Der nur scheinbar naive Blick

„Viele sprechen von der großen Rakete ohne ,Schwanz‘. Man sagt, dort, wo sie liegt, ist die Strahlung erhöht! […] Die Leute fahren zum Markt, um die Todesrakete zu sehen. Ich bitte meine Mutter: ,Überrede die Nachbarn, mich dorthin mitzunehmen! Ich will wissen, wie das schreckliche Ding aussieht, das mir so viel Schmerz gebracht hat.‘ Von russischer Seite wird der Beschuss des Marktes nicht kommentiert. Aber die Tschetschenen haben keine so großen Raketen. Diejenigen, die in der Nähe der Rakete waren, soll es in Stücke gerissen haben. Die Angehörigen können sie nur noch anhand von Details identifizieren: Knöpfe, Haarspangen und Kleidungsfetzen.“ (Žerebcova, 2011, S.27, eigene Übersetzung)

 

Das Tagebuch der Polina Žerebcova (Dnevnik Žerebcovoj Poliny, Moskau: Detektiv Press, 2011), in dem die Autorin ihre Jugend während des zweiten Tschetschenienkrieges beschreibt, ist in Russland in einer überschaubaren Auflage von 2000 Exemplaren erschienen. Bisher existiert lediglich eine Übersetzung ins Französische. Dennoch hat das Buch in den unabhängigen Medien in und außerhalb von Russland einige Aufmerksamkeit erregt und ist, nachdem zunächst an seiner Echtheit gezweifelt wurde, zu einer Art Geheimtipp geworden. Vor Kurzem ist ein weiterer, noch umfassenderer Teil des Tagebuchs unter dem Titel „Ameise im Glas“ (Muravej v stekljannoj banke, Moskau: Corpus, 2014) erschienen.

 

Žerebcova, die mit einem Thema an die Öffentlichkeit drängte, das „der Macht“, wie es auf Russisch so schön heißt, unbequem ist, lebt inzwischen in Finnland im Exil. Die Verfasserin sagt in Interviews mit französisch- und englischsprachigen Medien, dass es ihr Ziel war, Zeugnis abzulegen und von einem Krieg zu berichten, über den allzu lange geschwiegen wurde. Sie will mit ihrem Buch aufrütteln; aufzeigen, wie die russischen Machthaber durch ihre Entscheidungen unzählige Menschenleben zerstört haben. Sie sieht den Krieg nicht als eine Auseinandersetzung zwischen Völkern, sondern zwischen kriminellen Gruppierungen, die ihre Interessen gewaltsam durchsetzen wollen auf der einen und der schutzlosen Zivilbevölkerung auf der anderen Seite.

 

Im Tagebuch, das die 1985 in Grozny geborene Žerebcova als Jugendliche von 1999-2002 führte, wird schonungslos die Zerstörung der Stadt und die Verrohung der Menschen beschrieben. Ereignisse, Orte und Namen werden benannt und „für die Nachwelt“ festgehalten. Žerebcova dokumentiert, wie sämtliche Sicherheiten ausgehebelt werden. Zerstörte Gebäude, Krankenhäuser ohne Strom, Bomben, die in Bussen explodieren, Hunger – das sind die Dinge, die ihren Alltag bestimmen. Es wird gestohlen, getötet, sich gegenseitig beschuldigt und verleumdet. Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen Krieg und Nicht-Krieg. Es scheint in einer Endlosschleife immer so weiterzugehen, ohne Hoffnung auf eine Verbesserung der Lage.
Polina gehört einer Generation an, die im Krieg aufgewachsen ist und kaum etwas anderes kennt als den Ausnahmezustand. Dennoch scheint die Tagebuchschreiberin manchmal von ihrer Tätigkeit als Chronistin sich unaufhörlich wiederholender Schreckensereignisse erschöpft zu sein. An manchen Tagen notiert sie nur lapidar, dass wieder grauenhafte Dinge passiert seien, sie aber keine Lust habe, darüber zu schreiben. Die Welt, in der Polina lebt, wird immer wieder aufs Neue in Stücke gerissen und in Frage gestellt. Was übrig bleibt, sind im wahrsten Sinne des Wortes Fetzen, sodass selbst die Angehörigen ihre Toten oftmals nicht mehr identifizieren können.

 

Der Lebenswelt Polinas entspricht ihre fragmentarische Schreibweise. Auch ihr Text ist aus vielen kleinen „Fetzen“ zusammengesetzt. In die stichwortartig-nüchterne „Chronik“ mischen sich altkluges Philosophieren, kindlich-naives Staunen und schwülstige lyrische Gehversuche. Die Tagebuchschreiberin beklagt immer wieder, keine „richtige“ Schriftstellerin und nicht imstande zu sein, das Erlebte in eine Romanhandlung zu verwandeln. Doch es ist gerade ihr ungeübt wirkender Stil, der den Eindruck von Authentizität erweckt und einen beim Lesen in seinen Bann zieht. Anmerkungen wie „weiter sind die Aufzeichnungen unlesbar“ sowie der Umschlag und die Fotos vom handschriftlichen, krakelig-verschmierten Originalmanuskript in der Mitte des Buches tragen ebenfalls dazu bei.

 

Der unschuldig-naive Blick und der Außenseiterstatus Polinas innerhalb der tschetschenischen Gesellschaft scheinen sie zur idealen Beobachterin zu machen: Sie ist einsam, denn sie fühlt sich weder als Russin noch als Tschetschenin, obwohl sie in Grozny aufgewachsen ist, Kopftuch trägt und sich mit islamischen Feiertagen auskennt. Im Gegensatz zu ihren Altersgenoss/innen in anderen Regionen weiß Žerebcova nichts von aktueller Popmusik und Sitcoms, von Internet und Turbokapitalismus, sondern führt mit Füller und Papier ein Tagebuch zu Kriegszeiten. Sie liest vorwiegend russischsprachige Literatur aus dem 19. und 20. Jahrhundert und hört sowjetische Musik von Viktor Coj und Bulat Okudžava. Aber erstaunlicherweise auch den in Russland wegen extremistischer Texte verbotenen tschetschenischen Barden Timur Mucuraev – eine der vielen kleinen Widersprüchlichkeiten, die sich durch das Tagebuch ziehen und Polinas „Dazwischenstehen“ eindringlich illustrieren.

 

Immer wieder fragt Polina: Warum? Warum beschießen die aus Panzern unser Haus? Warum wird der Marktplatz, auf dem wir versuchen, unseren Lebensunterhalt zu verdienen, aus der Luft bombardiert? Doch es ist nur scheinbar lediglich der naive Blick einer Heranwachsenden, die ihre intimen Sorgen und Nöte einem privaten Tagebuch anvertraut. Es ist nicht der erste Krieg, den Polina miterleben muss und auch ihr Tagebuch ist nicht als rein private Sammlung von Aufzeichnungen zu verstehen, auch wenn die fragmentarische Form und der ungelenke Stil dies vermuten lassen. Polina Žerebcova verfolgt ein Ziel: Sie will publiziert werden. Sie will sich das Schreckliche, was sie erlebt, nicht nur „von der Seele schreiben“, sondern sie möchte Zeugin sein. Die Tagebuchschreiberin weiß um die Wirkung, die das Geschriebene haben kann, obwohl es ihren eigenen schriftstellerischen Ansprüchen nicht genügt. Sie glaubt, dass ihr Text ein Dokument ist und dass ihre Stimme eine Stimme ist, die ein Gegengewicht zur offiziellen Berichterstattung über den Krieg sein kann, den sie miterlebt hat. Diese Spannung zwischen der Form eines privaten Tagebuchs und einer durchaus expliziten Adressierung an die Öffentlichkeit zieht sich durch den gesamten Text – es ist nicht immer eindeutig bestimmbar, ob wir es mit der ,privaten‘ Polina zu tun haben, die unglücklich verliebt ist und Granatsplitter im Bein hat, oder mit Polina in ihrer selbstgewählten Rolle als Chronistin und Zeugin. Letztere tritt in den Vordergrund, wenn Polina Žerebcova etwa die Situation der Menschen in Grozny mit der Belagerung Leningrads und den nationalsozialistischen Konzentrationslagern vergleicht, worüber sie Zeitzeugenberichte gelesen hat, die ihr als Vorbild dienen.

 

Und obwohl es sich um einen dokumentarischen Text handelt, eröffnet er zusätzlich noch eine ganz andere, unerwartete, mystisch-phantastische Dimension, die sich erst nach und nach entfaltet. Polina begnügt sich nicht mit der Auflistung von Fakten und Gerüchten, die den Krieg betreffen, sondern deutet Träume, sucht nach Zeichen und kultiviert eine seltsam anmutende Gegenwelt, die mit weisen Yogis, russischen Dichter/innen vergangener Epochen und sanften Außerirdischen bevölkert ist. Eine vergeistigte Welt, in der es weder bewaffnete Konflikte noch ethnische Zugehörigkeiten gibt. Diese Welt stellt für sie die einzige Alternative zur vom Krieg zerstörten Heimat und zum unbekannten und unerreichbaren Russland dar.

 

Žerebcova, Polina: Dnevnik Žerebcovoj Poliny. Moskau: Detektiv-Press, 2011.
Jerebtsova, Polina: Le Journal de Polina. Paris: Books Editions, 2013.
Žerebcova, Polina: Muravej v stekljannoj banke. Čečenskie dnevniki 1994–2004. Moskau: Corpus, 2014.

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