Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Tristia – Tai­stra. Von Ovid über Man­del’štam zu Marcel Beyer.

Ein euro­päi­scher Dich­ter­dialog über Ver­ban­nung und Verlust

 

Die Himmel sind leer, die Vögel längst fort­ge­zogen. Die Auguren schließen die bren­nenden Augen, Wim­pern­haar, ste­chend (Osip Man­del’štam). Sie sind müde von der ver­flo­genen Zukunft, die sie geschaut haben. Viel­leicht sind sie auch müde, weil die Bilder seit jeher eigen­tüm­lich sich glei­chen, wie jene von Ver­ban­nung und Ver­lust, wie sie mit Ovid und später Osip Man­del’štam auf­ziehen, zuletzt in Gra­phit nach­ge­zeichnet von Marcel Beyer.

 

Die Urszene: Abschied von Ovid

Ovid also, der uns an die ros­tigen Küsten des Schwarzen Meers ver­loren ging, ans Ende seiner Welt, das zu seiner letzten Welt (Chris­toph Rans­mayr) werden sollte. Im Jahr 8 n. Chr. aus Rom ver­bannt in „das Land am Rand der Erde“ (Ovid), gefallen unter Geten und Sau­ro­maten, die Ovid nur zu einer Art urzeit­li­chem Bes­tia­rium, nicht aber zur mensch­li­chen Gesell­schaft taugten, ver­ortet sich sein Ver­lust seither in Tomis. Heute heißt die Stadt Con­stanţa, und sie liegt nicht mehr am Rand der Erde, son­dern in Rumä­nien, nun­mehr ein Erin­ne­rungsort der euro­päi­schen Lite­ratur: als die „eiserne Stadt“, die „ros­tige Stadt“ (Rans­mayr), „Sta­lin­stadt“ (Marcel Beyer).
So schmerz­lich und schön wie der Titel der Kla­ge­briefe von Ovid, Tristia, sind auch die Ele­gien, die sich dar­unter ver­ei­nigen. Darin betrauert Ovid sein ver­gan­genes Glück und fleht um Straf­er­leich­te­rung – wenn schon nicht Straf­er­lass, die ersehnte Rück­kehr nach Rom. Pas­sagen ver­zwei­felter Selbst­ver­tei­di­gung wech­seln sich mit sol­chen der reu­igen Selbst­be­zich­ti­gung ab. Und auch diese berühmten Bilder eines Abschieds, der uns bis heute dauert, finden sich:

 

1,3
Cum subit illius tris­tis­sima noctis imago,
qua mihi supremum tempus in urbe fuit,
cum repeto noctem, qua tot mihi cara reliqui,
lab­itur ex oculis nunc quoque gutta meis.

 

Buch 1, Elegie 3
Wenn das schmerz­liche Bild jener Nacht in mir aufsteigt,
die für mich die letzte Frist in der Stadt blieb,
wenn ich an die Nacht zurück­denke, in der ich so vieles, was mir teuer war,
zurück­ließ, fließen mir jetzt noch die Tränen aus den Augen.

 

Abschied & Ahnung: Osip Mandelʼštam

Die Bilder, die Ovid in der Erin­ne­rung an seine letzte Nacht in Rom beschwört – der Schmerz, die Tränen, das gelöste Haar der gleichsam einen Toten bekla­genden Geliebten –, steigen aus der Tiefe der Geschichte auch in Osip Man­del’š­tams Gedicht Tristia auf, dem Zen­trum des gleich­na­migen Gedicht­bands aus dem Jahr 1922. Sie ent­falten sich darin zur eigen­tüm­li­chen Gegen­wart einer durch­wachten Nacht, zur Gleich­zei­tig­keit eines bevor­ste­henden Abschieds und dieses einen, ewigen Abschieds von Ovid in die Ver­ban­nung. Die Atmo­sphäre ist archa­isch und dunkel, viel­leicht noch vom Zwie­licht der Däm­me­rung der Frei­heit durch­wirkt, jenem Tristia vor­an­ge­henden Gedicht, das die aus den Fugen gera­tene Welt der Revo­lu­tion von 1918 in ambi­va­lente, auf­ge­wühlte Bilder von bro­delnden „Was­ser­nächten“ (übers. v. Paul Celan) fasst, „nacht­schwarz, unbe­zähmbar“ (übers. v. Ralph Dutli).
Aber die Zeit, die gerade noch als ein durch wilde Wasser zur Tiefe gehendes Schiff ima­gi­niert wurde, scheint nun in Tristia sus­pen­diert, still­ge­stellt in Erin­ne­rung und Kon­tem­pla­tion, „[w]ährend er immer kaut, der Ochse, träg –“. Es ist eine letzte wache Nacht, im Wissen um das, was kommt, „Abschied­nehmen“ (Dutli), „Aus­ein­an­der­gehen“ (Celan) – man wünschte sich: vor den Tränen, das Haar gelöst im Schlaf, nicht im Schmerz, geborgen in der dunklen Wärme des Heims.

 

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„Ich lernte Abschied – eine Wis­sen­schaft“ (Celan). Der das schreibt, webt sich über die Lek­türe, die Erin­ne­rung – „ich lieb, was stets sich fort­spinnt, Fäden […] “ – in die Stimmen anderer Dichter ein, die in dem Gedicht, der „großen Kuppel für seine Vor­läufer“ (Josif Brod­skij), wider­hallen, und findet Schutz in den vor­ver­gan­genen Abschieden der Lite­ratur. Es ist eine Ein­übung des Lie­benden, Lesenden in die unaus­weich­liche Erfah­rung vom Aus­ein­an­der­gehen und seinen Insi­gnien, der Schmerz, die Klage, das Haar, doch das Maß­lose des Gefühls ins Versmaß ein­he­gend. Aus der Unaus­weich­lich­keit des Abschieds erwächst bei Man­del’štam das Glück des Wiedererkennens:

 

„Und alles war schon und wird wiederkehren:
Dein Glück – nur der Moment, da du’s erkennst.“ (übers. v. Dutli)

 

Was aber sehen die Auguren, was schaut das „über das Wachs geneigte[…] Mäd­chenaug“ (Celan)? Sehen sie in dem ahnenden Rekurs auf Ovid die Zukunft Man­del’š­tams, die ihn, wie der­einst Ovid, im Jahr 1934 in die Ver­ban­nung nach Woro­nesch führen, und die zum Ende der 1930er in einem sowje­ti­schen Durch­gangs­lager ver­fliegen wird? Sehen sie in den Zeilen aus dem Jahr 1918 die eigen­tüm­liche Prä­for­mie­rung eines Dich­ter­schick­sals, das zugleich Wie­der­ho­lung ist? Aber ob es ein Glück ist, dieses Wie­der­erkennen, dieses Vor­aus­ahnen jenes wie­der­keh­renden Dich­ter­schick­sals – zumin­dest kein bio­gra­phi­sches Glück. So eignet denn auch der lodernden Zukunft, wie sie in Man­del’š­tams Tristia auf­scheint, etwas Drohendes:

 

„Wer, hört dies Wort er: Auseinandergehen,
weiß, was die Tren­nung und das Scheiden bringt,
was es ver­heißt, wenn Flammen auf dir stehen,
Akro­polis, und Hah­nen­schrei erklingt?“
[…] (übers. v. Celan)

 

Im rus­si­schen Ori­ginal endet das Gedicht auf das Wort umeret, sterben: Die Männer sterben in der Schlacht, die Frauen, denen das Wachs und damit die Weis­sa­gung zukommt, „[…] sterben, da sie in die Zukunft schaun.“ Das Glück der alten Stimmen, die in der Kuppel von Man­del’š­tams Tristia auf­fliegen, ver­klingt mit diesem letzten letalen Wort des Gedichts.

Doch die Fäden werden fort­ge­sponnen. Paul Celan, der seine inten­sive Über­set­zungs­ar­beit aus dem Rus­si­schen in den 1950er Jahren wieder auf­nimmt, begegnet den Gedichten von Osip Man­del’štam und darin einem Geis­tes­ver­wandten: „der Name Ossip kommt auf dich zu“ (Celan, Es ist alles anders). Bio­gra­phie und Werk des rus­si­schen Dich­ters werden tiefe Spuren in Celans Schaffen hin­ter­lassen und sich in seine eigene Poetik ein­schreiben. Umge­trieben vom Schicksal des ver­femten, ver­bannten und unter wid­rigsten Umständen zu Tode gekom­menen rus­si­schen Dich­ters, über­setzt er eine Reihe von Man­del’š­tams Gedichten ins Deut­sche, aus dem frühen Gedicht­band Der Stein [Kamenʼ], aus dem spä­teren Tristia, auch das Gedicht daselbst: Tristia, die Fäden nun auf die Spindel einer fremden Sprache, seiner Sprache auf­wi­ckelnd. Celan über­setzt Man­del’štam, den vier­jäh­rigen Sohn Eric am Schreib­tisch dabei, das Papier ist plötz­lich ver­zogen in der Schreib­ma­schine, die Zeilen stürzen inein­ander, wo sie vorher gleich­mäßig liefen. „Eric“ steht am Rand des Typo­skripts, viel­leicht später hin­zu­ge­fügt. „Auf den Sei­ten­rän­dern finden wir Gedichte“ steht bei Mandel’štam.

Celan stellt Erkun­di­gungen über das lange unge­klärte Schicksal von Man­del’štam an, schreibt einen Radio­vor­trag über ihn, der bereits vielem vor­greift, was Celan wenig später in seiner berühmten Büchner-Preis­rede Der Meri­dian for­mu­lieren wird. Celan widmet dem rus­si­schen Dichter, den er nicht gekannt hat und dessen Gedichte für ihn von exis­ten­zi­eller Bedeu­tung sein sollten, einen eigenen Gedicht­band, Die Nie­mands­rose (1963). Im Jahr 1959 erscheinen Celans Man­del’štam-Über­set­zungen beim S. Fischer Verlag. Zum ersten Mal eröffnet sich damit die weite, alte, euro­päi­sche Welt des rus­si­schen Lyri­kers für deut­sche Leser. Einer dieser Leser Man­del’š­tams in der Über­set­zung Celans wird später Marcel Beyer sein.

 

Hunde im Weltall (Tristia on tour): Marcel Beyer

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Auch Marcel Beyer also nimmt sich in seinem neuen Gedicht­band Gra­phit der alten Geschichte von Ver­ban­nung und Ver­lust an, Tai­stra lautet der Titel des Gedichts, in dem er auf Ovid und Man­del’štam rekur­riert. Frei­lich ist die „Kuppel für die großen Vor­läufer“, wie sie Man­del’štam in seiner „Sehn­sucht nach Welt­kultur“ in Tristia errichtet hatte, unter der Last des tota­li­tären Wahns des 20. Jahr­hun­derts längst ein­ge­stürzt. „Immer stimmt alles ein biszchen nicht ganz“, heißt es bei der von Beyer so geschätzten Frie­de­rike May­rö­cker im Gedicht Prater (Neur­asthenie), und das stimmt hier nicht nur ein biszchen, son­dern ganz: Tristia, Tai­stra, das klingt an und geht nicht auf. Die Stimmen, die nicht mehr von hohen, hehren Kup­pel­wänden wider­hallen können, kra­xeln also über „Reservoir[e] schiefer Bilder“, gucken all­täg­lich aus „Him­beer­quark­ge­sicht“ und „Ther­mo­wams“ hervor und denken ans Aus­ein­an­der­gehen und die Heil­pflege geschun­dener Füße: „[…] doch ich lernte Podo­logie, | die Wis­sen­schaft der | Weit­ge­reisten ohne Wie­der­kehr | wie derer, die genug | gelaufen sind […]“.
Es ist viel­leicht mehr als eine Fuß­note, weil sym­pto­ma­tisch für das kühne Under­state­ment in Tai­stra, dass der auf den ersten Blick so will­kür­lich wie eigen­artig anmu­tende Zusam­men­hang von Podo­logie und Dich­tung bereits bei Ovid sich finden lässt:
„Dass die Gedichte hinken und jeder zweite Vers her­ab­sinkt, dafür ist der Fuß der Grund, oder der lange Weg macht das; dass ich weder von Zedernöl gelb noch mit Bims­stein geglättet bin, liegt daran, dass ich mich schäme, feiner zu sein als mein Herr; dass die Buch­staben bekleckst sind und ver­lau­fene Fle­cken haben, liegt daran, dass der Dichter selbst mit seinen eigenen Tränen sein Werk entstellte.“
(Ovid, Gedichte aus der Ver­ban­nung, Buch 3, Elegie 1)

In der Tat zeigt sich bald, dass den schiefen Bil­dern, die im Gedicht zusam­men­ge­zwungen werden, uner­war­tete Fügungen erwachsen. Mit den Zeilen, die sich in sechs Teilen vor­geb­lich über Mani­küre, Musi­cals, Eich­hörn­chen und Hunde im Weltall ver­breiten, spannt sich ein weiter Bogen, von Tomis bis nach Eisen­hüt­ten­stadt, das eine Zeit­lang in Sta­lin­stadt umbe­nannt war. Es sind in aller All­täg­lich­keit überaus gelehrte Zeilen, die da – „hier (im Grenz­land)“ – mit frap­pie­rend unschein­barer Geste All­tags­welten, sowje­ti­sche Raum­fahrts- und euro­päi­sche Dich­tungs­ge­schichte auf­fä­chern, dis­pa­rate Bedeu­tungs­ge­genden durch­strei­fend, viel­leicht wie ein „junger Grenz­hund“ (Durs Grün­bein, Por­trät des Künst­lers als junger Grenz­hund, mit der dem Zyklus vor­an­ge­stellten Wid­mung: „Zum Andenken an I. P. Pawlow | Und alle Ver­suchs­hunde | Der Medi­zi­ni­schen Aka­demie der | Rus­si­schen Armee“). Tat­säch­lich ist die Atmo­sphäre des Gedichts durch­wirkt von feinen poe­to­lo­gi­schen Spuren der Kol­legen Man­del’štam, Celan, Grün­bein, die sich der Haptik ent­ziehen, aber viel­leicht doch in die schiefen Bilder hin­ein­ragen: Die Idee vom Dichter als junger Grenz­hund, das Gedicht auch als „Ort im All“ (Celan im Radio­vor­trag Die Dich­tung Ossip Man­del­stamms) – das fällt bei Beyer in den sowje­ti­schen „Kosmonautenhunde[n]“ zusammen, Belka und Strelka, Eich­hörn­chen und Pfeil, die als „Helden der unbe­mannten Raum­fahrt“ für einen Tag ins All geschickt wurden und unver­sehrt wieder lan­deten, mit „einer Schramme“, wie hin­gegen Beyer zugibt. Mit den Hunden kommt auch die Zukunft ins Gedicht: „[…] Die Zukunft | singt und schaut allein: ein | Hund. […]“

Zukunft – wie klang das noch gleich bei den großen Vor­läu­fern? Zukunft war das, was hinter Ovid in Rom zurück­blieb und war das, was bei Man­del’štam von den Frauen im Wachs geschaut wurde und den Tod brachte. Die Zukunft hat sich auch im Grenz­land von Tai­stra eher ver­braucht und bringt in Anleh­nung an die Man­del’štam-Über­set­zung von Celan eigen­ar­tige, schmerz­hafte Bilder hervor: „Eich­hörn­chen, Feh: dir wird | das Fell gespannt. Schnurr­haar ver­knotet | mit der alten Zeit, wäh­rend || dein Schwanz ins Über­morgen | reicht. […]“

„Ein Wort, ein Hieb. Noch | ein Hieb“: „Immer schön mit der | Eisen­stange ins Genick […]“. Worte, Hiebe, das sind die alten Worte aus Con­stanţa (To Rome with Love…), vor allem aber jene Worte Man­del’š­tams, die seinen Unter­gang bedeuten sollten, sein Epi­gramm gegen Stalin, das ihm 1934 die Ver­ban­nung ein­trug. Schon in dem Epi­gramm geht die Rede von Him­beeren, die Beyer später vor­geb­lich zum pro­fanen kos­me­ti­schen Mittel gerei­chen werden: „Wie Him­beeren schmeckt ihm [Stalin] das Töten – | Und breit schwillt die Brust des Osseten.“ (übers. v. Kurt Lhotzky)

Tai­stra, Teil VI: Es sind müde mah­nende Worte, die die zurück­blei­bende lyri­sche Stimme dem Buch auf seinen unge­wissen Weg mit­schickt: „Und du, || mein Buch, auf schweren (oder | leichten) Füßen geh (bin | nicht ver­stimmt, nur weiß man | eben nie, ein Lied, ein | por­no­gra­phi­sches Ver­sehen – | schon bist auch du vom | Fenster weg), zieh also ohne | mich in die umbe­nannte Stadt.“ Man mag sich noch­mals an Ovid erin­nert fühlen, der einst sein Buch in ähn­li­cher Manier als Für­spre­cher in die Welt ent­sandt hatte, sich der Gründe nicht gewiss, derent­wegen er so plötz­lich weg vom Fenster und an den unwirt­li­chen Rand der Welt ver­bannt war – wegen seiner frei­mü­tigen Lie­bes­dich­tungen, etwa? Man mag an Man­del’štam denken, dessen eigent­lich eph­emeres, weil münd­lich vor­ge­tra­genes Epi­gramm gegen Stalin zur „Eisen­stange ins Genick“ wurde. Und man wird viel­leicht an Ovid und Man­del’štam und Beyer denken, wenn für einen Augen­blick das Schild „Podo­logie“ in den Fens­tern der Stra­ßen­bahn steht und der Typ gegen­über, „Him­beer­quark­ge­sicht“ und ins „Ther­mo­wams“ gewandet, ein schal gewor­denes „Sterni“ in „glutrote[n] Hände[n]“ hält.

 

Lek­tü­re­emp­feh­lungen:

Marcel Beyer, Gra­phit. Gedichte, Berlin 2014.
Paul Celan, Gesam­melte Werke in sieben Bänden. Fünfter Band. Über­tra­gungen II. Zwei­spra­chig, Frank­furt am Main 2003.
Ossip Man­del­stam, Tristia. Gedichte 1916–1925. Aus dem Rus­si­schen über­setzt und her­aus­ge­geben von Ralph Dutli,
Frank­furt am Main 2003.
Ovid, Gedichte aus der Ver­ban­nung. Eine Aus­wahl aus „Tristia“ und „Epis­tulae ex Ponto“. Lateinisch/Deutsch. Über­setzt und her­aus­ge­geben von Niklas Holz­berg, Stutt­gart 2013.
Chris­toph Rans­mayr, Die letzte Welt. Roman. Mit einem Ovi­di­schen Reper­toire, Frank­furt am Main 1991.

 

Osip Mandelʼštam, über­setzt von Paul Celan:

Tristia

Ich lernte Abschied – eine Wissenschaft;
ich lernt sie nachts, von Schmerz und schlichtem Haar.
Gebrüll von Ochsen. Warten, lange Haft.
Die Stadt-Vigilie, die die letzte war.
Und ich – ich halts wie in der Nacht der Hähne,
da ich, den Gram geschul­tert, wan­dert, lang,
ein Aug ins Ferne sah durch seine Träne
und Wei­ber­weinen war im Musensang.

Wer, hört dies Wort er: Auseinandergehen,
weiß, was die Tren­nung und das Scheiden bringt,
was es ver­heißt, wenn Flammen auf dir stehen,
Akro­polis, und Hah­nen­schrei erklingt?
Was, wenn ein neues Leben, irgend­eines, tagt,
indes die Ochsen brüllen, träg, im Stall,
was jenes Flü­gel­schlagen dort besagt
des Hahns, der Neues kündet, auf dem Wall?

Ich lieb, was stets sich fort­spinnt, Fäden –
Das Schiff­chen fliegt, die Spindel summt …
O sieh: ein Flaum, ein wirk­li­cher, von Schwänen –
die unbe­schuhte Delia – sie kommt!
O unsres Lebens Grund, der karg-und-schmale,
die Bet­tel­worte, die die Freude spricht!
Ach, nur Gewesnes kommt, zum andern Male:
der Nu, da du’s erkennst – dein Glück.

So sei denn dies: Die Schale, tönern, rein,
und das Gebild aus Wachs, durch­sichtig, drauf.
(Wie Fell vom Feh, gedehnt.) Daneben ein
über das Wachs geneigtes Mädchenaug.
Nicht an uns ists, den Erebos zu fragen:
dem Mann das Kupfer, Wachs den Fraun.
Uns fällt der Würfel, da wir Schlachten schlagen;
sie sterben, da sie in die Zukunft schaun.

1918

 

Osip Man­del­stam, „Tristia“, in: Paul Celan, Gesam­melte Werke in sieben Bänden. Fünfter Band. Über­tra­gungen II. Zwei­spra­chig, Frank­furt am Main 2003, S. 104–107. Mit freund­li­cher Geneh­mi­gung des Suhr­kamp Verlags.

 

Осип Мандельштам:
Tristia

Я изучил науку расставанья
В простоволосых жалобах ночных.
Жуют волы, и длится ожиданье,
Последний час вигилий городских,
И чту обряд той петушиной ночи,
Когда, подняв дорожной скорби груз,
Глядели вдаль заплаканные очи,
И женский плач мешался с пеньем муз.

Кто может знать при слове – расставанье,
Какая нам разлука предстоит,
Что нам сулит петушье восклицанье,
Когда огонь в акрополе горит,
И на заре какой-то новой жизни,
Когда в сенях лениво вол жует,
Зачем петух, глашатай новой жизни,
На городской стене крылами бьет?

И я люблю обыкновенье пряжи:
Снует челнок, веретено жужжит.
Смотри, навстречу, словно пух лебяжий,
Уже босая Делия летит!
О, нашей жизни скудная основа,
Куда как беден радости язык!
Всё было встарь, всё повторится снова,
И сладок нам лишь узнаванья миг.

Да будет так: прозрачная фигурка
На чистом блюде глиняном лежит,
Как беличья распластанная шкурка,
Склонясь над воском, девушка глядит.
Не нам гадать о греческом Эребе,
Для женщин воск, что для мужчины медь.
Нам только в битвах выпадает жребий,
А им дано гадая умереть.

1918