Im ukrainisch- und russischsprachigen Internet und darüber hinaus wurde das Video millionenfach geteilt. Die ZuschauerInnen lobten den Mut, die Entschlossenheit und die Courage der ukrainischen Frau. Nicht unbemerkt blieb außerdem der wörtliche Ausdruck dieser Courage – der gesprochene Text und seine poetische Kraft.
Die starke metaphorische Energie des Bildes eines gefallenen Soldaten mit Blumensamen in der Tasche blieb in der ukrainischen und internationalen Kunstwelt nicht unbemerkt. Schnell nach der Verbreitung des Videos reagierten KünstlerInnen mit individuellen Darstellungen des Sprachbildes. Die US-amerikanische Illustratorin chinesischer Herkunft Wenqing Yan veröffentlichte auf ihrem Instagram-Account ein Bild mit dem gefallenen Soldaten auf einem Sonnenblumenfeld, das sie mit „Samen für die Zukunft“ betitelte. Die Landschaft in der unteren Hälfte des Bildes („Gelbes Meer der Sonnenblumen“), der Horizont und der obere Teil mit blauem Himmel folgen hier der Farbgebung der ukrainischen Flagge. Die Flagge wiederum ist die Interpretation des klassischen Bildes der ukrainischen Landschaft. Der „König ukrainischer Felder“, die Sonnenblume ist das Symbol des Landes und ein wichtiger Teil der Landwirtschaft.
Der ukrainische Maler und Animationskünstler Saško Danilenko, der aktuell in USA lebt und arbeitet, erstellte eine ganze Bilderserie mit dem Titel „Superhelden unter uns“. Darunter auch das Bild mit der Frau aus Geničesk und dem Sonnenblumenmotiv. Die Sonnenblumen stoßen hier durch hilflose Soldatenkörper oder sind dabei, sie – gewissermaßen als fleischfressende Pflanze – zu verschlingen, während den Vordergrund des Bildes die Frauenfigur mit standhaftem Blick dominiert. Der Blumensamen (die Frauenfigur hält einen in ihrer Hand) fungiert hier als Keim und treibende Kraft im Widerstand gegen den Feind.
© Katapult, 2022.
Danilenko versah das Bild mit einem Kommentar, in dem er ironisch anmerkte, dass die tapfere ukrainische Frau gleich am ersten Kriegstag die Besatzer in prophetischen Worten „in die Landwirtschaft einführte“ (Orig.: „пояснила аграрну інструкцію“). Zum Schluss schreibt er: „Alle, die mit Waffen kamen, werden sich in Sonnenblumen verwandeln.“ (Orig.: „Всі хто пришли зі зброєю перетворяться на соняшники.“). In Danilenkos Arbeiten tauchen seitdem immer wieder Motive mit Sonnenblumen auf – mal auf russischen Soldatenhelmen, aus dem lateinischen Z hinauswachsend, mal Kriegslandschaften markierend. Die Sonnenblumen werden hier zu Figurationen der verlorenen Schlachten Russlands, der gefallenen russischen Soldaten und schließlich auch des verlorenen Krieges.
Die deutschsprachigen Medien erreichte das Video nur teilweise. Das Katapult-Magazin veröffentlichte eine Graphik mit der Überschrift „National heroes during Russia's war against Ukraine. Who are they?“, in der die Stadt Geničesk mit einer Sonnenblume und Blumensamen markiert war.
„Podsolnuch žizni“, 1963
Richtet man den Blick in die Kunstgeschichte, findet man das Motiv der (Sonnen)Blume in Verbindung mit dem Tod/Leben sowie die direkte Konfrontation zwischen dem (Soldaten)körper und der Natur in der sowjetischen und postsowjetischen Ikonografie wieder. Im Schaffen der ukrainischen Volkskünstlerin und Vertreterin der naiven Kunst Marija Primačenko spielen Sonnenblumenmotive eine zentrale Rolle. So entstand 1963 ein Bild mit dem Titel „Podsolnuch žizni“, das aus einem menschlichen Kopf herauswachsende Sonnenblumen zeigt. Der die untere Bildhälfte zierende Kopf erinnert an das Wappen der Russischen Föderation, das aus dem Wappen des Russischen Kaiserreichs hervorgegangen ist. Die Darstellung des Doppeladlers mit Brustschild geht hier in ein Menschengesicht über, aus dem in strahlendem Gold die Sonnenblumenzweige hervorwachsen.
Marija Primačenkos Kunst geriet am dritten Tag des Krieges ins Zentrum der Kampfhandlungen. Das Museum für Geschichte und Heimatgeschichte in Ivankiv, in dem ein Teil der Werke Primačenkos ausgestellt war, wurde von russischen Bomben zerstört. Angeblich konnten einige von Bildern von Einheimischen aus den Trümmern gerettet werden.
Zur offizielle Seite des Künstlers
Vom in Russland lebenden georgische Maler Alexander Djikia stammt ein Bild mit dem Titel „Soldat vsegda slivaetsja s prirodoj“ (1989; dt.: „Der Soldat verschmilzt sich immer mit der Natur“), das drei Soldaten auf einem Blumenfeld zeigt. In der oberen linken Ecke beansprucht die Überschrift des Bildes beträchtlichen Raum. Vor dem weißen Hintergrund ragen drei Soldatenkörper heraus und markieren durch die Farbgebung ihrer Camouflage zugleich Übergang in die untere Hälfte des Bildes, die als grün-rotes Blumenfeld gestaltet ist. Die roten Feldblumen werden in den Uniformen als rote Punkte wiederholt, die auch als Schusswunden interpretiert werden können. Der Bildtitel wiederholt den prophetischen Charakter der Rede aus dem Video in Geničesk, mit dem Adverb „vsegda“ wird hier die Vorausbestimmtheit des Soldatenschicksals adressiert.
Doch zurück zum Video. Die Rede der Frau zeichnet in einem prophetischen Gestus und mit einer erschreckenden Selbstverständlichkeit das unabdingbare Schicksal des Feindes. Parallel zu den ersten Meldungen über die in der Ukraine gefallenen russischen Soldaten, erreichten der Presse die Nachrichten, dass Russland sich nicht um sie kümmere, der Öffentlichkeit und den Angehörigen die reale Zahl ihrer Toten verschweige und mobile Krematorien zur Vertuschung organisiere. Es wird vermutet, dass diese Wagen die russische Armee begleiten und die gefallenen Soldaten vor Ort verbrennen.
Eben diese erschreckende Sinnlosigkeit der Tode wird im Video aus Geničesk in der brutalen Direktheit adressiert.