Die Eröffnungsproduktion Imitation of Life des MESS Festivals 2019 in Sarajevo könnte kaum einen bedrückenderen und politischeren Inhalt behandeln. Basierend auf einem tatsächlich in Ungarn stattgefundenen Vorfall, kreiert die ungarische Autorin Kata Webér ein Stück, hiermit erstmals von Kornél Mundruczó für sein Proton Theater (Budapest) inszeniert, in dem sie die Dominanz der Banalität und die Vergänglichkeit unseres Lebens aufzeigt. Es wird aber auch die Frage nach Schicksal oder Eigenbestimmtheit gestellt. Ist unser Leben vorgegeben oder hängt es von unseren Taten ab? Und welche Rolle hat die individuelle Handlungsmacht innerhalb politischer Prozesse, denen man ausgeliefert zu sein scheint?
Den Ausgangspunkt des Stücks bildet die Attacke eines jungen Mannes auf einen Jugendlichen. Wie sich herausstellt, sind beide Angehörige der Minderheitengruppe der Roma. In der Theaterproduktion Imitation of Life wird eine mögliche Lebensgeschichte des Täters konzipiert. Der Beginn der Aufführung gestaltet sich mittels Videoprojektion. Diese zeigt ein knapp 20 Minuten langes Interview zwischen einer Frau und einem Mann, wobei lediglich das Gesicht der Frau gezeigt wird. Die Mimik der Frau wird in einer Close-Up-Aufnahme bis ins kleinste Detail dargestellt. Im Publikum entsteht der Eindruck, dass sie die starke, in dem Verhör dominante Person ist. Sie wirkt ernst, unaufgeregt und spricht mit fester Stimme. Die sich selbst als Roma bezeichnende Figur erzählt ihrem Interviewpartner ihre von Ausgrenzung, Hass und Gewalt geprägte Lebensgeschichte. Sie spricht von ihrem Sohn, welcher sich seiner Ethnie schämte und deswegen seine Familie leugnete und verließ, um sich ein anderes Leben, fern von Marginalisierung, aufzubauen. Dem Publikum drängt sich die Frage auf, ob es sich hierbei um den eingangs bereits erwähnten Täter handelt.
Erst schrittweise stellt sich heraus, dass das Gespräch im Rahmen einer Delogierung stattfindet und der Mann die Frau der Wohnung verweisen muss. Wegen eines Hustenanfalls der Protagonistin wird die Befragung unterbrochen. In diesem Moment lüftet sich für das Publikum – wortwörtlich – der Schleier. Die Leinwand für die Videoprojektion wird hochgezogen und die Bühne zeigt eine bescheidene Einzimmerwohnung sowie die Frau und den Exekutor.
Der Zukunft eigener Schmied?
In Folge ihres Hustenanfalls bricht die Protagonistin zusammen. Der Exekutor, welcher anfangs den negativen, unmenschlichen Part der gegenwärtigen Gesellschaft darstellte, verständigt nun die Rettung, wodurch er das Antlitz der Menschlichkeit nach der inhumanen Interview-Situation wahrt. Er erhält jedoch die Auskunft, dass der Rettungswagen erst in 75 Minuten in dem von Roma bewohnten Gebiet eintreffen werde – Zeit, in der ein_e „echte_r“ Ungar_in Hilfe benötigen könnte, wie die Mitarbeiterin des Rettungsdienstes betont. Fünfundsiebzig Minuten. Trotz der Bemühungen des Mannes erweist sich diese Zeitspanne als zu lang, um das Leben der Frau zu retten. Das tragische, unausweichliche Ende der Protagonistin wird komplettiert durch die Wandlung und Zerstörung des Bühnenbildes. Eine 360-Grad-Drehung wirft alles durcheinander. Wahllos leeren sich die Schränke, was nicht befestigt ist, fällt zu Boden und zerbricht. So wie das Leben der Frau in der Wohnung. Zurück bleibt nach dieser langen, gespenstischen Szene ein Trümmerhaufen. Ein Blick auf eine Welt, welcher jegliche Orientierungspunkte abhandengekommen sind.
Auf diesen Resten, welche bis zum Ende des Stückes chaotisch auf der Bühne verstreut bleiben, zieht eine junge Mutter mit offensichtlicher Wohnungsnot in das heruntergekommene Appartement ein. Die Struktur manifester Machtverhältnisse, welche zuvor zwischen Mieterin und Exekutor bestand, setzt sich fort. Plakativ dargestellt wird diese strukturelle Ungleichheit zwischen der alleinerziehenden Frau und dem Vermieter während der Unterzeichnung des Vertrages. Ausgangspunkt ist die Banalität eines nicht funktionierenden Stiftes. Nur durch großen Druck ist es möglich, dass der Stift Tinte abgibt und verwendbar wird. Der männliche Vermieter führt die Hand der weiblichen Mieterin, damit die Unterzeichnung gelingt. Gerade in Zeiten des wieder erstarkenden Feminismus, aufgrund restriktiver Gesetze hinsichtlich der Gewalt an Frauen, dem Recht auf Körperbestimmtheit etc., vermittelt diese Darstellung ein raues Abbild der Realität und zeigt auf, warum es dieser Bewegung auch heute noch bedarf.
Quo vadis, Europa?
Diese hoch politische Produktion funktioniert über Analogien und Verdichtungen, sowohl innerhalb des Texts wie auch in der Inszenierung. Nicht nur am sogenannten rechten Rand, auch in der Mitte der Mehrheitsgesellschaft ist ein gewisser Grad an Diskriminierung der Minderheit der Roma gesellschaftlich akzeptiert. Das Stück kann insofern als realitätsabbildend verstanden werden, als Diskriminierung oft im Kleinen beginnt und zu nicht vorhersehbaren und nicht kalkulierbaren Auswüchsen führen kann.
Die anhaltende Ausgrenzung gegenüber der Minderheit der Roma ist in Europa ein noch immer verbreitetes Phänomen; die Lage in den westlichen Balkanstaaten ist nach wie vor von erheblichen Diskriminierungen und Benachteiligungen gekennzeichnet. In einer durch ethnischen Wettbewerb gekennzeichneten Region tritt die Sensibilisierung für diese Thematik sowie der Kampf gegen die Diskriminierung der Roma in den Hintergrund. Auch deswegen ist diese Produktion als Eröffnungsstück des Theaterfestivals MESS in Sarajevo von besonderer kuratorischer Bedeutung und Symbolik.
Imitacija života, Proton Theatre, Regie: Kornél Mundruczó, Dramaturgie: Soma Boronkay; Vorstellung vom 28. September 2019, 19.45 Uhr, 59. MESS International Theater Festival, Narodno pozorište Sarajevo.
Mit: Lili Monori, Roland Rába, Annamária Láng, Zsombor Jéger, Dáriusz Kozma
Weiterführende Links:
Internacionalni teatarski festival MESS: Imitacija života