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„… das Blut schreit und rast“: DJ Stalingrad, Exodus

Posted on 27. September 2013 by Janika Rüter
DJ Stalingrad, "Exodus", erster Satz: „Die Sonne brennt.“ Es ist ein schmales, seltsames Buch, das soeben in deutscher Übersetzung bei Matthes & Seitz erschienen ist. Dass man dem Erzähler durch die Aneinanderreihung dieser grellen, oft brutalen Szenen folgt, ist neben einer gewissen Freude am drastischen Anarcho-Sound der Faszination geschuldet, die der Exzess hervorruft.

DJ Stalingrad, Exodus, erster Satz: „Die Sonne brennt.“ Es ist ein schmales, seltsames Buch, das soeben in deutscher Übersetzung bei Matthes & Seitz erschienen ist. Bereits die Vorgeschichte ist von Legenden umwittert. Erste Spuren DJ Stalingrads bahnen sich im April 2011 den Weg ins deutsche Feuilleton: Kerstin Holm berichtet in der FAZ von einem Protagonisten des Untergrunds, der wegen verschiedener Aktionen gegen die russische Staatsmacht mit Haftbefehl gesucht werde und sich auf der Flucht (und der Suche nach der nächsten Revolution) quer durch Europa befinde. Seinen wahren Namen aus Sicherheitsgründen geheim haltend, sei DJ Stalingrad seinem Selbstverständnis nach radikaler Anarchist, Antifaschist und „roter Skinhead“.

 

Gegenstand des FAZ-Artikels ist auch der zunächst im Internet, dann in der Zeitschrift Znamja (Ausgabe 9/2010) publizierte Text Ischod, der ein Milieu beschreibt, das von Gewalt und Brutalität geprägt ist und in dem (physischer) Schmerz „überflüssigen Männern“ als Medium der Wahrnehmung und Selbsterfahrung gilt. Es ist eine Generation, die ihre Sozialisierung in den 1990er Jahren erfahren hat und die den nächsten großen Aderlass herbeisehnt: einen Krieg nämlich, der die Welt von überschüssigem männlichen Blut befreit. Bis dahin fressen sie – eher düstere Vertreter dieser Generation – Drogen und Asphalt, üben sich in Straßenschlachten gegen verfeindete Untergrundgruppierungen, prügeln sich bis aufs Blut.

 

Dem DJ springen Ikonen des russischen Literaturbetriebs wie der Verleger Alexander Ivanov bei, der in ihm einen „intellektuellen Straßenpartisanen“ ausmacht. Es sind krude Einblicke in den russischen Untergrund, die Holms Artikel gewährt: die Passagen aus Exodus klingen martialisch, die Protagonisten frönen einem eigentümlichen Ideal von Schmerz und Krieg, die beigegebene Fotografie zeigt den DJ „in Unordnung“, nämlich nur mit einer Unterhose bekleidet inmitten von Chaos, die Pose unruhig, das Gesicht abgewandt – eine Ohrfeige dem bürgerlichen Geschmack.

 

Szenenwechsel. Zur Buchpremiere der deutschen Übersetzung in Berlin zwei Jahre später ist der Name des Autors kein Geheimnis mehr: Petr Silaev, Jahrgang 1985, geboren und aufgewachsen in Moskau. Seine Geschichte liest sich ähnlich wie die seines Alter Egos DJ Stalingrad und doch ganz anders: Aus dem Anarchisten in Unterhose ist ein Mann mit Gesicht geworden, den man nicht mehr als obskuren Schläger wahrnimmt, sondern als politischen Aktivisten, der wegen seiner Unterstützung für die Umweltschutzbewegung in Chimki ins Ausland flüchten musste. Der dortige zivile Protest gegen die Abholzung eines Waldgeländes sah sich massiven Einschüchterungsversuchen und gewalttätigen Übergriffen ausgesetzt – DJ Stalingrad und Gleichgesinnte konterten mit Steinen und Flaschen und demonstrierten damit, dass Gewalt kein Privileg von Machthabern und Militär sei. Eine tragische Aktualisierung erfuhren die Vorgänge in Chimki kürzlich mit dem Tod des Lokaljournalisten Michail Beketov, der sich für die Protestbewegung eingesetzt hatte, 2008 brutal zusammengeschlagen wurde und im April dieses Jahres den Spätfolgen des Überfalls erlag.

 

Die Sehnsucht nach dem nächsten Krieg, die den DJ ins Ausland getrieben hatte, erweist sich für Silaev als Odyssee durch Europa, dessen Gefängnisse und Gerichte. In Russland wirft man ihm Hooliganismus vor und damit einen jener Straftatbestände, die sich wie unlängst im Falle der Punk-Band Pussy Riot wieder als probates Mittel erwiesen haben, missliebige Stimmen in Straflagern ruhig zu stellen. Silaev, der nach einer Art riot hopping schließlich in Finnland politisches Asyl erhält, wird im August 2012 auf der Grundlage eines Interpol-Gesuchs in Spanien verhaftet, nach einigen Tagen aber wieder freigelassen. Seine Auslieferung nach Russland wird in Anerkennung der Tatsache, dass seine Verfolgung politisch motiviert sei, von spanischen Gerichten verhindert. Die missbräuchliche Instrumentalisierung von Interpol durch Russland wird von der Organisation Fair Trials International angeprangert, die sich mittlerweile für den Fall Petr Silaevs einsetzt.

 

Indes, der Text Exodus bleibt auch in einer veränderten paratextuellen Positionierung erst einmal gleich. Ob man ihn nun als authentisches Zeugnis aus dem Untergrund lesen mag oder als wütenden Protestschrei einer hoffnungslosen Jugend in postsowjetischer Szenerie: Es geht darin vor allen Dingen um Gewalt, die sich als buchstäblich blutroter Faden durch die Seiten zieht, eine ekstatische und rücksichtslose Gewalt, die die Protagonisten ausüben oder an anderen bewundern. Der Text schlaglichtert durch wüste Schlägereien in Moskauer Vororten und den internationalen Hotspots der körperlichen Auseinandersetzung zwischen Links und Rechts, die mit Lust am Blut und brutaler Härte, gleichwohl konzentriert geplant und vollzogen werden. Beschrieben werden irre Straßenschlachten, Drogenexzesse und Ausnahmebrutalisten wie der Punkrocker GG Allin, der regelmäßig sein Publikum attackierte, bei seinen Auftritten masturbierte oder sich selbst verstümmelte, seine eigenen Exkremente aß oder Frauen vor den Augen anderer vergewaltigte.

 

Dass man dem Erzähler durch die Aneinanderreihung dieser grellen, oft brutalen Szenen trotzdem folgt, ist neben einer gewissen Freude am drastischen Anarcho-Sound der Faszination geschuldet, die der Exzess hervorruft. Der öffentliche Geschmack wird hier nicht mit der futuristischen Ohrfeige, sondern mit entfesselten Fäusten, Messern, Gummigeschossen traktiert. Die Gewaltausbrüche sind dabei aus dem Text heraus oft bis zu einem bestimmten Grade nachvollziehbar. Großartig ist etwa die Schilderung der düsteren Epiphanie zu Beginn der Erzählung: Jemand, der wohl Gott sein müsse, wie der Erzähler später beschließt, verheißt dem Kind Elend und Leid, wenn es IHM nicht folge, am Ende wird trotzdem die Vernichtung stehen. Dieser bedrohliche ER, das wird sogleich präzisiert, ist ein attraktiver Lebemann, fest in einem guten, gerechten Leben stehend. Einer, der das Glücksspiel und die Frauen liebt, einer, der sich, seine Nächsten und seine ehrenwerten Prinzipien gegen Unbill verteidigen kann. Es ist dieser menschgewordene Gott eines gelingenden Lebens, der abends an der Kasse vor dem Erzähler (ausgeleierter Pullover, schmutzige Turnschuhe, Teenager-Schnauzbärtchen, Akne und verfaulte Zähne) steht und dessen furiose „Fleischwerdung“ der Text mit Genuss beschreibt: „Und innerhalb einer Sekunde verwandelt sich dieser super Typ in ein Stück Scheiße. Ein Eisenrohr macht aus seinem Kopf blutiges Hackfleisch. Zähne, Hautfetzen, Blut fliegen in alle Richtungen.“ Der Erzähler ist einer, der nichts hat und dem nichts gelingt, und der sich deshalb an „dieser Schwuchtel“ für all die verlorenen Jahre, für sein ganzes verlorenes Leben, für alle, denen es wie ihm selbst ergeht, rächt und darin „etwas von Heiligkeit“ erkennt.

 

„Etwas von Heiligkeit“? Bereits im Titel klingt eine religiöse Dimension an, die sich im Buch fortsetzt, der Autor hat ein religionswissenschaftliches Studium abgeschlossen. Helle Heilserwartungen ergeben sich daraus freilich nicht. Der düstere ER vom Anfang, dessen Odem eher Pesthauch ist, gebietet über eine irre Welt, über „Betrunkene, Halbwahnsinnige, kostümierte Heilige, Fromme mit Stalinikonen und andere phantastische Figuren“ (Holm). All seiner Unerbittlichkeit zum Trotz hat aber selbst ER den Eisenstangen seiner wildgewordenen Schäfchen nichts entgegenzusetzen, wenn sie ihn an der Kasse erkennen. Das Verhältnis zur religiösen Praxis ist ambivalent. Der Erzähler verhöhnt die Orthodoxie als gesellschaftliche Residualkategorie, in der sich Fanatiker und Verrückte sammeln und jene, die unter den Anforderungen postsowjetischer Zeiten zerbrechen – aber immerhin sind es Orthodoxe, mit denen er die (Halb-)Leichen von Obdachlosen in der Stadt zusammensucht, bis das Geld ausgeht. Die Begegnung mit einem Mönch in einem Bettelkloster bleibt sonderbar sprachlos. Und doch bildet die Religion eine der wenigen Grenzen, die der Erzähler empfinden kann – einen Priester zu entführen, das ist selbst ihm zu viel.

 

Von Fragen des Geschmacks einmal abgesehen, bleibt das Verhältnis des Textes zu der darin ausgestellten Gewalt problematisch. Das ideologische Bekenntnis der Schlägertruppe, das kaum ausgeführt wird, scheint merkwürdig beliebig. Ohnehin könnte es keine Legitimation herstellen für die Brutalität des Schlägertrupps. Der Text kokettiert bald mit den politischen Bezugsgrößen links und rechts, der in der deutschen Ausgabe enthaltene Kommentar, welcher die Abgrenzung von neonazistischen Gruppierungen zweifelsfrei ermöglicht, solle, so der Autor in Berlin, unbedingt erst nach der Lektüre des Textes gelesen werden.

 

Eine Rezension im russischen Internet-Journal rabkor verweist denn auch auf die dergestalt strukturelle Nähe linker und neonazistischer Extremisten, die in den Tiefen des Hasses und der Gewalt zusammenfinden und eigentlich austauschbar werden. In der Rezension heißt es: „Diese für beide Seiten unerfreuliche Ähnlichkeit zeigt sich beispielsweise darin, dass einzelne Absätze aus Exodus wie Passagen des bekannten Romans ,Skins: Russland erwacht‘ klingen, dessen Autor letztes Jahr Selbstmord beging.“ Angesichts der Tatsache, dass der genannte Roman Nesterovs „der aggressiven urbanen Subkultur der Glatzköpfe“ gewidmet ist, „die sich den Ideen der Säuberung der arischen Rasse und der Wiederbelebung des imperialen Stolzes verschrieben hat“, bringt das Spiel mit dem Verzicht auf eine klare politische Verortung, das Exodus betreibt, keine Haltung für oder gegen etwas hervor, sondern bleibt den Abgründen einer Gewalt verhaftet, die jede erklärte ideologische Ausrichtung ad absurdum führt. In diesem Milieu extremer Gewalt verschwimmen die Grenzen zwischen den politischen Lagern, werden vielmehr bewusst verwischt. Deutlich zeigt sich dies in einer der letzten Szenen der Erzählung, als es um die Tätowierungen des niedergestochenen Fedja geht. Die Polizisten erzählen sich, Fedja habe überall Hakenkreuz-, Totenkopf- und Adler-Tattoos gehabt. Der Ich-Erzähler weiß es besser – Fedja trug keine neonazistischen Tattoos, sondern ein Herz, einen Vogel, eine Klinge und den Schriftzug Liebe deinen Nächsten. Er denkt dies bei sich, ohne den Irrtum der Polizisten aufzuklären. Damit bleibt der Antifaschist Fedja in den Augen der Polizisten ein Neonazi. Vielleicht ist es bezeichnend genug, dass Milieu und Gebaren der Protagonisten eine solche Festlegung durch den oberflächlichen Blick von außen nahelegen.

 

Exodus ist ein brutaler Text, der die Verlorenheit jener artikuliert, die Orientierung nur noch im Blutvergießen suchen. Gewalt ist für die Protagonisten DJ Stalingrads weniger Mittel zum Zweck als vielmehr letztes Ausdrucksmittel einer Generation, die sich nur noch im Schmerz und in einer Art Krieg (be-)findet. Es ist ein Text, dem man die wütend gereckte Faust und die Emphase des Asphalts anmerkt und dem man manchmal etwas mehr Aufsicht gewünscht hätte. Es ist schließlich ein Text, der eine Schauerlichkeit nach der anderen aneinanderreiht und dabei in vielen Momenten über das bloße Vorführen und Ausstellen von Brutalität und Härte nicht hinausgeht. Gleichwohl gerinnt in den Blutlachen eine erschütternde Ahnung davon, wie das aussehen kann: eine Jugend im Straßenkrieg, in den Ruinen der sowjetischen Gesellschaftsordnung, aus denen sich ein „neues Russland“ erhebt. Vielleicht ist der Text auch deswegen erschütternd, weil er von einer rohen gesellschaftlichen Gewalt dieses neuen Russlands zeugt, die sich für manche nur in die Ausübung physischer Gewalt übersetzen lässt. DJ Stalingrad, Exodus, letzter Satz: „Wir sind jetzt Hobbits.“

 

DJ Stalingrad: Exodus. Aus dem Russischen von Friederike Meltendorf.  Berlin: Matthes & Seitz,  2013.
DJ Stalingrad, „Ischod“. In: Znamja, Nr. 9/2010. URL: http://magazines.russ.ru/znamia/2010/9/d9.html

 

Weiterführende Links:
Holm, Kerstin: DJ Stalingrad. Im Rausch der Gefahr. FAZ, 3. April 2011

„… das Blut schreit und rast“: DJ Stalingrad, Exodus - novinki
Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

„… das Blut schreit und rast“: DJ Sta­lin­grad, Exodus

DJ Sta­lin­grad, Exodus, erster Satz: „Die Sonne brennt.“ Es ist ein schmales, selt­sames Buch, das soeben in deut­scher Über­set­zung bei Matthes & Seitz erschienen ist. Bereits die Vor­ge­schichte ist von Legenden umwit­tert. Erste Spuren DJ Sta­lin­grads bahnen sich im April 2011 den Weg ins deut­sche Feuil­leton: Kerstin Holm berichtet in der FAZ von einem Prot­ago­nisten des Unter­grunds, der wegen ver­schie­dener Aktionen gegen die rus­si­sche Staats­macht mit Haft­be­fehl gesucht werde und sich auf der Flucht (und der Suche nach der nächsten Revo­lu­tion) quer durch Europa befinde. Seinen wahren Namen aus Sicher­heits­gründen geheim hal­tend, sei DJ Sta­lin­grad seinem Selbst­ver­ständnis nach radi­kaler Anar­chist, Anti­fa­schist und „roter Skinhead“.

 

Gegen­stand des FAZ-Arti­kels ist auch der zunächst im Internet, dann in der Zeit­schrift Znamja (Aus­gabe 9/2010) publi­zierte Text Ischod, der ein Milieu beschreibt, das von Gewalt und Bru­ta­lität geprägt ist und in dem (phy­si­scher) Schmerz „über­flüs­sigen Män­nern“ als Medium der Wahr­neh­mung und Selbst­er­fah­rung gilt. Es ist eine Gene­ra­tion, die ihre Sozia­li­sie­rung in den 1990er Jahren erfahren hat und die den nächsten großen Ader­lass her­bei­sehnt: einen Krieg näm­lich, der die Welt von über­schüs­sigem männ­li­chen Blut befreit. Bis dahin fressen sie – eher düs­tere Ver­treter dieser Gene­ra­tion – Drogen und Asphalt, üben sich in Stra­ßen­schlachten gegen ver­fein­dete Unter­grund­grup­pie­rungen, prü­geln sich bis aufs Blut.

 

Dem DJ springen Ikonen des rus­si­schen Lite­ra­tur­be­triebs wie der Ver­leger Alex­ander Ivanov bei, der in ihm einen „intel­lek­tu­ellen Stra­ßen­par­ti­sanen“ aus­macht. Es sind krude Ein­blicke in den rus­si­schen Unter­grund, die Holms Artikel gewährt: die Pas­sagen aus Exodus klingen mar­tia­lisch, die Prot­ago­nisten frönen einem eigen­tüm­li­chen Ideal von Schmerz und Krieg, die bei­gege­bene Foto­grafie zeigt den DJ „in Unord­nung“, näm­lich nur mit einer Unter­hose bekleidet inmitten von Chaos, die Pose unruhig, das Gesicht abge­wandt – eine Ohr­feige dem bür­ger­li­chen Geschmack.

 

Sze­nen­wechsel. Zur Buch­pre­miere der deut­schen Über­set­zung in Berlin zwei Jahre später ist der Name des Autors kein Geheimnis mehr: Petr Silaev, Jahr­gang 1985, geboren und auf­ge­wachsen in Moskau. Seine Geschichte liest sich ähn­lich wie die seines Alter Egos DJ Sta­lin­grad und doch ganz anders: Aus dem Anar­chisten in Unter­hose ist ein Mann mit Gesicht geworden, den man nicht mehr als obskuren Schläger wahr­nimmt, son­dern als poli­ti­schen Akti­visten, der wegen seiner Unter­stüt­zung für die Umwelt­schutz­be­we­gung in Chimki ins Aus­land flüchten musste. Der dor­tige zivile Pro­test gegen die Abhol­zung eines Wald­ge­ländes sah sich mas­siven Ein­schüch­te­rungs­ver­su­chen und gewalt­tä­tigen Über­griffen aus­ge­setzt – DJ Sta­lin­grad und Gleich­ge­sinnte kon­terten mit Steinen und Fla­schen und demons­trierten damit, dass Gewalt kein Pri­vileg von Macht­ha­bern und Militär sei. Eine tra­gi­sche Aktua­li­sie­rung erfuhren die Vor­gänge in Chimki kürz­lich mit dem Tod des Lokal­jour­na­listen Michail Beketov, der sich für die Pro­test­be­we­gung ein­ge­setzt hatte, 2008 brutal zusam­men­ge­schlagen wurde und im April dieses Jahres den Spät­folgen des Über­falls erlag.

 

Die Sehn­sucht nach dem nächsten Krieg, die den DJ ins Aus­land getrieben hatte, erweist sich für Silaev als Odyssee durch Europa, dessen Gefäng­nisse und Gerichte. In Russ­land wirft man ihm Hoo­li­ga­nismus vor und damit einen jener Straf­tat­be­stände, die sich wie unlängst im Falle der Punk-Band Pussy Riot wieder als pro­bates Mittel erwiesen haben, miss­lie­bige Stimmen in Straf­la­gern ruhig zu stellen. Silaev, der nach einer Art riot hop­ping schließ­lich in Finn­land poli­ti­sches Asyl erhält, wird im August 2012 auf der Grund­lage eines Interpol-Gesuchs in Spa­nien ver­haftet, nach einigen Tagen aber wieder frei­ge­lassen. Seine Aus­lie­fe­rung nach Russ­land wird in Aner­ken­nung der Tat­sache, dass seine Ver­fol­gung poli­tisch moti­viert sei, von spa­ni­schen Gerichten ver­hin­dert. Die miss­bräuch­liche Instru­men­ta­li­sie­rung von Interpol durch Russ­land wird von der Orga­ni­sa­tion Fair Trials Inter­na­tional ange­pran­gert, die sich mitt­ler­weile für den Fall Petr Silaevs einsetzt.

 

Indes, der Text Exodus bleibt auch in einer ver­än­derten para­tex­tu­ellen Posi­tio­nie­rung erst einmal gleich. Ob man ihn nun als authen­ti­sches Zeugnis aus dem Unter­grund lesen mag oder als wütenden Pro­test­schrei einer hoff­nungs­losen Jugend in post­so­wje­ti­scher Sze­nerie: Es geht darin vor allen Dingen um Gewalt, die sich als buch­stäb­lich blut­roter Faden durch die Seiten zieht, eine eksta­ti­sche und rück­sichts­lose Gewalt, die die Prot­ago­nisten aus­üben oder an anderen bewun­dern. Der Text schlag­lich­tert durch wüste Schlä­ge­reien in Mos­kauer Vor­orten und den inter­na­tio­nalen Hot­spots der kör­per­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen Links und Rechts, die mit Lust am Blut und bru­taler Härte, gleich­wohl kon­zen­triert geplant und voll­zogen werden. Beschrieben werden irre Stra­ßen­schlachten, Dro­gen­ex­zesse und Aus­nah­me­bru­ta­listen wie der Punk­ro­cker GG Allin, der regel­mäßig sein Publikum atta­ckierte, bei seinen Auf­tritten mas­tur­bierte oder sich selbst ver­stüm­melte, seine eigenen Exkre­mente aß oder Frauen vor den Augen anderer vergewaltigte.

 

Dass man dem Erzähler durch die Anein­an­der­rei­hung dieser grellen, oft bru­talen Szenen trotzdem folgt, ist neben einer gewissen Freude am dras­ti­schen Anarcho-Sound der Fas­zi­na­tion geschuldet, die der Exzess her­vor­ruft. Der öffent­liche Geschmack wird hier nicht mit der futu­ris­ti­schen Ohr­feige, son­dern mit ent­fes­selten Fäusten, Mes­sern, Gum­mi­ge­schossen trak­tiert. Die Gewalt­aus­brüche sind dabei aus dem Text heraus oft bis zu einem bestimmten Grade nach­voll­ziehbar. Groß­artig ist etwa die Schil­de­rung der düs­teren Epi­phanie zu Beginn der Erzäh­lung: Jemand, der wohl Gott sein müsse, wie der Erzähler später beschließt, ver­heißt dem Kind Elend und Leid, wenn es IHM nicht folge, am Ende wird trotzdem die Ver­nich­tung stehen. Dieser bedroh­liche ER, das wird sogleich prä­zi­siert, ist ein attrak­tiver Lebe­mann, fest in einem guten, gerechten Leben ste­hend. Einer, der das Glücks­spiel und die Frauen liebt, einer, der sich, seine Nächsten und seine ehren­werten Prin­zi­pien gegen Unbill ver­tei­digen kann. Es ist dieser mensch­ge­wor­dene Gott eines gelin­genden Lebens, der abends an der Kasse vor dem Erzähler (aus­ge­lei­erter Pull­over, schmut­zige Turn­schuhe, Teen­ager-Schnauz­bärt­chen, Akne und ver­faulte Zähne) steht und dessen furiose „Fleisch­wer­dung“ der Text mit Genuss beschreibt: „Und inner­halb einer Sekunde ver­wan­delt sich dieser super Typ in ein Stück Scheiße. Ein Eisen­rohr macht aus seinem Kopf blu­tiges Hack­fleisch. Zähne, Haut­fetzen, Blut fliegen in alle Rich­tungen.“ Der Erzähler ist einer, der nichts hat und dem nichts gelingt, und der sich des­halb an „dieser Schwuchtel“ für all die ver­lo­renen Jahre, für sein ganzes ver­lo­renes Leben, für alle, denen es wie ihm selbst ergeht, rächt und darin „etwas von Hei­lig­keit“ erkennt.

 

„Etwas von Hei­lig­keit“? Bereits im Titel klingt eine reli­giöse Dimen­sion an, die sich im Buch fort­setzt, der Autor hat ein reli­gi­ons­wis­sen­schaft­li­ches Stu­dium abge­schlossen. Helle Heils­er­war­tungen ergeben sich daraus frei­lich nicht. Der düs­tere ER vom Anfang, dessen Odem eher Pest­hauch ist, gebietet über eine irre Welt, über „Betrun­kene, Halb­wahn­sin­nige, kos­tü­mierte Hei­lige, Fromme mit Stali­ni­konen und andere phan­tas­ti­sche Figuren“ (Holm). All seiner Uner­bitt­lich­keit zum Trotz hat aber selbst ER den Eisen­stangen seiner wild­ge­wor­denen Schäf­chen nichts ent­ge­gen­zu­setzen, wenn sie ihn an der Kasse erkennen. Das Ver­hältnis zur reli­giösen Praxis ist ambi­va­lent. Der Erzähler ver­höhnt die Ortho­doxie als gesell­schaft­liche Resi­du­al­ka­te­gorie, in der sich Fana­tiker und Ver­rückte sam­meln und jene, die unter den Anfor­de­rungen post­so­wje­ti­scher Zeiten zer­bre­chen – aber immerhin sind es Ortho­doxe, mit denen er die (Halb-)Leichen von Obdach­losen in der Stadt zusam­men­sucht, bis das Geld aus­geht. Die Begeg­nung mit einem Mönch in einem Bet­tel­kloster bleibt son­derbar sprachlos. Und doch bildet die Reli­gion eine der wenigen Grenzen, die der Erzähler emp­finden kann – einen Priester zu ent­führen, das ist selbst ihm zu viel.

 

Von Fragen des Geschmacks einmal abge­sehen, bleibt das Ver­hältnis des Textes zu der darin aus­ge­stellten Gewalt pro­ble­ma­tisch. Das ideo­lo­gi­sche Bekenntnis der Schlä­ger­truppe, das kaum aus­ge­führt wird, scheint merk­würdig beliebig. Ohnehin könnte es keine Legi­ti­ma­tion her­stellen für die Bru­ta­lität des Schlä­ger­trupps. Der Text koket­tiert bald mit den poli­ti­schen Bezugs­größen links und rechts, der in der deut­schen Aus­gabe ent­hal­tene Kom­mentar, wel­cher die Abgren­zung von neo­na­zis­ti­schen Grup­pie­rungen zwei­fels­frei ermög­licht, solle, so der Autor in Berlin, unbe­dingt erst nach der Lek­türe des Textes gelesen werden.

 

Eine Rezen­sion im rus­si­schen Internet-Journal rabkor ver­weist denn auch auf die der­ge­stalt struk­tu­relle Nähe linker und neo­na­zis­ti­scher Extre­misten, die in den Tiefen des Hasses und der Gewalt zusam­men­finden und eigent­lich aus­tauschbar werden. In der Rezen­sion heißt es: „Diese für beide Seiten uner­freu­liche Ähn­lich­keit zeigt sich bei­spiels­weise darin, dass ein­zelne Absätze aus Exodus wie Pas­sagen des bekannten Romans ‚Skins: Russ­land erwacht‘ klingen, dessen Autor [Dmitrij Nes­terov] letztes Jahr Selbst­mord beging.“ Ange­sichts der Tat­sache, dass der genannte Roman Nes­terovs „der aggres­siven urbanen Sub­kultur der Glatz­köpfe“ gewidmet ist, „die sich den Ideen der Säu­be­rung der ari­schen Rasse und der Wie­der­be­le­bung des impe­rialen Stolzes ver­schrieben hat“, bringt das Spiel mit dem Ver­zicht auf eine klare poli­ti­sche Ver­or­tung, das Exodus betreibt, keine Hal­tung für oder gegen etwas hervor, son­dern bleibt den Abgründen einer Gewalt ver­haftet, die jede erklärte ideo­lo­gi­sche Aus­rich­tung ad absurdum führt. In diesem Milieu extremer Gewalt ver­schwimmen die Grenzen zwi­schen den poli­ti­schen Lagern, werden viel­mehr bewusst ver­wischt. Deut­lich zeigt sich dies in einer der letzten Szenen der Erzäh­lung, als es um die Täto­wie­rungen des nie­der­ge­sto­chenen Fedja geht. Die Poli­zisten erzählen sich, Fedja habe überall Hakenkreuz‑, Toten­kopf- und Adler-Tat­toos gehabt. Der Ich-Erzähler weiß es besser – Fedja trug keine neo­na­zis­ti­schen Tat­toos, son­dern ein Herz, einen Vogel, eine Klinge und den Schriftzug Liebe deinen Nächsten. Er denkt dies bei sich, ohne den Irrtum der Poli­zisten auf­zu­klären. Damit bleibt der Anti­fa­schist Fedja in den Augen der Poli­zisten ein Neo­nazi. Viel­leicht ist es bezeich­nend genug, dass Milieu und Gebaren der Prot­ago­nisten eine solche Fest­le­gung durch den ober­fläch­li­chen Blick von außen nahelegen.

 

Exodus ist ein bru­taler Text, der die Ver­lo­ren­heit jener arti­ku­liert, die Ori­en­tie­rung nur noch im Blut­ver­gießen suchen. Gewalt ist für die Prot­ago­nisten DJ Sta­lin­grads weniger Mittel zum Zweck als viel­mehr letztes Aus­drucks­mittel einer Gene­ra­tion, die sich nur noch im Schmerz und in einer Art Krieg (be-)findet. Es ist ein Text, dem man die wütend gereckte Faust und die Emphase des Asphalts anmerkt und dem man manchmal etwas mehr Auf­sicht gewünscht hätte. Es ist schließ­lich ein Text, der eine Schau­er­lich­keit nach der anderen anein­an­der­reiht und dabei in vielen Momenten über das bloße Vor­führen und Aus­stellen von Bru­ta­lität und Härte nicht hin­aus­geht. Gleich­wohl gerinnt in den Blut­la­chen eine erschüt­ternde Ahnung davon, wie das aus­sehen kann: eine Jugend im Stra­ßen­krieg, in den Ruinen der sowje­ti­schen Gesell­schafts­ord­nung, aus denen sich ein „neues Russ­land“ erhebt. Viel­leicht ist der Text auch des­wegen erschüt­ternd, weil er von einer rohen gesell­schaft­li­chen Gewalt dieses neuen Russ­lands zeugt, die sich für manche nur in die Aus­übung phy­si­scher Gewalt über­setzen lässt. DJ Sta­lin­grad, Exodus, letzter Satz: „Wir sind jetzt Hobbits.“

 

DJ Sta­lin­grad: Exodus. Aus dem Rus­si­schen von Frie­de­rike Mel­ten­dorf.  Berlin: Matthes & Seitz,  2013.
DJ Sta­lin­grad, „Ischod“. In: Znamja, Nr. 9/2010. URL: http://magazines.russ.ru/znamia/2010/9/d9.html

 

Wei­ter­füh­rende Links:
Holm, Kerstin: DJ Sta­lin­grad. Im Rausch der Gefahr. FAZ, 3. April 2011