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Bulgarischer Mafiathriller als globale Konsumkritik. Vasil Georgievs Aparat

Posted on 17. Februar 2014 by Henrike Schmidt
Ausgerechnet Bulgarien wird in Vasil Georgievs "Aparat"zum Schauplatz des globalen Widerstands gegen die Wachstumsideologie. Der Roman ist ein Gattungsexperiment mit starker phantastischer Komponente – und dennoch überraschend ernst gemeint.

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Der Sofioter Schriftsteller Vasil Georgiev (geb. 1975) imaginiert Bulgarien als Schauplatz des globalen Widerstandes gegen die Wachstumsideologie. In seinem Roman Aparat stehen sich zwei mächtige Organisationen auf dem Kampfplatz der zeitgenössischen Konsum-Kultur gegenüber: das Kartell der Kaufhaus-Ketten, euphemistisch auch „Die Übereinkunft“ genannt, und die Vereinigung der kritischen Konsumenten und Enthaltsamen namens „Harmonie“. Sie kämpfen nicht nur um die Aufmerksamkeit der Menschen in der schönen neuen Welt der Werbung, sondern gleich um ihr Herz und ihre Seele.

 

Warum ausgerechnet Bulgarien, das in der öffentlichen Wahrnehmung gemeinhin als das ärmste Land der Europäischen Union gilt und von Georgievs Schriftstellerkollegen Georgi Gospodinov in dessen Roman Physik der Schwermut sogar zum „traurigsten Ort der Welt“ gekürt wurde, Schauplatz einer Auseinandersetzung derart globalen Charakters sein sollte, liegt zunächst nicht auf der Hand. Dennoch entwickelt sich in Vasil Georgievs literarischer Vision gerade hier die antikonsumistische Bewegung zu einer Massenorganisation, die mit ihren Zehntausenden Mit­gliedern eine bedeutende Marktmacht darstellt. Die Antwort auf die Frage, warum gerade das arme Bulgarien zum Mittelpunkt des weltweiten Ringens um eine neue, und das heißt, bessere, weil ökologische und nachhaltige Weltordnung gerät, begründet die Erzählerstimme im Roman selbst folgendermaßen: „Die einfachste Erklärung dieses Phänomens ist der Umstand, dass in Bulgarien besonders viele gebildete Menschen unter Bedingungen ökonomischer Verelendung leben“ (S. 51, übersetzt von Henrike Schmidt).

 

Vasil Georgiev legt mit Aparat seinen ersten und lang erwarteten Roman vor. Bisher war der Autor höchst erfolgreich als Verfasser von Kurzgeschichten in Erscheinung getreten. In den insgesamt drei Bänden, die er bisher publiziert hat, verschmilzt er städtische Popkultur mit phantastischen Sujets und Sozialkritik mit Trivial-Erotik (Budistski pljaž / Buddhistischer Strand, 2008; Uličnik / Straßenjunge, 2010, Degrad, 2011). Der ausgebildete Anwalt wird dem Kreis der sogenannten „Schnellen Literatur“ (bărza literatura) zugerechnet, die sich durch zeitgenössische Sujets mit starkem Pop- und Trash-Faktor auszeichnet und von der bulgarischen Literaturkritik zumeist eher negativ besprochen wird. Für seinen Erzählband mit dem wortspielerischen Titel Degrad, der auf sozialen Abstieg („Degradation“) wie auch auf die zeitgenössische Urban-Kultur (bulg. „grad“ = Stadt) verweist, erhielt Georgiev jedoch im Jahr 2011 den renommierten Helikon-Literaturpreis. Georgiev bleibt sich auch in der für ihn neuen Gattung des Romans treu und praktiziert einen rasanten Stilmix und Gattungscrossover. Was recht nüchtern als sozialkritische Anti-Utopie beginnt, entwickelt sich im Verlauf der Erzählung zum rasanten Thriller mit einem hohen Anteil an mafiösem Blutvergießen.

 

Aparat beruht im Wesentlichen auf folgenden Handlungssträngen: Die antikonsumistische Bewegung „Harmonie“ unter der Führung ihres „Gurus“ Arleks Polichronov fordert angesichts der globalen und lokalen Finanzkrise die existierenden ökonomischen und politischen Institutionen heraus. Sie beschäftigt eine mobile Truppe von Graffiti-Künstlern, welche die überdimensionalen Werbetafeln an der Autobahn „debrandet“. Sie organisiert alternative Flohmärkte und Weihnachtsbasare, setzt dabei auf Recycling und Nachhaltigkeit. Und sie entwickelt ein auf Gütertausch basierendes autarkes Wirtschaftssystem, das parallel zur kapitalbasierten Wirtschaft der Kartelle und Monopole funktionieren soll. Geplant ist sogar die Einführung einer eigenen Währung. Im Zentrum der Bewegung steht jedoch nicht nur der Aufbau einer alternativen Ökonomie, sondern die Entwicklung eines neuen Bewusstseins, das Konsumverzicht und Minimalismus als rationale Entscheidungen erfahrbar macht und die Menschen von ihren konsumistischen Verirrungen befreit. Mittel und Mythos dieser Bewusstseinsverwandlung ist im Roman der Titel gebende „Apparat“, bei dem es sich um einen Elektroenzephalographen handelt, der die elektrischen Aktivitäten des Gehirns aufzeichnet. Ursprünglich ein Verfahren der Neurologie und eingesetzt zu Zwecken der medizinischen Diagnostik wird der Apparat bei Georgiev in den Bereich der neurologisch basierten Marktforschung übertragen. Die neuesten Techniken der Hirnforschung sollen dabei helfen, die Konsumwünsche der Käufer auf der Ebene des Unterbewussten zu erforschen und zu manipulieren. Der antikonsumistisch ausgerichtete Neuromarketingfachmann mit dem pseudowissenschaftlichen Nachnamen Polichronov dreht im Roman den Apparat in seiner Funktionsweise einfach um: Er soll nun nicht länger dazu dienen, die verborgenen Kauflüste der Menschen zu diagnostizieren, sondern ihnen ihre eigentlichen Bedürfnisse jenseits der Manipulation durch Reklame zu offenbaren. Georgiev wendet das terminologische Repertoire der Minimalisten und ihrer Wachstumskritik in so formelhaft-exzessiver Weise an, dass es gelegentlich an eine Parodie grenzt. Und in der Tat weisen die „Harmonie“ und ihr Führer Arleks Polichronov durchaus sektenartige Züge auf, wodurch die Auseinandersetzung mit dem Thema eine Ambivalenz jenseits von einfachen Gut- und Böse-Zuschreibungen erhält.

 

Gegenspieler der „Harmonie“ ist das bereits erwähnte Kartell der „Übereinkunft“, in dessen Mittelpunkt der korrupte Bürgermeister der bulgarischen Hauptstadt Pavel Banev steht. Dieser regiert weniger durch das Parlament und die Politik, als vielmehr durch die Kontrolle der mafiös durchsetzten Wirtschaft.

 

Hier offenbart sich der deutliche zeitgeschichtliche Bezug des Romans. Die Verknüpfungen zwischen Politik und krimineller Schattenwirtschaft sind eines der Grundprobleme im Bulgarien der Nachwendezeit und riefen die zahlreichen zivilgesellschaftlichen Proteste des Jahres 2013 hervor. Die Verflechtung der postsozialistischen ökonomischen und politischen Eliten mit den Strukturen des sozialistischen Sicherheitsapparats hat der Schriftsteller Ilija Trojanow in seinem 1999 erschienenen Buch Hundezeiten. Heimkehr in ein fremdes Land bzw. in dessen überarbeiteter Fassung Die fingierte Revolution. Bulgarien, eine exemplarische Geschichte (2006) essayistisch konstatiert. Gleichzeitig motiviert das Mafia-Motiv den Plot des Romans, der sich im Kern um ein kriminalistisches Sujet rankt. Der Held dieses Handlungsstrangs ist der Hipster Emil, seines Zeichens staatlich geprüfter Warentester, mit einer kuriosen Spezialisierung im Bereich von Plüschtieren, deren Ungefährlichkeit er experimentell testet. Emil ist mit seiner bulgarischen Mittelklasse-Existenz mit bescheidenem, aber gesicherten Einkommen, Bar- und Diskothekbesuchen sowie – gelegentlich unmäßigem – Alkohol- und Drogenkonsum jedoch nicht zufrieden. So eignet er sich mittels einer komplizierten Offshore-Finanz-Transaktion illegal eine wertvolle Immobilie im Zentrum Sofias an – und kommt damit einem Mafia-Boss mit dem sprechenden Spitznamen „Palermo“ in die Quere.

 

Es folgen weitere Irrungen und Wirrungen, die der Held entsprechend des Krimi-Musters durchläuft. Darüber hinaus mischt der Autor dem Mafia-Thriller ein unkonventionelles Liebessujet bei, inklusive Gendercrossing, was sich originell ausnimmt, ist doch die Gender-Orientierung der bulgarischen zeitgenössischen Prosa gemeinhin eher traditionell auf heterosexuelle Liebesbeziehungen konzentriert. Weitere Ingredienzen des narrativen Mix sind phantastische Erscheinungen und groteske Realitätsverschiebungen. Aparat im Ganzen stellt damit seinerseits eine phantastische Mischung dar aus politischer Anti-Utopie und Science Fiction, Kriminalgeschichte und Liebesromanze, Fußnoten-Roman und urban gothic novel. Damit schreibt sich der Roman in eine aktuelle Tendenz der bulgarischen Literatur ein, die einen Hang zur zeitgenössischen städtischen Phantastik offenbart. Dazu zählen die frühen Erzählungen des Autors selbst, aber auch die Prosa-Texte von Todor P. Todorov (Vinagi nošta / Immer nachts) oder Radoslav Parušev (Presledvane / Verfolgung). Diese städtischen Schauermärchen können in gewisser Hinsicht als Reaktion auf die Absurdität der politischen Pseudo-Wende in Bulgarien gelesen werden.

 

Ungeachtet des Gattungsexperiments sowie der starken phantastischen Komponente ist Aparat ein überraschend ernst gemeinter Roman, wenn nicht mit einer Mission, so doch mit einer Forderung an den Leser, sein Leben und Konsumverhalten zu überdenken. Enzyklopädische Fußnoten mit Hintergrundwissen zur ökonomischen Theorie flankieren das in zahlreiche Ketten- und Schachtelsätze gefasste aufklärerische Projekt. So erscheint der Vergleich mit den sozialkritischen Romanen des 19. Jahrhunderts, den etwa der Literaturkritiker Bojko Penčev wagt, gar nicht so weit hergeholt – jedenfalls in intentionaler Hinsicht.

 

Erwähnenswert ist auch die paratextuelle Rahmung des Romans: Der Autor schreibt parallel zum Erscheinen seines Buchs einen Blog, in dem er das eigene Werk kontextualisiert. Hier erklärt er die zugrunde gelegten ökonomischen Theorien, mit weiterführenden Links. Er verbindet das eigene Schreiben direkt mit dem aktuellen politischen Kontext, wenn er etwa die politischen Theorien seines fiktionalen Marketing-Experten Polichronov auf die Neuwahlen des bulgarischen Parlaments bezieht. Angesichts des totalen Vertrauensverlusts der bulgarischen Wähler in das politische System erscheint der Ansatz, eine informelle Alternativ-Gesellschaft zu gründen, auf einmal als erstaunlich reale Perspektive. Die Parallelisierung von literarischem Text und kommentierendem Blog weist durchaus Potenzial in der Durchdringung von Fiktion und Lebensweltlichkeit auf. Allerdings kommt Georgiev im ganzen Jahr 2013 nur auf eine Handvoll Blogposts, von denen die meisten konkret eigenen Lesungen gewidmet sind. Und das mutet dann seinerseits stärker als Marketingmaßnahme an denn als ästhetisches Experiment. Noch andere Handlungselemente des Romans erobern den öffentlichen Raum. Das Buch wird nämlich über Nacht in einer Graffiti-Aktion auf den Straßen Sofias beworben. Virales Marketing, das an die innerfiktionalen Street Art-Aktivisten der „Harmonie“ erinnert.

 

Die Glaubwürdigkeit der eingangs skizzierten These vom „intelligent verarmten“ Bulgarien, das aus seiner prekären Lage ideologisch-ökologische Innovation generiert, mag strittig erscheinen. Sie wird nicht zuletzt unter den fiktionalen Personen selbst eifrig diskutiert. Ungeachtet dessen stellt sie eine originelle Alternative zum „Depressionsporno“ dar, der – so eine provokante These des Literaturwissenschaftlers David Williams – Armutsdarstellungen aus dem östlichen Europa üblicherweise kennzeichnet. Und zynischerweise auch als Marketinginstrument dieser Literatur etwa auf dem deutschen Buchmarkt dienen kann. In Vasil Georgievs Bulgarien, als dem schwächsten Glied der kapitalistischen Produktionskette innerhalb der EU, konzentrieren sich hingegen globale ökonomische Probleme und Effekte in hypertropher Form. Damit kann sich auch der deutsche, französische oder amerikanische Leser potenziell in die Problematik hineinversetzen, findet Anschluss- und Identifikationspunkte mit seiner eigenen Lebensrealität. Bulgarien, weiter gefasst das östliche Europa, ist damit nicht mehr das verarmt-exotische Andere, sondern stellt die Dilemmata der globalen Prekarität potenziert dar. Ein distanzierter voyeuristischer Blick von außen ist nicht länger möglich. Der Roman macht das ‚kleine‘ Bulgarien zu einem gleichberechtigten global player. Allein deswegen lohnt sich die Lektüre.

 

Georgiev, Vasil: Aparat. Sofia 2013.

 

Weiterführende Literatur und Links:
Georgiev, Vasil. Budistski pljaž. Plovdiv 2008.
Georgiev, Vasil. Uličnik. Sofia 2010.
Georgiev, Vasil. Degrad. Sofia 2011.
Gospodinov, Georgi: Fizika na tăgata. Plovdiv 2011.
Gospodinov, Georgi: Physik der Schwermut. Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann. Graz 2014.
Parušev, Radoslav: Presledvane. Plovdiv 2005.
Penčev, Bojko: „Golemite 10: Knigite na 2013 godina“ / „Die großen 10: Die Bücher des Jahres 2013“.  Kapital vom 13.12.2013.
Todorov, Todor P.: Vinagi nošta. Sofia 2012.
Trojanow, Ilija: Die fingierte Revolution. Bulgarien, eine exemplarische Geschichte. München 2006.
Trojanow, Ilija: Hundezeiten. Heimkehr in ein fremdes Land. München 1999.
Williams, David: „Kinda-hegemonic, kinda-subversive“: Ulrich Seidls Import/Export und die Geoästhetik (ost-)europäischer Tristesse“. In: Gölz, Christine / Kliems, Alfrun (Hg.): Spielplätze der Verweigerung? Gegenkulturen im östlichen Europa nach 1956. Köln/Wien 2014. Im Druck.

Bulgarischer Mafiathriller als globale Konsumkritik. Vasil Georgievs Aparat - novinki
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Bul­ga­ri­scher Mafi­ath­riller als glo­bale Kon­sum­kritik. Vasil Geor­gievs Aparat

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Der Sofioter Schrift­steller Vasil Geor­giev (geb. 1975) ima­gi­niert Bul­ga­rien als Schau­platz des glo­balen Wider­standes gegen die Wachs­tums­ideo­logie. In seinem Roman Aparat stehen sich zwei mäch­tige Orga­ni­sa­tionen auf dem Kampf­platz der zeit­ge­nös­si­schen Konsum-Kultur gegen­über: das Kar­tell der Kauf­haus-Ketten, euphe­mis­tisch auch „Die Über­ein­kunft“ genannt, und die Ver­ei­ni­gung der kri­ti­schen Kon­su­menten und Ent­halt­samen namens „Har­monie“. Sie kämpfen nicht nur um die Auf­merk­sam­keit der Men­schen in der schönen neuen Welt der Wer­bung, son­dern gleich um ihr Herz und ihre Seele.

 

Warum aus­ge­rechnet Bul­ga­rien, das in der öffent­li­chen Wahr­neh­mung gemeinhin als das ärmste Land der Euro­päi­schen Union gilt und von Geor­gievs Schrift­stel­ler­kol­legen Georgi Gos­po­dinov in dessen Roman Physik der Schwermut sogar zum „trau­rigsten Ort der Welt“ gekürt wurde, Schau­platz einer Aus­ein­an­der­set­zung derart glo­balen Cha­rak­ters sein sollte, liegt zunächst nicht auf der Hand. Den­noch ent­wi­ckelt sich in Vasil Geor­gievs lite­ra­ri­scher Vision gerade hier die anti­kon­su­mis­ti­sche Bewe­gung zu einer Mas­sen­or­ga­ni­sa­tion, die mit ihren Zehn­tau­senden Mit­gliedern eine bedeu­tende Markt­macht dar­stellt. Die Ant­wort auf die Frage, warum gerade das arme Bul­ga­rien zum Mit­tel­punkt des welt­weiten Rin­gens um eine neue, und das heißt, bes­sere, weil öko­lo­gi­sche und nach­hal­tige Welt­ord­nung gerät, begründet die Erzäh­ler­stimme im Roman selbst fol­gen­der­maßen: „Die ein­fachste Erklä­rung dieses Phä­no­mens ist der Umstand, dass in Bul­ga­rien beson­ders viele gebil­dete Men­schen unter Bedin­gungen öko­no­mi­scher Ver­elen­dung leben“ (S. 51, über­setzt von Hen­rike Schmidt).

 

Vasil Geor­giev legt mit Aparat seinen ersten und lang erwar­teten Roman vor. Bisher war der Autor höchst erfolg­reich als Ver­fasser von Kurz­ge­schichten in Erschei­nung getreten. In den ins­ge­samt drei Bänden, die er bisher publi­ziert hat, ver­schmilzt er städ­ti­sche Pop­kultur mit phan­tas­ti­schen Sujets und Sozi­al­kritik mit Tri­vial-Erotik (Budistski pljaž / Bud­dhis­ti­scher Strand, 2008; Uličnik / Stra­ßen­junge, 2010, Degrad, 2011). Der aus­ge­bil­dete Anwalt wird dem Kreis der soge­nannten „Schnellen Lite­ratur“ (bărza lite­ra­tura) zuge­rechnet, die sich durch zeit­ge­nös­si­sche Sujets mit starkem Pop- und Trash-Faktor aus­zeichnet und von der bul­ga­ri­schen Lite­ra­tur­kritik zumeist eher negativ bespro­chen wird. Für seinen Erzähl­band mit dem wort­spie­le­ri­schen Titel Degrad, der auf sozialen Abstieg („Degra­da­tion“) wie auch auf die zeit­ge­nös­si­sche Urban-Kultur (bulg. „grad“ = Stadt) ver­weist, erhielt Geor­giev jedoch im Jahr 2011 den renom­mierten Helikon-Lite­ra­tur­preis. Geor­giev bleibt sich auch in der für ihn neuen Gat­tung des Romans treu und prak­ti­ziert einen rasanten Stilmix und Gat­tungs­cross­over. Was recht nüch­tern als sozi­al­kri­ti­sche Anti-Utopie beginnt, ent­wi­ckelt sich im Ver­lauf der Erzäh­lung zum rasanten Thriller mit einem hohen Anteil an mafiösem Blutvergießen.

 

Aparat beruht im Wesent­li­chen auf fol­genden Hand­lungs­strängen: Die anti­kon­su­mis­ti­sche Bewe­gung „Har­monie“ unter der Füh­rung ihres „Gurus“ Arleks Poli­chronov for­dert ange­sichts der glo­balen und lokalen Finanz­krise die exis­tie­renden öko­no­mi­schen und poli­ti­schen Insti­tu­tionen heraus. Sie beschäf­tigt eine mobile Truppe von Graf­fiti-Künst­lern, welche die über­di­men­sio­nalen Wer­be­ta­feln an der Auto­bahn „debrandet“. Sie orga­ni­siert alter­na­tive Floh­märkte und Weih­nachts­ba­sare, setzt dabei auf Recy­cling und Nach­hal­tig­keit. Und sie ent­wi­ckelt ein auf Güter­tausch basie­rendes aut­arkes Wirt­schafts­system, das par­allel zur kapi­tal­ba­sierten Wirt­schaft der Kar­telle und Mono­pole funk­tio­nieren soll. Geplant ist sogar die Ein­füh­rung einer eigenen Wäh­rung. Im Zen­trum der Bewe­gung steht jedoch nicht nur der Aufbau einer alter­na­tiven Öko­nomie, son­dern die Ent­wick­lung eines neuen Bewusst­seins, das Kon­sum­ver­zicht und Mini­ma­lismus als ratio­nale Ent­schei­dungen erfahrbar macht und die Men­schen von ihren kon­su­mis­ti­schen Ver­ir­rungen befreit. Mittel und Mythos dieser Bewusst­seins­ver­wand­lung ist im Roman der Titel gebende „Apparat“, bei dem es sich um einen Elek­tro­en­ze­pha­logra­phen han­delt, der die elek­tri­schen Akti­vi­täten des Gehirns auf­zeichnet. Ursprüng­lich ein Ver­fahren der Neu­ro­logie und ein­ge­setzt zu Zwe­cken der medi­zi­ni­schen Dia­gnostik wird der Apparat bei Geor­giev in den Bereich der neu­ro­lo­gisch basierten Markt­for­schung über­tragen. Die neu­esten Tech­niken der Hirn­for­schung sollen dabei helfen, die Kon­sum­wün­sche der Käufer auf der Ebene des Unter­be­wussten zu erfor­schen und zu mani­pu­lieren. Der anti­kon­su­mis­tisch aus­ge­rich­tete Neu­ro­mar­ke­ting­fach­mann mit dem pseu­do­wis­sen­schaft­li­chen Nach­namen Poli­chronov dreht im Roman den Apparat in seiner Funk­ti­ons­weise ein­fach um: Er soll nun nicht länger dazu dienen, die ver­bor­genen Kau­f­lüste der Men­schen zu dia­gnos­ti­zieren, son­dern ihnen ihre eigent­li­chen Bedürf­nisse jen­seits der Mani­pu­la­tion durch Reklame zu offen­baren. Geor­giev wendet das ter­mi­no­lo­gi­sche Reper­toire der Mini­ma­listen und ihrer Wachs­tums­kritik in so for­mel­haft-exzes­siver Weise an, dass es gele­gent­lich an eine Par­odie grenzt. Und in der Tat weisen die „Har­monie“ und ihr Führer Arleks Poli­chronov durchaus sek­ten­ar­tige Züge auf, wodurch die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Thema eine Ambi­va­lenz jen­seits von ein­fa­chen Gut- und Böse-Zuschrei­bungen erhält.

 

Gegen­spieler der „Har­monie“ ist das bereits erwähnte Kar­tell der „Über­ein­kunft“, in dessen Mit­tel­punkt der kor­rupte Bür­ger­meister der bul­ga­ri­schen Haupt­stadt Pavel Banev steht. Dieser regiert weniger durch das Par­la­ment und die Politik, als viel­mehr durch die Kon­trolle der mafiös durch­setzten Wirtschaft.

 

Hier offen­bart sich der deut­liche zeit­ge­schicht­liche Bezug des Romans. Die Ver­knüp­fungen zwi­schen Politik und kri­mi­neller Schat­ten­wirt­schaft sind eines der Grund­pro­bleme im Bul­ga­rien der Nach­wen­de­zeit und riefen die zahl­rei­chen zivil­ge­sell­schaft­li­chen Pro­teste des Jahres 2013 hervor. Die Ver­flech­tung der post­so­zia­lis­ti­schen öko­no­mi­schen und poli­ti­schen Eliten mit den Struk­turen des sozia­lis­ti­schen Sicher­heits­ap­pa­rats hat der Schrift­steller Ilija Tro­janow in seinem 1999 erschie­nenen Buch Hun­de­zeiten. Heim­kehr in ein fremdes Land bzw. in dessen über­ar­bei­teter Fas­sung Die fin­gierte Revo­lu­tion. Bul­ga­rien, eine exem­pla­ri­sche Geschichte (2006) essay­is­tisch kon­sta­tiert. Gleich­zeitig moti­viert das Mafia-Motiv den Plot des Romans, der sich im Kern um ein kri­mi­na­lis­ti­sches Sujet rankt. Der Held dieses Hand­lungs­strangs ist der Hipster Emil, seines Zei­chens staat­lich geprüfter Waren­tester, mit einer kuriosen Spe­zia­li­sie­rung im Bereich von Plüsch­tieren, deren Unge­fähr­lich­keit er expe­ri­men­tell testet. Emil ist mit seiner bul­ga­ri­schen Mit­tel­klasse-Exis­tenz mit beschei­denem, aber gesi­cherten Ein­kommen, Bar- und Dis­ko­thek­be­su­chen sowie – gele­gent­lich unmä­ßigem – Alkohol- und Dro­gen­konsum jedoch nicht zufrieden. So eignet er sich mit­tels einer kom­pli­zierten Off­shore-Finanz-Trans­ak­tion illegal eine wert­volle Immo­bilie im Zen­trum Sofias an – und kommt damit einem Mafia-Boss mit dem spre­chenden Spitz­namen „Palermo“ in die Quere.

 

Es folgen wei­tere Irrungen und Wir­rungen, die der Held ent­spre­chend des Krimi-Mus­ters durch­läuft. Dar­über hinaus mischt der Autor dem Mafia-Thriller ein unkon­ven­tio­nelles Lie­bes­sujet bei, inklu­sive Gen­der­crossing, was sich ori­gi­nell aus­nimmt, ist doch die Gender-Ori­en­tie­rung der bul­ga­ri­schen zeit­ge­nös­si­schen Prosa gemeinhin eher tra­di­tio­nell auf hete­ro­se­xu­elle Lie­bes­be­zie­hungen kon­zen­triert. Wei­tere Ingre­di­enzen des nar­ra­tiven Mix sind phan­tas­ti­sche Erschei­nungen und gro­teske Rea­li­täts­ver­schie­bungen. Aparat im Ganzen stellt damit sei­ner­seits eine phan­tas­ti­sche Mischung dar aus poli­ti­scher Anti-Utopie und Sci­ence Fic­tion, Kri­mi­nal­ge­schichte und Lie­bes­ro­manze, Fuß­noten-Roman und urban gothic novel. Damit schreibt sich der Roman in eine aktu­elle Ten­denz der bul­ga­ri­schen Lite­ratur ein, die einen Hang zur zeit­ge­nös­si­schen städ­ti­schen Phan­tastik offen­bart. Dazu zählen die frühen Erzäh­lungen des Autors selbst, aber auch die Prosa-Texte von Todor P. Todorov (Vinagi nošta / Immer nachts) oder Rado­slav Parušev (Pres­led­vane / Ver­fol­gung). Diese städ­ti­schen Schau­er­mär­chen können in gewisser Hin­sicht als Reak­tion auf die Absur­dität der poli­ti­schen Pseudo-Wende in Bul­ga­rien gelesen werden.

 

Unge­achtet des Gat­tungs­expe­ri­ments sowie der starken phan­tas­ti­schen Kom­po­nente ist Aparat ein über­ra­schend ernst gemeinter Roman, wenn nicht mit einer Mis­sion, so doch mit einer For­de­rung an den Leser, sein Leben und Kon­sum­ver­halten zu über­denken. Enzy­klo­pä­di­sche Fuß­noten mit Hin­ter­grund­wissen zur öko­no­mi­schen Theorie flan­kieren das in zahl­reiche Ketten- und Schach­tel­sätze gefasste auf­klä­re­ri­sche Pro­jekt. So erscheint der Ver­gleich mit den sozi­al­kri­ti­schen Romanen des 19. Jahr­hun­derts, den etwa der Lite­ra­tur­kri­tiker Bojko Penčev wagt, gar nicht so weit her­ge­holt – jeden­falls in inten­tio­naler Hinsicht.

 

Erwäh­nens­wert ist auch die para­tex­tu­elle Rah­mung des Romans: Der Autor schreibt par­allel zum Erscheinen seines Buchs einen Blog, in dem er das eigene Werk kon­tex­tua­li­siert. Hier erklärt er die zugrunde gelegten öko­no­mi­schen Theo­rien, mit wei­ter­füh­renden Links. Er ver­bindet das eigene Schreiben direkt mit dem aktu­ellen poli­ti­schen Kon­text, wenn er etwa die poli­ti­schen Theo­rien seines fik­tio­nalen Mar­ke­ting-Experten Poli­chronov auf die Neu­wahlen des bul­ga­ri­schen Par­la­ments bezieht. Ange­sichts des totalen Ver­trau­ens­ver­lusts der bul­ga­ri­schen Wähler in das poli­ti­sche System erscheint der Ansatz, eine infor­melle Alter­nativ-Gesell­schaft zu gründen, auf einmal als erstaun­lich reale Per­spek­tive. Die Par­al­le­li­sie­rung von lite­ra­ri­schem Text und kom­men­tie­rendem Blog weist durchaus Poten­zial in der Durch­drin­gung von Fik­tion und Lebens­welt­lich­keit auf. Aller­dings kommt Geor­giev im ganzen Jahr 2013 nur auf eine Hand­voll Blog­posts, von denen die meisten kon­kret eigenen Lesungen gewidmet sind. Und das mutet dann sei­ner­seits stärker als Mar­ke­ting­maß­nahme an denn als ästhe­ti­sches Expe­ri­ment. Noch andere Hand­lungs­ele­mente des Romans erobern den öffent­li­chen Raum. Das Buch wird näm­lich über Nacht in einer Graf­fiti-Aktion auf den Straßen Sofias beworben. Virales Mar­ke­ting, das an die inner­fik­tio­nalen Street Art-Akti­visten der „Har­monie“ erinnert.

 

Die Glaub­wür­dig­keit der ein­gangs skiz­zierten These vom „intel­li­gent ver­armten“ Bul­ga­rien, das aus seiner pre­kären Lage ideo­lo­gisch-öko­lo­gi­sche Inno­va­tion gene­riert, mag strittig erscheinen. Sie wird nicht zuletzt unter den fik­tio­nalen Per­sonen selbst eifrig dis­ku­tiert. Unge­achtet dessen stellt sie eine ori­gi­nelle Alter­na­tive zum „Depres­si­onsporno“ dar, der – so eine pro­vo­kante These des Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­lers David Wil­liams – Armuts­dar­stel­lungen aus dem öst­li­chen Europa übli­cher­weise kenn­zeichnet. Und zyni­scher­weise auch als Mar­ke­ting­in­stru­ment dieser Lite­ratur etwa auf dem deut­schen Buch­markt dienen kann. In Vasil Geor­gievs Bul­ga­rien, als dem schwächsten Glied der kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­kette inner­halb der EU, kon­zen­trieren sich hin­gegen glo­bale öko­no­mi­sche Pro­bleme und Effekte in hyper­tro­pher Form. Damit kann sich auch der deut­sche, fran­zö­si­sche oder ame­ri­ka­ni­sche Leser poten­ziell in die Pro­ble­matik hin­ein­ver­setzen, findet Anschluss- und Iden­ti­fi­ka­ti­ons­punkte mit seiner eigenen Lebens­rea­lität. Bul­ga­rien, weiter gefasst das öst­liche Europa, ist damit nicht mehr das ver­armt-exo­ti­sche Andere, son­dern stellt die Dilem­mata der glo­balen Pre­ka­rität poten­ziert dar. Ein distan­zierter voy­eu­ris­ti­scher Blick von außen ist nicht länger mög­lich. Der Roman macht das ‚kleine‘ Bul­ga­rien zu einem gleich­be­rech­tigten global player. Allein des­wegen lohnt sich die Lektüre.

 

Geor­giev, Vasil: Aparat. Sofia 2013.

 

Wei­ter­füh­rende Lite­ratur und Links:
Geor­giev, Vasil. Budistski pljaž. Plovdiv 2008.
Geor­giev, Vasil. Uličnik. Sofia 2010.
Geor­giev, Vasil. Degrad. Sofia 2011.
Gos­po­dinov, Georgi: Fizika na tăgata. Plovdiv 2011.
Gos­po­dinov, Georgi: Physik der Schwermut. Aus dem Bul­ga­ri­schen von Alex­ander Sitz­mann. Graz 2014.
Parušev, Rado­slav: Pres­led­vane. Plovdiv 2005.
Penčev, Bojko: „Gole­mite 10: Kni­gite na 2013 godina“ / „Die großen 10: Die Bücher des Jahres 2013“.  Kapital vom 13.12.2013.
Todorov, Todor P.: Vinagi nošta. Sofia 2012.
Tro­janow, Ilija: Die fin­gierte Revo­lu­tion. Bul­ga­rien, eine exem­pla­ri­sche Geschichte. Mün­chen 2006.
Tro­janow, Ilija: Hun­de­zeiten. Heim­kehr in ein fremdes Land. Mün­chen 1999.
Wil­liams, David: „Kinda-hege­monic, kinda-sub­ver­sive“: Ulrich Seidls Import/Export und die Geo­äs­thetik (ost-)europäischer Tris­tesse“. In: Gölz, Chris­tine / Kliems, Alfrun (Hg.): Spiel­plätze der Ver­wei­ge­rung? Gegen­kul­turen im öst­li­chen Europa nach 1956. Köln/Wien 2014. Im Druck.