‚Spezialoperation‘ der Schriftsteller_innen: Wie Russlands Literaturorganisationen die Ukraine kolonialisieren

Wenige Tage nach dem Angriff russischer Truppen auf das gesamte Territorium der Ukraine am frühen Morgen des 24. Februar ist der Krieg auch in den offiziellen Institutionen der Literatur angekommen. Am 28. Februar verurteilten über 1000 Schriftsteller_innen in einem offenen Brief des PEN International den russischen Einmarsch in die Ukraine als einen „Angriff auf Demokratie und Freiheit in der ganzen Welt“. Noch am selben Tag reagierte PEN Russland mit einer Gegendarstellung. Unter dem Titel „Wer will Opfer?“ publizierten Angehörige des Präsidiums des russischen PEN-Zentrums in der traditionsreichen „Literaturzeitung“ (Literaturnaja gazeta) einen Aufruf, der die „militärische Spezialoperation“ gegen die Ukraine befürwortet und Putin die Loyalität der Literaturwelt Russlands für seinen Angriffskrieg zusichert.

 

Zu den Erstunterzeichnern des Aufrufs gehörte neben Juri Poljakow, Vorsitzender des Redaktionsrats der „Literaturzeitung“, Putin-Campaigner bei den Wahlen 2018 und langjähriges Mitglied des Präsidialrats für Kunst und Kultur, auch der Dichter Jewgeni Rejn. 1996 und 2003 hatte Rejn noch öffentliche Aufrufe zur Beendigung der Tschetschenienkriege unterzeichnet. Im Aufruf vom 6. Januar 1996 protestierte er in den „Iswestija“ gegen den „Brudermordkrieg“ in Tschetschenien, 2003 verurteilte er gemeinsam mit „Memorial“ den „aggressiven Nationalismus und Chauvinismus“ des zweiten Tschetschenienkriegs.

 

Am 2. März hatten bereits über 400 Schriftsteller_innen den Aufruf in der „Literaturzeitung“ unterzeichnet. Der Text steht in einer Tradition literaturpolitischer Loyalitätsbekundungen, die sich insbesondere mit den staatstragenden öffentlichen Verlautbarungen des sowjetischen Schriftstellerverbands herausgebildet hat. Das betrifft nicht zuletzt Verschränkung der Rhetoriken von Selbstviktimisierung und Selbstermächtigung. Beide verbinden sich hier, um einen autoritären Anspruch literaturpolitischer Kolonialisierung der Ukraine durchzusetzen. Einher damit geht die Erklärung des 2019 in der Ukraine verabschiedeten Sprachgesetzes zum „linguistischen Krieg gegen die russische Sprache“, aus dem 2022 die Verpflichtung zum literarischen Krieg gegen die Ukraine abgeleitet wird.

 

Der Aufruf bildet nur einen kleinen Ausschnitt dessen, wie offizielle Literaturinstitutionen Russlands am Schwarzbuch des Putinismus mitschreiben. Am 7. März kündigte der russische Schriftstellerverband gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium einen Sammelband mit „zeitgenössischer patriotischer Lyrik“ an. Im Titel „ПоZыVной – Русский“ („Funkzeichen – Russe“) trägt er jene lateinischen Buchstaben, mit denen die russische Militärtechnik in der Ukraine markiert ist. Während man in den russischen Medien noch rätselt, ob das V für „victory“ oder „vostok“ (Osten) und das Z für „zero“ oder“ zapad“ (Westen) stehen, feiern die Texte im Zeichen dieser Initialen die „Heldentaten“ der russischen Armee und beschwören die „wahren geistigen Werte Russlands: Friedfertigkeit, Selbstaufopferung, Hilfsbereitschaft und Völkerfreundschaft“.

 

Was die offiziellen Verlautbarungen der Literaturinstitutionen unterschlagen und aufgrund der am 4. März in Kraft getretenen Gesetzesnovelle über Falschinformationen nicht mehr sagen können, ohne mit langjährigen Haft- und großen Geldstrafen belegt zu werden, ist die massive Solidarisierung mit der Ukraine unter zahlreichen russischen Schriftsteller_innen. Wo sie nicht, wie die Lyrikerin Vera Poloskowa, das Land verlassen haben oder, wie der Dramaturg Ivan Wyrypaew, aus dem Ausland ankündigen, alle Tantiemen aus russischen Inszenierungen an ukrainische Hilfsorganisationen zu spenden, lassen sie sich hier und heute kaum zitieren, ohne diese Schriftsteller_innen zu gefährden.

 

Bisweilen partizipiert jedoch auch der literarische Antikriegs-Diskurs offen an der Rhetorik offizieller Institutionen. Dies betrifft insbesondere das Vokabular der Genetik, das mit Putins unbelegten Genozid-Anschuldigungen zum Kriegstreiber geworden ist. Der am Morgen des 4. März noch auf der Plattform „Cholod“ zugängliche, mittlerweile gelöschte „Brief der Schriftsteller Russlands und der Welt gegen den Krieg“ beschwört einen „gemeinsamen Genpool“, den Russen und Ukrainer ebenso teilten wie die „gemeinsame Sprache und Kultur“. Mit dieser „gemeinsamen Sprache“ ist dabei nur eine Sprache gemeint: die Sprache Puschkins, „genetisch die eines Afrikaners“, doch „im Geiste russisch“. In der Geno-Topik dieser Aussage enthüllt sich die bio-ethnisch basierte Kriegsführung als Akt einer mehrstufigen Kolonialisierung: Wo ein Genozid im Donbass behauptet wird, um Russlands Krieg gegen die Ukraine zu legitimieren, dort soll nun das genetische Erbe einer russifizierten afrikanischen Dichter-DNA Frieden stiften, indem die Ukraine in einen großrussischen Genpool der Literatur eingemeindet wird.

 

Um vorerst den offiziellen literaturpolitischen Diskurs für ein Dossier zum literaturpolitischen Krieg gegen die Ukraine zu dokumentieren, ist der offene Brief der russischen PEN-Angehörigen nachfolgend übersetzt. Das Original ist (mit aktualisierter Liste der Unterzeichner_innen) nachlesbar auf:

https://lgz.ru/article/-8-6822-23-02-2022/kto-khochet-zhertv/

 

 

„Wer will Opfer?

Kundgebung der Schriftsteller Russlands anlässlich der Spezialoperation unserer Armee im Donbass und auf dem Gebiet der Ukraine.

 

Die derzeit im Donbass und in einigen Gebieten der Ukraine durchgeführte militärische Spezialoperation ist über lange Zeit herangereift. Der Westen hat keine Gelegenheit ausgelassen, Russland zu verwunden, zu verleumden und letztlich zu zerstören. Dafür gibt es eine Vielzahl von Beweisen: von nun bekannt gewordenen Kriegsplänen der NATO zur Vernichtung Russlands und den ständig sich überbietenden Lügen der amerikanischen Fernsehkanäle bis hin zur physischen Eliminierung der Gegnern faschistischer Ideologie in der Ukraine.

 

Ein neues Ausmaß nahm die antirussische Hysterie 2014 an, als die Bürger der Krim sich frei und nahezu einstimmig für die Angliederung an Russland entschieden und der Donbass sich nicht länger dafür, dass er Russisch sprach und dachte, erniedrigen lassen wollte. Russland hat diese legalen Forderungen unterstützt.

 

Unser Wille zum Dialog wie auch Russlands Sorge um Sicherheitsfragen wurden überhört. Ganz bewusst wurde durch aggressive Kriegshandlungen, Fake News, provokative und erfundene Informationen Zwietracht gesät. Acht Jahre haben wir geduldig versucht, alle Seiten zur Einhaltung des Minsker Abkommens zu überreden. Der Westen aber gab der Ukraine insgeheim seinen Segen zu ihrem Bruch.

 

Wir können nicht zulassen, dass Slaven gegeneinander aufgehetzt werden! Wir Russen wollen niemanden gegeneinander aufhetzen! Russen fangen keine Kriege an – Russen pflegen diese zu beenden. Die militärische Spezialoperation Russlands zielt auf Frieden in Europa.

 

Wir lieben das ukrainische Volk, singen ukrainische Lieder, schauen ukrainische Filme und beten in denselben Kirchen. Wir teilen dieselben Gedanken und den tiefen Wunsch, endlich die Luft des nahenden, unseren Völkern gemeinsamen Frühlings einzuatmen. Wir haben große Schriftsteller, die einander in demselben geistigen Dienst an Glück, Freiheit, Frieden und Menschlichkeit verbunden sind. Lev Tolstoi und Nikolai Gogol, Taras Schewtschenko und Alexander Puschkin, Lesja Ukrainka und Anna Achmatowa. Wir haben unzählige gemeinsame Siege und Errungenschaften, die uns niemand nehmen kann.

 

Russland wurde oft für Dinge verantwortlich gemacht, an denen andere die Schuld trugen. Die Größe unserer Kultur, unserer Armee und unseres Geistes sollten vernichtet werden. Man denke nur an das Verbot der Konzerte von Valery Gergiev und Denis Mazujew in New York…

 

Russland aber ist nun nicht mehr schwach! Hierher rühren der Zorn und die maßlosen Angriffe auf unser Land – von außen wie von innen. Doch wir sind nun in der Lage, sowohl uns wie auch uns in Freundschaft verbundene Länder zu verteidigen, wir sind in der Lage, unsere große Kultur und unsere jahrhundertealten Verbindungen zu verteidigen.

 

Was wäre ohne die Militäroperation passiert? Die Banderowzen hätten ihre Menschenfressermärsche auf Kiew fortgesetzt, sie hätten ukrainische Journalisten ermordet, Russischlehrer säßen weiterhin in Gefängnissen, die Übeltäter, die in Odessa in der Manier von Hitlerschergen Menschen bei lebendigem Leib verbrannten, blieben ungestraft und über Russland würde die schmutzige Atombombe der Banderas hängen!

 

Wer will nun Opfer? Unsere Streitkräfte, die bisher keinen einzigen Zivilisten absichtlich umgebracht haben? Oder diejenigen, die einen unaufhörlichen linguistischen Krieg gegen die russische Sprache und einen Informationskrieg gegen den russischen Geist führen? Die Antwort liegt auf der Hand. Opfer will der mit Nazis gemeinsame Sache machende Westen, Opfer wollen die sich mit der NATO verbrüdernden Banderajünger.

 

Und was wollen wir? Wir wollen eine souveräne, freundschaftliche, blühende und freie Ukraine. Aber wir wollen nicht, dass Nazis sie regieren.

 

Deshalb schauen wir Schriftsteller mit Schmerz, aber auch mit Hoffnung auf die erzwungenen Handlungen der russischen Armee. Mit Hoffnung schauen wir auf den Präsidenten. Und sehen hier mit Freude, dass viele Ukrainer einsichtig sind, dass sie unsere Streitkräfte, zum Beispiel in Mariupol, mit Fahnen begrüßen, dass sie, wie im Atomkraftwerk von Tschernobyl, gemeinsam Wache leisten, und dass sie immer häufiger das Kommando der faschistischen Bataillone, die unerfahrene, noch bartlose Soldaten in den Kampf werfen, verfluchen.

 

Schriftsteller wollen keinen Krieg, sie wollen sich nicht in die Politik einmischen. Alle humanitären Beschlüsse der ganzen Welt verbieten dies. Doch die Stimme der Vernunft und der Inspiration, die Stimme der Literatur erklingt heute wie auch in Zukunft, wenn die Zeit kommen wird, um das, was in unserer unvergleichlichen, wenn auch unendlich schwierigen Zeit geschieht, darzustellen.

 

Friede der Ukraine! Friede Russland und Belarus! Wir entstammen einer Wurzel und diese Wurzel der alten Rus‘ wird uns wie auch die uns geistig nahestehenden Völker immer nähren!

 

Erstunterzeichner am 28.2.22

Efim Berschin, Dichter, Mitglied des Ausschusses des russischen PEN-Zentrums

Sergej Glaskow, Schriftsteller, Regisseur am Moskauer Gorki-Theater

Boris Jewsejew, Schriftsteller, Vize-Präsident des russischen PEN-Zentrums, Träger des Russischen Regierungspreises für Kultur

Inna Kabysch, Dichterin, Lehrerin für russische Sprache und Literatur

Marina Kudimowa, Dichterin, Vize-Präsidentin des russischen PEN-Zentrums

Sergej Kunjaew, Stellvertretender Redakteur der Zeitschrift „Unser Zeitgenosse“ (Nasch sowremennik)

Igor Panin, Dichter, Publizist, Redakteur der Website der „Literaturzeitschrift“ (Literaturnaja gaseta)

Juri Poljakow, Schriftsteller, Präsident des Nationalen Dramaturgenverbands Russlands

Jewgeni Rejn, Dichter, Träger des russischen Staatspreises“

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