Russisches Theater im Exil: „Ich möchte Antikriegstheater machen“

Wie geht es dem russischsprachigen Theater in Deutschland in der Zeit des umfassenden Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine? Wie engagieren sich die Künstler*innen? Welche Möglichkeiten haben sie, aus der Emigrantenblase herauszukommen? Darüber hat novinki mit dem Regisseuren Igor Titov und der Produzentin Svetlana Dolja in Berlin gesprochen. Sie sind Autoren des Theaterstücks Uezžaete? Uezžajte! (Fahren Sie weg? Fahren Sie weg!) über den sowjetischen Dichter, Dramatiker, Barden und Emigranten Aleksandr Galič, das im Sommer 2023 in Berlin premierte.

Szene der Aufführung, Foto: Maria Dobrygina.

Im April, Juni und September 2023 fanden im Petersburg Art Space Berlin Aufführungen des Theaterstücks Uezžaete? Uezžajte! in russischer Fassung über die Emigration von Aleksandr Galič (Alexander Galitsch) statt, der eine wichtige sowjetische antisowjetische Figur war. Galič, Schauspieler, Dramatiker und Lyriker, wurde 1974 gezwungen, die Sowjetunion zu verlassen. Die Geschichte seiner Emigration, die im Stück erzählt wird, kann als Spiegel für die Emigration vieler Menschen, die zur Kulturszene des heutigen Russlands gehören, betrachtet werden. Das Stück setzt die Emigration der 1970er Jahre mit der heutigen Situation in Beziehung und macht damit explizit, was viele, die heute Russland ihren Rücken kehren, denken. Unsere Interviewpartner, der Regisseur Igor Titov und die Produzentin Svetlana Dolja, haben Russland im Herbst 2022, nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine, verlassen. In ihrer Regiearbeit setzen sie sich mit den Erfahrungen von Galič und anderen Emigrant*innen auseinander. Vor dem Hintergrund der aktuellen Verfolgung unabhängiger Theaterkünstler*innen in Russland ist ihr Stück, das auf Russisch – mit deutschen Untertiteln – aufgeführt wurde, eine der ersten Erscheinungen eines neuen russischen Emigrantentheaters in Europa.

Galič und wir

novinki: Wie sind Sie auf die Idee ihres Theaterstücks Uezžaete? Uezžajte! über Galič gekommen?

Igor Titov: Wir haben schon in Moskau das Theaterstück Das Recht auf Ruhe inszeniert, in dem wir uns mit Galič  beschäftigten. Und irgendwie hat mich dieses Thema nicht losgelassen. In der Moskauer Aufführung wurde der Ausschluss Galičs aus dem Schriftstellerverband im Jahre 1971 thematisiert. Das Thema wurde von unserem Meister, dem Theaterpädagogen, Regisseur und Schauspieler Dmitrij Brusnikin, der im Sommer 2018 verstarb, vorgeschlagen. Er war auch Leiter eines der brillantesten unabhängigen Theater Russlands für junge Menschen: Brusnikin’s Workshop. Als wir uns außerhalb Russlands wiederfanden, kehrten wir zu unseren alten Gedanken zurück. Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine haben viele Dinge an Wert verloren. Es war unklar, wie wir weitermachen sollen. Ich habe mich dafür entschieden, eine Geschichte zu machen, die mir sehr am Herzen lag. Galičs Texte stimmen mit meinen Gefühlen überein, ich habe auch das Gefühl der Abhängigkeit vom Territorium und von der Sprache.

novinki: Es ist bekannt, dass Galič zunächst ein konformer Autor war, der Drehbücher für berühmte sowjetische Filme schrieb und für einen dieser Filme sogar eine Auszeichnung vom Komitee für Staatssicherheit erhielt. Dann hat er sein Leben und seine Kreativität kritisch überdacht und wurde gezwungen, die Sowjetunion zu verlassen. Halten Sie diese Episode seiner Biografie für wichtig?

I.T.: Ja, sie ist sehr wichtig, wir sehen aber heute immer mehr Beispiele für eine gegenteilige Entwicklung. Wahrscheinlich jede*r zweite russische Künstler*in der ehemaligen Opposition, Dissidenz oder des Undergrounds ist inzwischen Mainstream geworden, hat den Zugang zu riesigen Budgets bekommen und ist leider heute für Putin. Was Galič betrifft, war er ein sehr christlicher Autor. Der Moment der Askese ist in der christlichen Philosophie wichtig. Ich glaube, dass nicht viele Menschen zu einer solchen Askese fähig sind, zum Verzicht auf Güter, auf ein bequemes Leben.

Über das Stück

novinki: Im ersten Teil Ihres Stücks geht es um Galičs letzten Tag in der Sowjetunion, an dem er von seinen engen Freunden ins Ausland verabschiedet wird. Der zweite Teil ist völlig anders strukturiert: Es gibt keine eigenständigen Figuren, stattdessen werden Aussagen verschiedener Philosophen, Schriftsteller und Musiker über Russland vorgelesen. Was können Sie über das Format des zweiten Teils der Aufführung sagen?

Szene der Aufführung, Foto: Maria Dobrygina.

I.T.: Der zweite Teil besteht aus Gedanken berühmter Denker sowie aus Liedern von Galič, die in akustischer Form neu interpretiert werden. Es handelt sich also eher um eine auditive als um eine visuelle Installation.

novinki: Warum haben Sie Texte von genau diesen Autoren ausgewählt: dem sowjetischen Prosaiker Viktor Astafʼev, dem Autor von Lagerprosa Varlam Šalamov, dem pro-westlichen Philosophen aus dem 19. Jahrhundert Piotr Čaadaev, dem Punkrock-Musiker Egor Letov?

I.T.: Das sind Namen, die wir in unseren Koffern mit uns herumtragen. Ihre Gedanken kommen uns auf die eine oder andere Weise in den Sinn, besonders in Zeiten der Apathie und Traurigkeit. Unser Dramaturg, Andrej Stadnikov, hat sie zusammengetragen. Manchen Gedanken fühle ich mich sehr eng verbunden. Sie leben in mir wie ein Code der Sprache und des Denkens.

novinki: Ihr erstes Stück über Galič basiert auf einem Transkript der Sitzung des sowjetischen Schriftstellerverbandes , bei der er aus dem Verband ausgeschlossen wurde. Welches Material haben Sie für das aktuelle Stück genutzt?

I.T.: Es gibt eine großartige Biografie über Galič von Michail Aronov. Unser Dramaturg hat sich aber mit allen möglichen Quellen und Memoiren beschäftigt. Der erste Teil des Stücks ist eine Fantasie zum Thema „Galič Abreise“, wobei die Erinnerungen von Augenzeugen als Grundlage dienen. Und der zweite Teil ist eine Collage u.a. aus Interviews und Vorträgen.

novinki: Erzählen Sie uns auch bitte etwas über die Musik im Stück. Wie haben Sie die Kompositionen ausgewählt? Wie entschieden, wer wann singt? Denn im Stück sind stellenweise Originaltonaufnahmen von Galičs Stimme zu hören, während die meiste Zeit Igor Titov Galičs Stücke neu interpretiert.

I.T.: Als wir das erste Stück über Galič machten, Das Recht auf Ruhe, schufen wir auch ein Musikalbum mit dem gleichen Namen. Wir wollten Galičs gesungene Lyrik elektronisch neu interpretieren, in einer Indie-Pop-Tonart. Im jetzigen Stück kann man Galičs eigene Stimme stellenweise quasi „im Original“ hören. Aber es ist für mich schwierig, ausschließlich Galičs authentische Stimme wahrzunehmen. Galičs Poesie ist super, ich wollte sie musikalisch jedoch ein bisschen an die Gegenwart anpassen.

Svetlana Dolja: Ja, du hast die Lieder wirklich cool gesungen!

Das Bühnenbild. Szene der Aufführung, Foto: Maria Dobrygina.

novinki: Vor dem Krieg hatten russische Theater die Möglichkeit, außerhalb Russlands, zum Beispiel in Berlin und Paris, aufzutreten. Darunter waren auch Stücke in russischer Sprache, die sehr gut angenommen wurden. Welche Relevanz haben russischsprachige Produktionen in Europa heute?

S.D.: Darüber reden wird in Theaterkreisen die ganze Zeit. Wenn wir über die Gegenwart sprechen, gibt es meiner Meinung nach zwei Wege. Es gibt Regisseure, die in Europa weiterhin Stücke in russischer Sprache aufführen und sich dabei auf das Publikum der Emigranten konzentrieren. Es gibt jetzt viele solcher Zuschauer*innen, so sind Produktionen in russischer Sprache sehr gefragt. Aus meiner Sicht ist es aber richtiger, Stücke in der Sprache des Landes zu produzieren, wo sie aufgeführt werden, oder in zwei Sprachen. Ich plane zwei Produktionen für die nahe Zukunft, die gleichzeitig auf Russisch und Deutsch aufgeführt werden sollen. Die Schauspieler*innen werden zwei Textversionen lernen oder es wird russischsprachige und deutschsprachige Theatertruppen geben. Abgesehen davon sehe ich kein Problem mit der russischen Sprache, ich bin noch nicht auf ‚cancelling‘ gestoßen. Bei der Premiere von Uezžaete? Uezžajte waren ziemlich viele Deutsche da, denn es gibt Untertitel auf Deutsch und man kann sich das Stück problemlos anschauen.

Über das Theaterpublikum

novinki: Sie haben gesagt, dass sich jetzt ein Publikum gebildet hat, das aus Menschen besteht, die vor kurzem Russland verlassen haben. Glauben Sie, dass es realistisch ist, hier auch ein vergleichbares nicht russisches Publikum, das an Aufführungen des russischen Theaters interessiert ist, zu haben?

S.D.: Das wird die Zeit zeigen. Viele meiner Kolleg*innen versuchen jetzt, ein solches Publikum anzuziehen. Wir müssen gut sichtbar sein, damit diejenigen, die Russland nach dem 24. Februar 2022 verlassen haben, uns sehen können. Es scheint mir, dass wir es so tun müssen, wie es Sergej Diaghilev getan hat, der Leiter der Ballets Russes im frühen 20. Jahrhundert war und die russische Kunst im Ausland förderte. Er zog russischsprachige Leute in allen Ländern an, in die er reiste, aber das genuine Publikum des Landes war ihm genauso wichtig. Allerdings hat das Ballett es in dieser Hinsicht einfacher als das dramatische Theater.

Szene der Aufführung, Foto: Maria Dobrygina.

novinki: Heute hält ein großer Zustrom von Künstler*innen aus Russland in Europa an, insbesondere in Berlin. Glauben Sie nicht, dass es für kreative Menschen schwierig sein wird, miteinander zu konkurrieren und ein russischsprachiges Publikum zu teilen, das zwar groß, aber nicht unendlich ist?

S.D.: In welchem Sinne teilen?

I.T.: Wie eine Orange teilen? Jetzt sind die Gesetze des Marktes da.

S.D.: Manche entscheiden sich dafür, zu einem Treffen mit Leonid Parfenov zu gehen, und manche zu einem Konzert von Valerij Meladze. Es scheint mir, dass sich ein großer Teil des russischsprachigen Publikums, das Russland verlassen hat, an den täglichen Besuch von kulturellen Veranstaltungen gewöhnt hat. Und ich denke, dass eine solche Konzentration an kreativen Kräften gut ist. Es ist gut, dass es Konkurrenz gibt. Auf der anderen Seite teilen wir zum Beispiel einen Tontechniker oder einen Lichttechniker mit anderen Teams. Es sind zwar viele Leute gekommen, aber nicht genug, um gleichzeitig Aufführungen von verschiedenen Truppen zu veranstalten. Und wenn wir über die Zuschauer*innen sprechen, dann entscheiden sie selbst, was ihnen Spaß macht.

novinki: Sie inszenieren ein Stück über Galič, der wegen seiner politischen Haltung aus dem Land vertrieben wurde. Glauben Sie nicht, dass eine solche spezifische Migrantenproblematik nur für Menschen aus Russland interessant ist?

S.D.: Ich habe eine gute Antwort auf diese Frage. Nach der Aufführung kamen ein paar Deutsche zu mir und sagten, dass es für sie sehr interessant war, genau das zu hören und zu sehen. Sie wussten nicht oder erinnerten sich nicht an die russische Emigration der 1970er Jahre und an die Dissidenten. Sie dachten, dass wir nach der Revolution von 1917 und der „weißen Emigration“ die nächsten waren. Wie ich schon sagte, haben viele Regisseure auch vorher an europäischen Theatern Aufführungen in deutscher oder englischer Sprache inszeniert und sie machen es weiter – Timofej Kuljabin, Kirill Serebrennikov, Filip Grigorjan, Maksim Didenko und andere. Und Igor möchte hier eine Clownerie aufmachen.

Szene der Aufführung, Foto: Maria Dobrygina.

I.T.: Ja, ich möchte nach neuen Wegen suchen. Ich singe auch Lieder, ich möchte Antikriegstheater machen. Das heißt, das Stück über Galič ist nur eines meiner Projekte.

novinki: Lassen Sie uns zur kommerziellen Seite kommen. Als Sie die Aufführungen in Moskau inszenierten, hatten Sie sicherlich Sponsoren. Wie schwierig ist es hier, ein Theaterstück zu inszenieren? Zahlt sich das aus?

S.D.: In Moskau war ich eine unabhängige Produzentin, ich hatte kein staatliches Budget, ich arbeitete nur mit dem Geld privater Sponsoren und mit den Budgets von kommerziellen Projekten. In Deutschland möchte ich aber lernen, wie man mit Stiftungen und auch staatlichen Förderern zusammenarbeiten kann. Und wenn wir darüber sprechen, wie sich die Aufführung eines Theaterstücks durch den Verkauf von Tickets auszahlt… Es ist schwer, die Kosten für die Honorare der Künstler*innen zu decken, die Miete zu übernehmen, wenn man nicht in einem Theater, sondern an einem unabhängigen Veranstaltungsort eine Aufführung inszeniert. Auch in Moskau ist es schwierig, nicht an ein etabliertes Theater angegliedert zu sein, das Tickets einfach mit seinem Namen verkauft. Aber alles ist möglich, wenn man sich Mühe gibt.

Über Putins Regime und Theater

novinki: Jetzt nehmen die Repressionen gegenüber dem Theatermilieu durch die russische Regierung zu, viele Regisseur*innen werden aus Theatern entlassen. Warum wird das Theater so stark vom Putin-Regime verfolgt? Das Theater spricht meist mit einer allegorischen Sprache und nicht mit direkten Antikriegsrufen zu den Menschen.

S.D.: Zuerst wurde die Presse verfolgt und zerschlagen, die widersprochen hat. Und dann blieb das Theater fast der einzige Ort, um die Menschen jenseits der Propaganda zu erreichen, auch wenn es nur ein kleines Publikum war. Das Theater, besonders das moderne Theater, ist verpflichtet, die Ereignisse zu analysieren, die Realität zu hinterfragen und so frei wie möglich zu reflektieren. Jetzt versuchen die Machthabenden das Theater zu zwingen, die Politik nicht zu ‚stören‘ und sich ausschließlich der Unterhaltung, dem Entertainment zuzuwenden.

 

Das Interview wurde im Juni 2023 in Berlin geführt.

Informationen zu einer aktuellen Theaterproduktion unserer Gesprächspartner*innen:

Im Februar 2024 fand die Uraufführung von Maksim Didenkos Theaterstück Krematorium, das auf dem gleichnamigen Roman von Sascha Filipenko basiert, in Berlin statt. Auch dieses Stück ist auf Russisch mit deutschen Untertiteln. Weitere Aufführungen sind zu erwarten, denn die Rechte für eine deutsche Fassung sind bereits an eine andere Institution verkauft worden, teilt die Produzentin Svetlana Dolja mit. Igor Titov wird in der Rolle eines NKWD-Ermittlers zu sehen sein.

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