täglich erleben, dass „Faschist“ und „Nazi“ auf beiden Seiten der Kriegsfront gleichermaßen als Feindbezeichnung verwendet werden. Natürlich identifizieren wir den Diskurs der einen – russischen – Seite als Propaganda und den anderen als gerechtfertigte Diagnose, aber wir erleben, dass gebildete Menschen auf beiden Seiten die Situation spiegelbildlich im selben Vokabular beschreiben, sich als Opfer und die anderen als Täter wahrnehmen. Timothy Snyder hat in seinem Essay „We Should Say It. Russia Is Fascist“ von letztem Mai (NYT 19.5.2022) die Praxis, andere als Faschisten zu bezeichnen und dabei selbst wie Faschisten zu handeln, als “the essential Putinist practice” oder “schizofashism” bezeichnet und auf Stalin zurückgeführt, unter dem „Faschist“/“Faschismus“ als Sammelbezeichnung für jede Art von Gegner/Widerständigem genutzt wurde, ohne Rücksichtnahme auf seine politische Position.
Zwei Umstände aber machen das Problem noch viel komplizierter: Erstens, dass anscheinend viele der putinistischen Propaganda aufsitzen und sie selbst einsetzen, einfach weil sie daran glauben und ihre eigenen Erfahrungen durch diese Brille interpretieren, und zweitens die Tatsache, dass einfach aufgrund der Situation des Krieges Zugehörigkeiten und Zuschreibungen zu einem der Lager rigoros als unhintergehbar aufgefasst werden und im Einklang damit Urteile gefällt werden, die jede Art von Grenze unüberschreitbar, jede Art von reflektierender Verhandlung und jeden Versuch der Verständigung fast unmöglich machen.
Meine Erfahrung des letzten Jahres hat mir immer wieder gezeigt, dass sich die Grenzen gerade in der nicht unmittelbar – aber doch mittelbar sehr stark – in den Krieg einbezogenen Zone auf erschreckende Art und Weise multiplizieren und nicht mehr nur zwischen feindlichen Kollektiven, sondern zwischen Einzelindividuen verlaufen und dass jede einzelne Grenze anscheinend unüberwindbar oder sogar zur Front wird. Nichts war so schwierig im letzten Jahr wie die Kommunikation unter Menschen, die einander ‚im Allgemeinen‘ wohlgesonnen waren und politisch jedenfalls auf derselben Seite standen. Gerade da glitt das Gespräch immer wieder unversehens ab in Anschuldigung und Verurteilung, dies gesagt oder jenes unterlassen zu haben… Dabei versuchte jede/r einzelne ständig auf die einzige ihm/ihr mögliche Weise auf das Grauen zu reagieren und etwas dagegen zu setzen.
Ähnliches schreibt Yevgenia Belorusets über die Entwicklungen in der Ukraine.
„In den Netzen der verzweifelten und radikalen Beschuldigungen werden fast nur die gefangen, die bereits eine Schuld empfinden, die vielleicht schon lange mit dieser Schuld lebten und selbst vergeblich gegen das gleiche Verbrechen gekämpft haben“, schrieb sie im Herbst in ihrem Vortrag „Wer darf sprechen?“, der in höchst subtiler Weise die durch den Krieg noch komplizierter und erbitterter gewordene Auseinandersetzung um die Legitimität des Russischen als eine der Sprachen der Ukraine diskutierte.
Yevgenia zeigt darin auf, wie – als Folge und Kompensation einer an die Grundfesten der kulturellen Existenz rührenden Erschütterung – mit krampfhafter und oft gewaltsamer Vehemenz Anzeichen ausfindig gemacht werden, die eine eindeutige Zuordnung und damit Verurteilung der ‚anderen‘ und damit die Vergewisserung des eigenen Standpunkts ermöglichen: Tatoos oder die Sprache, die Staatsangehörigkeit oder die literarische Tradition dienen der Verurteilung als eindeutige Indizien. Nicht nur in der Ukraine selbst, sondern auch unter den aus Russland nach Deutschland Gekommenen ist die Strategie der Verurteilung, die dem Gegenüber jede Chance einer Erwiderung nimmt, besonders virulent.
Ein Beispiel dafür ist die vernichtend-kritische Erwiderung des seit Jahrzehnten in Berlin lebenden und auf Deutsch schreibenden Schriftstellers Boris Schumatzky auf einen Essay der Dichterin Maria Stepanova. Stepanova lebt derzeit in Berlin, wo sie im August 2022 ein zuvor lang geplantes, aber aufgrund der aktuellen Situation, in der sie – wegen ihrer expliziten Positionierung gegen den Krieg und der angeordneten Schließung ihres online-Portals colta.ru – in Russland gefährdet ist, verlängertes Fellowship am Wissenschaftskolleg Berlin angetreten hat. In dem zuerst im September 2022 auf einem Workshop in Berlin („Friedhof der Projekte“, organisiert von Yevgenia Belorusets im Kontext des Internationalen Literaturfestivals) vorgetragenen und dann am 23. Januar 2023 in der FAZ publizierten Essay diskutiert Maria Stepanova unter dem bitter ironischen Titel „Identitätsstiftung durch Kriegsschuld“ das Phänomen eines „neuen Wir“, welches durch Putins Krieg entstanden ist und von ihr im Bekenntnis einer kollektiven Schuld als unhintergehbar akzeptiert wird. Stepanova beschreibt eine Erfahrung des „freien Falls“, des Verlusts jeglichen Gewichts der eigenen Stimme, des totalen Sinnverlusts von Leben und Schreiben als Effekte einer bizarren Umkehrung der Bedeutung des „wir“, auf dem sich zuvor die kollektive Identität des Russischseins begründet hätte. Gemeint ist die zentrale identitätsstiftende Bedeutung, die in der sowjetischen Gedächtnispolitik seit Brezhnev dem Sieg der Sowjets über die deutsche Wehrmacht zugeschrieben wurde. Stepanova bekennt sich zu dieser von der offiziellen Politik geschmiedeten kollektiven Identität, zu der das Bewusstsein eines unter größtmöglichen Opfern erbrachten Sieges sowie die Überzeugung gehörte, niemals einen weiteren Krieg zuzulassen. Putins Krieg hat daraus eine Gemeinschaft der Schuld gemacht, der niemand entkommen kann.
Boris Schumatzky nimmt das in seiner in der NZZ (18.2.) publizierten Antwort zum Anlass, sich von Maria Stepanova zu distanzieren, mit der er eine Kindheit in der späten Sowjetunion und den frühen 1990er Jahren in Russland teilt, aber nicht die von Stepanova postulierte Identitätserfahrung. Obwohl Stepanova in Bezug auf die sowjetische Situation – den Stalinismus – vor dem Zweiten Weltkrieg auch von „Tätern“ spricht, obwohl sie den russischen Angriffskrieg als direkte Verkehrung der Rollen von Täter und Opfer und als zutiefst schmerzlichen Bruch darstellt und den einstweiligen Verlust einer adäquaten Beschreibungssprache beklagt, wirft ihr Schumatzky vor, das sowjetische „Siegesnarrativ“ in die Gegenwart zu verlängern und weder mit der Vergangenheit selbst noch mit deren Sprache brechen zu können. Offensichtlich wäre für Schumatzky, der Moskau in jungen Jahren verlassen hat, die einzig zulässige Reaktion eine fundamentale Distanzierung von allem Russischen. Dass Stepanova ‚nur‘ vom „Stigma“ einer „schmerzenden“ „kollektiven Mittäterschaft“ spricht, ist ihm zu wenig, dass sie überlegt, wie Russland nach diesem Krieg „wieder bewohnbar“ gemacht werden könnte, findet er unangemessen, dass sie postuliert, dass eine Lösung „nur von innen“ gefunden werden könnte, deutet er als Identifikation mit dem „großen russischen Wir“, das für immer kolonisatorisch und schuldbeladen bleiben muss.
Aber wie fatal ist doch diese Gleichsetzung der nur oberflächlich ähnlichen Zeichen! Nur wer vom Kontext und von den so wichtigen kleinen semiotischen Details abstrahiert, könnte, wie Boris Schumatzky es leider tut, ein Gleichheitszeichen setzen zwischen Maria Stepanovas verzweifelt bekennendem Statement „Ich bin eine russische Schriftstellerin“ und der trotzig-stolzen putinistischen Deklaration „Ich schäme mich nicht“ auf dem T-Shirt der aus dem Donbas vor den ukrainischen „Nazis“ nach Russland geflüchteten Dichterin Anna Dolgareva, auf dem anstelle der ergänzenden Worte „… Russin zu sein“ vielsagend die russische Flagge abgebildet ist. Warum kann Boris Schumatzky weder die Diskrepanz in den Nuancen erkennen noch die Fatalität des geteilten Schicksals und Stepanovas Reflexion darüber? Wieso kann er nicht anerkennen, dass Maria Stepanova sich klar in die Tradition Natalia Gorbanevskajas einreiht, die geschrieben hat „Ich habe Warschau nicht gerettet und dann auch nicht Prag, das bin ich, das bin ich, und für meine Schuld gibt es keine Sühne “ (1973). Es wäre so wichtig zu berücksichtigen und anzuerkennen, dass Maria Stepanovas Tätigkeit als Redakteurin der seit einem Jahr verbotenen Kulturplattform Colta.ru ein ebensolcher Versuch war, „von innen“ einen Weg vom „blinden Wir“ zu einer Gemeinschaft von „sehenden Ichs“ zu finden. Stattdessen manifestiert sich hier genau der von Yevgenia Belorusets aufgezeigte Verurteilungszwang, dieses Gift, das die Kampfzone immer weiter ausdehnt und die Anerkennung der Verbundenheit mit dem Gegenüber und damit ein Gespräch unter Menschen verunmöglicht.
Am 24. Februar 2023 nahm ich Marianna Kiyanovska aus der dritten Etappe des Isolationsgefängnisses, in das ihr Körper sie seit Herbst gezwungen hatte, in der wiedergewonnenen Freiheit in Empfang. Marianna, die als ukrainische Dichterin aus L’viv gerade im letzten Jahr durch die polnische, englische und russische Übersetzung ihres Gedichtzyklus „Babyn Jar. Stimmen“ internationale Anerkennung gefunden hat, war schon im Sommer durch ihr Bestehen auf der Fortführung der Übersetzung russischsprachiger ukrainischer Lyrik (insbesondere von Boris Chersonskij) unter ihren ukrainischen Kolleg:innen in die Kritik geraten, die sich verstärkte, als sie im Juli im Literarischen Colloquium Berlin den Band gemeinsam mit ihren Übersetzern ins Englische und Russische, Polina Barskova und Ostap Kin, vorstellte.
Ein Fellowship am Wissenschaftskolleg Berlin bot ihr die Möglichkeit eines vor den Beschüssen L’vivs sicheren Aufenthaltsorts, sondern auch eine gewisse Distanz zum Alltag dieser Anfeindungen zu gewinnen. Dafür bezahlte sie mit ihrem Körper, der ganz offensichtlich einen nicht gänzlich rationalisierbaren, hochemotionalen inneren Konflikt austrug, einen hohen Preis. Plötzlich auftretende unerträgliche Schmerzen und dadurch bedingt größte Einschränkungen in der Bewegung, zwei komplizierte Operationen an der Wirbelsäule, Schmerzen ohne Ende, Gefühllosigkeit in den Beinen, mühsames wieder Aufstehen und Schritt für Schritt mit dem Rollator wieder das Gehen üben und zuletzt drei Wochen in einer gefängnisartig abgeriegelten Reha-Station.
Marianna interpretiert dieses Martyrium symbolisch doppelt: als Auf-sich-Nehmen des Leids der Ukraine und – gerechtfertigt durch ihre Position als Dichterin – repräsentative Teilhabe daran und als Buße für eine Schuld, die sie selbst nicht akzeptiert, die ihr jedoch von außen aufgedrängt wird, Buße für den von ihr bewusst gepflegten Umgang auch mit russischen Autor:innen ihres Vertrauens, Kritikerinnen des Putinregimes, die repressiert wurden/werden und ihr Land verlassen haben wie Maria Stepanova oder Elena Fanajlova. Erstmals seit einem halben Jahr kann Marianna nun wieder die Sprache als Medium der Reflexion und Interpretation nutzen. Um den Tag ihrer Entlassung herum hat sie wieder zu dichten begonnen, und mithilfe einer Rückkehr zur Mythopoetik von der Antike bis Taras Ševčenko findet sie Worte und Formen, um sich dem Geschehenen sinnstiftend zu nähern.
Das Beitragsbild ist von Elisabeth Bauer und bildet mit den anderen Beiträgen des Ukraine-Spezials eine Einheit in Form der Fotoserie “Ukrainisches Berlin: Die Stadt als gelb-blauer Symbolraum”.