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Das Ende der schöpferischen Ermüdung?

Posted on 13. Mai 2009 by Aleksandra Sikora
Die Helden von "Senność" sind ungewöhnliche "Langschläfer", gefangen in ihrer eigenen Lethargie. Der neue Roman von Wojciech Kuczok erzählt über die Einsamkeit, aber auch über den Versuch, eigene Ängste zu überwinden und Lebenslust zu entwickeln.

Senność von Wojciech Kuczok

 

Die Helden von Senność sind unglückliche, einsame Männer und Frauen, die ihr Leben verschlafen: Adam ist ein frischgebackener Orthopäde, der sich von der Provinz und vom konservativen Elternhaus losreißen will. Seine Schläfrigkeit ist eine Art kindliche Ratlosigkeit gegenüber dem Vater, der versucht, das Leben seines Sohnes nach dem einfachen Dorfdekalog zu planen. Zu gut kann sich Adam noch an strenge väterliche Erziehungsmethoden erinnern und an die klaustrophobische Dunkelheit des „Nachdenkraums“. Róża wiederum, „die Frau großen Formats“, die Königin der schönen Gesichter auf riesengroßen Stadtpostern, war früher eine erfolgreiche Theaterschauspielerin. Ihre Schläfrigkeit ist real, sie leidet an Narkolepsie. Und Robert ist ein Schriftsteller, der sich in einer schöpferischen Krise befindet. Vom Erfolg seines letzten Romans niedergedrückt, fühlt er sich nicht imstande, weiter zu schreiben. Er ist davon überzeugt, dass man sein Buch überschätzte: „Alle, die sich schamlos für Roberts Roman begeisterten, sollten sich jetzt in der Pflicht fühlen, sein neues Buch zu unterschätzen. Sie sollten auf seinen misslungenen Roman warten.“

Auf den neuen Roman von Wojciech Kuczok haben die polnischen Leser vier Jahre lang mit großen Hoffnungen gewartet. In dieser Zeit beklagte der junge Autor aus Chorzów (Oberschlesien) mehrmals in Interviews, dass er unter einer schöpferischen Krise leide. 2003 erschien Kuczoks erster Roman Gnój (Dreckskerl), der den polnischen Nike-Literaturpreis bekam. Auf der Grundlage des Romans verfasste Kuczok ein Drehbuch zum Film Pręgi (Striemen) von Magdalena Piekorz, der 2004 den Hauptpreis des polnischen Filmfestivals in Gdynia erhielt. Inzwischen veröffentlichte er auch zwei Erzählbände Widmokrąg (Im Kreis der Gespenster) und Opowieści przebrane (Ausgewählte Erzählungen). Gleichzeitig setzte Kuczok die Zusammenarbeit mit Magdalena Piekorz fort und schrieb das Drehbuch zu ihrem zweiten Film, Senność (Schläfrigkeit), der im Oktober 2008 uraufgeführt wurde. Aus diesem Drehbuch entstand wiederum Kuczoks zweiter, gleichnamiger Roman. Die Ähnlichkeit von Robert, dem Schriftsteller im Roman, und dem Autor selbst ist hier nicht zu übersehen: Robert wird zum Sprachrohr seiner Gedanken. Kuczok als Romancier ist wieder aufgewacht und serviert uns seine Prosa zur Schläfrigkeit, die sich im ganzen Roman ausbreitet und die auch den Leser übermannt.

Die Handlung bilden drei Geschichten – von Adam, Róża und Robert –, die zunächst lose aneinandergereiht und zum Schluss auffallend künstlich miteinander verflochten werden.
Adam verliebt sich in einen hübschen Gassenjungen und Taschendieb, den er Schönling nennt. Eines Tages erscheint der verletzte Schönling nach einer Eskapade rein zufällig ausgerechnet in dem Krankenhaus, in dem Adam arbeitet. Und so beginnt zwischen den beiden ein leidenschaftliches Verhältnis. Adam huldigt dem Jüngling im Schönling und möchte den Mann aus ihm vertreiben. Die Schlussszene ist die Krönung des Kitschs: Die beiden Geliebten ziehen aufs Land, in die homophobe Provinz, und wohnen in einem Haus unweit von Adams Eltern. Der Vater schließt sich aus Protest im „Nachdenkraum“ ein und die Mutter bringt dem jungen Paar Butterbrote.
Róża wiederum hat einen karrieregeilen Geschäftsmann geheiratet: Ihr Leben verläuft zwischen Verzweiflung und Traum und sie schläft immer häufiger einfach ein. Sie, eine von Männern begehrte und erfolgreiche Künstlerin, wird vom eigenen Mann nicht geliebt. Für den Ehemann ist sie nur eine gute und nutzbringende Investition.
Und Robert? Er wurde „der populärste nicht schreibende Schriftsteller im Lande“, als er seine Frau heiratete. Gleichzeitig vermählte er sich mit seinen Schwiegereltern und lebt jetzt mit ihnen zusammen unter einem Dach. Die Familie lässt keinen Platz für individuelle Bedürfnisse und Träume. Das Familienleben mit der hypochondrischen Ehefrau, dem konservativen Schwiegervater und der Schwiegermutter als treuer Hörerin von Radio Maryja bewirkt, dass Robert immer tiefer in der Lethargie versinkt.

Zum Schluss kreuzen sich die Wege der Protagonisten: Aus der Erstarrung wird Robert durch die Nachricht über seine unheilbare Krankheit und durch seine Liebe zu Róża erweckt. Robert trifft Adam in seiner Arztpraxis, der als Orthopäde erstaunlicherweise auch ein Berater im Bereich der Onkologie ist. Ähnlich künstlich erscheint das Treffen von Robert und Róża. Der Erzähler inszeniert wie ein Filmregisseur ihre Begegnung und kommentiert sein Arrangement: „Warum soll ich nicht versuchen, diese beiden einsamen Menschen zusammenzubringen?“

Der neue Roman Kuczoks fällt – wie seine frühere Prosa – durch die Sprache auf, die in sich Eleganz und Ausschweifung verbindet und durch ausgefallene Neologismen und Wortspiele beeindruckt. Die Konflikte der Romanhelden erinnern aber an schematische und banale Telenovela-Szenarien. Die paradoxe Verbindung von Kuczoks lebendiger Sprache mit der kitschigen Handlung ruft einen komischen Effekt hervor. Die Protagonisten erscheinen als hölzerne Marionetten, deren Leben einem Tanz von Schlafwandlern ähnelt. Gleichzeitig verführt Kuczok mit der Vielfalt von Stimmen: mal subtil mit lyrischen Metaphern, mal suggestiv mit schlesischem Dialekt, dann wieder absurd mit Ausdrücken im Stil von Gombrowicz.

Kuczok verwickelt seine Helden in ein schnelles und einfaches Happy End. Dadurch scheint der Moment des Erwachens nicht real zu sein und den Helden wird der letzte Anschein von Authentizität genommen. Und noch einmal meldet sich selbstreflexiv der Erzähler dazu: „Was ist das für ein Telenovela-Tratsch und -Klatsch? Irgendein falscher Akkord schallt hier heraus.“ Ist Schläfrigkeit ein Roman über unser vom Kitsch der medialen Welt angestecktes Leben, in dem sich jede Geschichte in eine banale Erzählung, einer Telenovela ähnlich, verwandeln muss? Wenn ja, dann stellt der Schluss des Romans auch einen selbstironischen, bitteren Kommentar zum Wunsch nach dem Ende der schöpferischen Ermüdung dar.

 

Kuczok, Wojciech: Senność. Warszawa 2008.
Kuczok, Wojciech: Dreckskerl. Frankfurt am Main, 2007.
Kuczok, Wojciech: Im Kreis der Gespenster. Frankfurt am Main, 2006.
Kuczok, Wojciech: Opowieści przebrane. Warszawa 2005.
Kuczok, Wojciech: Widmokrąg. Warszawa 2004.
Kuczok, Wojciech: Gnój. Warszawa 2003.

Das Ende der schöpferischen Ermüdung? - novinki
Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Das Ende der schöp­fe­ri­schen Ermüdung?

Sen­ność von Wojciech Kuczok

 

Die Helden von Sen­ność sind unglück­liche, ein­same Männer und Frauen, die ihr Leben ver­schlafen: Adam ist ein frisch­ge­ba­ckener Ortho­päde, der sich von der Pro­vinz und vom kon­ser­va­tiven Eltern­haus los­reißen will. Seine Schläf­rig­keit ist eine Art kind­liche Rat­lo­sig­keit gegen­über dem Vater, der ver­sucht, das Leben seines Sohnes nach dem ein­fa­chen Dorf­de­kalog zu planen. Zu gut kann sich Adam noch an strenge väter­liche Erzie­hungs­me­thoden erin­nern und an die klaus­tro­pho­bi­sche Dun­kel­heit des „Nach­denk­raums“. Róża wie­derum, „die Frau großen For­mats“, die Königin der schönen Gesichter auf rie­sen­großen Stadt­pos­tern, war früher eine erfolg­reiche Thea­ter­schau­spie­lerin. Ihre Schläf­rig­keit ist real, sie leidet an Nar­ko­lepsie. Und Robert ist ein Schrift­steller, der sich in einer schöp­fe­ri­schen Krise befindet. Vom Erfolg seines letzten Romans nie­der­ge­drückt, fühlt er sich nicht imstande, weiter zu schreiben. Er ist davon über­zeugt, dass man sein Buch über­schätzte: „Alle, die sich schamlos für Roberts Roman begeis­terten, sollten sich jetzt in der Pflicht fühlen, sein neues Buch zu unter­schätzen. Sie sollten auf seinen miss­lun­genen Roman warten.“

Auf den neuen Roman von Wojciech Kuczok haben die pol­ni­schen Leser vier Jahre lang mit großen Hoff­nungen gewartet. In dieser Zeit beklagte der junge Autor aus Chorzów (Ober­schle­sien) mehr­mals in Inter­views, dass er unter einer schöp­fe­ri­schen Krise leide. 2003 erschien Kuc­zoks erster Roman Gnój (Drecks­kerl), der den pol­ni­schen Nike-Lite­ra­tur­preis bekam. Auf der Grund­lage des Romans ver­fasste Kuczok ein Dreh­buch zum Film Pręgi (Striemen) von Mag­da­lena Pie­korz, der 2004 den Haupt­preis des pol­ni­schen Film­fes­ti­vals in Gdynia erhielt. Inzwi­schen ver­öf­fent­lichte er auch zwei Erzähl­bände Wid­mo­krąg (Im Kreis der Gespenster) und Opo­wieści prze­brane (Aus­ge­wählte Erzäh­lungen). Gleich­zeitig setzte Kuczok die Zusam­men­ar­beit mit Mag­da­lena Pie­korz fort und schrieb das Dreh­buch zu ihrem zweiten Film, Sen­ność (Schläf­rig­keit), der im Oktober 2008 urauf­ge­führt wurde. Aus diesem Dreh­buch ent­stand wie­derum Kuc­zoks zweiter, gleich­na­miger Roman. Die Ähn­lich­keit von Robert, dem Schrift­steller im Roman, und dem Autor selbst ist hier nicht zu über­sehen: Robert wird zum Sprach­rohr seiner Gedanken. Kuczok als Roman­cier ist wieder auf­ge­wacht und ser­viert uns seine Prosa zur Schläf­rig­keit, die sich im ganzen Roman aus­breitet und die auch den Leser übermannt.

Die Hand­lung bilden drei Geschichten – von Adam, Róża und Robert –, die zunächst lose anein­an­der­ge­reiht und zum Schluss auf­fal­lend künst­lich mit­ein­ander ver­flochten werden.
Adam ver­liebt sich in einen hüb­schen Gas­sen­jungen und Taschen­dieb, den er Schön­ling nennt. Eines Tages erscheint der ver­letzte Schön­ling nach einer Eska­pade rein zufällig aus­ge­rechnet in dem Kran­ken­haus, in dem Adam arbeitet. Und so beginnt zwi­schen den beiden ein lei­den­schaft­li­ches Ver­hältnis. Adam hul­digt dem Jüng­ling im Schön­ling und möchte den Mann aus ihm ver­treiben. Die Schluss­szene ist die Krö­nung des Kitschs: Die beiden Geliebten ziehen aufs Land, in die homo­phobe Pro­vinz, und wohnen in einem Haus unweit von Adams Eltern. Der Vater schließt sich aus Pro­test im „Nach­denk­raum“ ein und die Mutter bringt dem jungen Paar Butterbrote.
Róża wie­derum hat einen kar­rie­re­geilen Geschäfts­mann gehei­ratet: Ihr Leben ver­läuft zwi­schen Ver­zweif­lung und Traum und sie schläft immer häu­figer ein­fach ein. Sie, eine von Män­nern begehrte und erfolg­reiche Künst­lerin, wird vom eigenen Mann nicht geliebt. Für den Ehe­mann ist sie nur eine gute und nutz­brin­gende Investition.
Und Robert? Er wurde „der popu­lärste nicht schrei­bende Schrift­steller im Lande“, als er seine Frau hei­ra­tete. Gleich­zeitig ver­mählte er sich mit seinen Schwie­ger­el­tern und lebt jetzt mit ihnen zusammen unter einem Dach. Die Familie lässt keinen Platz für indi­vi­du­elle Bedürf­nisse und Träume. Das Fami­li­en­leben mit der hypo­chon­dri­schen Ehe­frau, dem kon­ser­va­tiven Schwie­ger­vater und der Schwie­ger­mutter als treuer Hörerin von Radio Maryja bewirkt, dass Robert immer tiefer in der Lethargie versinkt.

Zum Schluss kreuzen sich die Wege der Prot­ago­nisten: Aus der Erstar­rung wird Robert durch die Nach­richt über seine unheil­bare Krank­heit und durch seine Liebe zu Róża erweckt. Robert trifft Adam in seiner Arzt­praxis, der als Ortho­päde erstaun­li­cher­weise auch ein Berater im Bereich der Onko­logie ist. Ähn­lich künst­lich erscheint das Treffen von Robert und Róża. Der Erzähler insze­niert wie ein Film­re­gis­seur ihre Begeg­nung und kom­men­tiert sein Arran­ge­ment: „Warum soll ich nicht ver­su­chen, diese beiden ein­samen Men­schen zusammenzubringen?“

Der neue Roman Kuc­zoks fällt – wie seine frü­here Prosa – durch die Sprache auf, die in sich Ele­ganz und Aus­schwei­fung ver­bindet und durch aus­ge­fal­lene Neo­lo­gismen und Wort­spiele beein­druckt. Die Kon­flikte der Roman­helden erin­nern aber an sche­ma­ti­sche und banale Tele­no­vela-Sze­na­rien. Die para­doxe Ver­bin­dung von Kuc­zoks leben­diger Sprache mit der kit­schigen Hand­lung ruft einen komi­schen Effekt hervor. Die Prot­ago­nisten erscheinen als höl­zerne Mario­netten, deren Leben einem Tanz von Schlaf­wand­lern ähnelt. Gleich­zeitig ver­führt Kuczok mit der Viel­falt von Stimmen: mal subtil mit lyri­schen Meta­phern, mal sug­gestiv mit schle­si­schem Dia­lekt, dann wieder absurd mit Aus­drü­cken im Stil von Gombrowicz.

Kuczok ver­wi­ckelt seine Helden in ein schnelles und ein­fa­ches Happy End. Dadurch scheint der Moment des Erwa­chens nicht real zu sein und den Helden wird der letzte Anschein von Authen­ti­zität genommen. Und noch einmal meldet sich selbst­re­flexiv der Erzähler dazu: „Was ist das für ein Tele­no­vela-Tratsch und ‑Klatsch? Irgendein fal­scher Akkord schallt hier heraus.“ Ist Schläf­rig­keit ein Roman über unser vom Kitsch der medialen Welt ange­stecktes Leben, in dem sich jede Geschichte in eine banale Erzäh­lung, einer Tele­no­vela ähn­lich, ver­wan­deln muss? Wenn ja, dann stellt der Schluss des Romans auch einen selbst­iro­ni­schen, bit­teren Kom­mentar zum Wunsch nach dem Ende der schöp­fe­ri­schen Ermü­dung dar.

 

Kuczok, Wojciech: Sen­ność. Wars­zawa 2008.
Kuczok, Wojciech: Drecks­kerl. Frank­furt am Main, 2007.
Kuczok, Wojciech: Im Kreis der Gespenster. Frank­furt am Main, 2006.
Kuczok, Wojciech: Opo­wieści prze­brane. Wars­zawa 2005.
Kuczok, Wojciech: Wid­mo­krąg. Wars­zawa 2004.
Kuczok, Wojciech: Gnój. Wars­zawa 2003.