Stolpern über die Wörter: Ein kollektiver Essay über die Sprache im Krieg

Der Krieg verändert die Sprache und das Sprachgefühl. Es sind nicht nur professionelle Autor*innen, sondern auch Laien, die das Leid und das Unerhörte der Gewalt und Zerstörung im Krieg dokumentieren und mitteilen. Dabei kommen die Schreibenden kaum umhin, über die Sprache, das Sprechen und das Schreiben im Krieg nachzudenken. Der kollektive Essay zur Sprache im Krieg entstand aus der gemeinsamen Arbeit von Potsdamer Studierenden und Lehrenden in Vorbereitung auf einen ukrainisch-polnisch-deutschen Workshop in Krakau im Juni 2023.

 

1. Wörterbuch des Krieges

Der Krieg intensiviert die Wahrnehmung, die Gefühle, und macht somit etwas mit uns und mit unserer Sprache, unabhängig davon, welche Sprache(n) wir sprechen. Wörter bekommen neue Bedeutungsnuancen, manche Worte werden zu Unworten, manche werden ihre Bedeutung los. Es scheint so, als wäre vor allem das Wort ‚Frieden‘ dem Krieg zum Opfer gefallen – und zwar gar nicht nur deshalb, weil der Krieg den Frieden zerstört. Friedensliebende deutschsprachige Menschen meiden inzwischen das Wort ‚Pazifismus‘, da es von denjenigen heute beansprucht wird, die offensichtlich Angreifer und Opfer nicht auseinanderhalten können bzw. wollen. Das ukrainische Wort für Frieden мир (myr) unterscheidet sich graphisch gar nicht und phonetisch nur leicht vom russischen Wort мир (mir), das neben Frieden auch Welt bedeutet und in dessen Namen (russkij mir) der brutale russische Krieg gegen die Ukraine geführt wird. Der ukrainische Dichter, Essayist und Übersetzer Ostap Slyvynsky schreibt in einem Gedicht: „Aber können wir das Wort ‚Frieden‘ noch heilen, dass aus ihm / keine bis auf die Zähne bewaffneten Besatzer mehr platzen?“

Das aus dem Ukrainischen von Siarhei Paulavitski und Maria Weissenböck ins Deutsche übertragene Gedicht Slyvynskys „Und dann müssen wir noch die Sprache wiederaufbauen…“, aus dem das obige Zitat stammt, ist in der deutschen Ausgabe seines Buchs Wörter im Krieg (edition.fotoTAPETA, Berlin 2023; ukr. Slovnyk vijny, VIVAT Publishing, Charkiv 2023) als eine Art lyrisches Vorwort erschienen ‒ abweichend von der originalsprachlichen Ausgabe, in der das Gedicht auf der Rückseite des Buchumschlags abgedruckt wurde. Slyvynsky hat sein Gedicht zunächst am 3. Dezember 2022 auf Facebook veröffentlicht:

А потім нам ще доведеться відбудувати мову.

Щоб свічка перестала бути окопною,

щоб пташка знову вбралася в пір’я,

щоб квіти перестали плюватись вогнем.

Щоб підвал знову став житлом солодкого варення й картоплі вусатої.

Und dann müssen wir noch die Sprache wiederaufbauen.

Damit Kerze nicht mehr Bunkerlicht meint,

damit der Vogel wieder Federn bekommt,

damit Blumen aufhören, Feuer zu spucken.

Damit Keller wieder zur Bleibe süßer Marmeladen und keimender Kartoffeln wird.

Slyvynskys Wörterbuch des Krieges (so die wörtliche Übersetzung von slovnyk vijny) versammelt Wörter, deren Bedeutung sich im Krieg verändert hat. Das „Wörterbuch“ besteht aus kurzen Texten, aus alphabetisch geordneten „Einträgen“, die ‒ wie Slyvynsky in der Vorrede schreibt ‒ „Fragmente fremder Monologe sind, die ich in diesen schweren Tagen gehört habe.“ Nichts sei erfunden, lediglich ein wenig bearbeitet, manches aus dem Russischen ins Ukrainische übersetzt. Unter „Körper“ (tilo) lesen wir ein kurzes Bekenntnis einer Frau aus Lʼviv, die sich darüber wundert, dass sie nun ihr Heimatland wie den eigenen Körper spürt: Wenn sie eine Türklinke drückt, habe sie den Eindruck, „dass es ihr weh tut.“ Unter „Radio“ (radio) berichtet ein älterer taub gewordener Mann aus Baku/Kyjiv, dass er nun im Alter viel Neues erlebt, z.B. wird er zum ersten Mal Polen sehen, auch wenn nicht mehr hören. Ganz anders als in der Jugend, in der er polnisches Radio gehört hat, Polen aber nie gesehen. Unter „Artikel“ (stattja) beschreibt eine ehemalige kommerzielle Texterin aus Kocjubynske bei Kyjiv ihre Angst vor diesem Wort: Immer, wenn sie gebeten wird, einen „Artikel“ zu verfassen, handelt es sich um einen Nachruf (nekrolog) ‒ ein Wort, das niemand über die Lippen bringt.

Slyvynskys „Wörterbuch“, inzwischen in mehrere Sprachen übersetzt, ist ein Zeugnis einer durch den Krieg verursachten Wahrnehmungskrise, die ihren sprachlichen Ausdruck sucht, die in der Sprache befragt und erkannt wird. Und umgekehrt: es ist ein Zeugnis für das Fremdwerden der Sprache in der Erfahrung des Krieges, für das Auseinanderdriften des Wortes und seiner gewohnten Bedeutung in der das Leben radikal verändernden Kriegswirklichkeit. Und nicht zuletzt ist es ein Zeugnis einer gesteigerten Aufmerksamkeit dafür, was der Krieg mit der Wahrnehmung und der Sprache macht: Manche Monologe treffen den Punkt ‒ beiläufig ‒ in einer beschreibenden Anekdote („Autobus“/avtobus), manche greifen aber auch direkt ein Wort auf („Schmerz“/bilʼ) und ‚betasten‘ die verschobenen, verdichteten Bedeutungsnuancen. Slyvynsky notiert die Fetzen flüchtiger Rede, hält sie fest und ordnet sie zu einem Wörterbuch des Krieges. Es entsteht ein Dokument über die Sprache im Krieg, die wie ein Sensor anzeigt, was der Krieg den Menschen antut. Darum geht es hier vor allem: dem Gesprochenen abzulauschen, wie mit den Kriegserfahrungen gerungen wird. Es ist zugleich ein Dokument, in das sich auch das Poetische unwillkürlich einschleicht, mal mit einer grausamen, mal mit einer grotesken, manchmal gar mit einer witzigen Verfremdung. Slyvynskys „Wörterbuch“ ist unverkennbar ein Werk eines Lyrikers, der sein Gehör für die Sprache und das Sprechen für das Dokumentieren dessen, was im Krieg passiert, einsetzt.

von Magdalena Marszałek

2. Schreiben an der Front

Der Krieg bringt das Beste und das Schlechteste im Menschen zum Vorschein. Und er bringt die Menschen zum Schreiben, auch solche, die im normalen Alltag ans Schreiben nicht einmal denken. Jeden Tag erscheinen im Netz Hunderte von Gedichten, Geschichten, Blogeinträgen sowohl von professionellen Autor*innen als auch von Laien, die ihre Erfahrungen im Krieg beschreiben. Es erscheinen in der Ukraine auch in Kriegszeiten sehr viele Bücher, viele von ihnen werden im Ausland übersetzt. Es fällt auf, dass darunter nur selten Soldat*innen-Stimmen zu hören sind. Es gibt sie aber: schreibende Soldat*innen. Sie haben wenig Zeit zu schreiben und ihre Texte im Netz zu veröffentlichen. Sie schreiben in Notizbüchern und auf ihren Smartphones. Soldat*innen, die tagtäglich mit Angst, Schmerz und Tod konfrontiert sind, kennen die Wahrheit über den Krieg.

Wenn man über Google nach Gedichten von Soldat*innen sucht, findet man sie inzwischen auf einigen Websites, z.B. auf Gluzd (etwa: Verstand). Gluzd wurde vor einigen Jahren von jungen Journalistinnen aus Kolomyja als unabhängiges Medienprojekt gegründet. Unter dem Motto “Wir kümmern uns um euren gesunden Verstand!” berichtet das Portal eigentlich über das kulturelle Leben in der westlichen Ukraine. Dominierendes Thema seit bald zwei Jahren ist jedoch der Krieg. Das Portal postete im Februar 2023 ein auf einem Interview basierendes Porträt eines 21-jährigen Soldaten, der seit dem ersten Tag der vollumfänglichen russischen Invasion sein Land verteidigt. Dazu wurden zwei seiner Gedichte veröffentlicht. Seinen Namen kennen wir nicht, er schreibt unter dem Pseudonym Most (Brücke). Was erfahren wir von ihm? Er hatte sich bewusst für den Soldatenberuf entschieden, als sich das Land im Osten bereits im Krieg befand, also noch vor 2022. Er absolvierte die Akademie als externer Student und legte seine Abschlussprüfung sozusagen auf dem Schlachtfeld ab. Dort „feierte“ er auch seinen Abschluss.

Die beiden veröffentlichten Gedichte sind im Abstand von einem Jahr entstanden. „Ich bin müde, am Leben zu sein…“ (Vtomyvsja buty ja žyvym…) schrieb er im Schützengraben kurz nach dem Beginn der groß angelegten russischen Invasion. Dieses Gedicht schildert eine tiefe Verzweiflung im Alltag an der Front: Aufwachen von den Explosionen, Einschlafen mit den Geräuschen der Schüsse, den Tag überleben inmitten von Leid, Schmerz und Tod. Most wählt einfache Worte für sein Gedicht, es könnte eine Tagebuchnotiz sein, die einzige Metapher ist die „Hölle“, die er im Schlaf vor Augen hat – die Albträume wiederholen das Grauen des Tages. „Ich bin müde, am Leben zu sein…“ – zum Schluss wiederholt der letzte Vers den ersten (hier und folgend: Übersetzung der Autorin):

Не знаю, як повернутися додому, 

Не знаю, як поводити себе у мирному житті, 

Не знаю, як жити мирно без війни. 

Втомився бути я живим…

Ich weiß nicht, wie ich nach Hause komme,

Ich weiß nicht, wie ich mich im friedlichen Leben verhalten soll,

Ich weiß nicht, wie man friedlich lebt, ohne Krieg.

Ich bin müde, am Leben zu sein…

Das zweite Gedicht, „Mein heller Stern am Himmel“ (Moja jaskrava zirka v nebi…) entspringt dem Wunsch, der grausamen Realität des Krieges zu entkommen. Der Soldat betrachtet einen Stern am nächtlichen Himmel und träumt von Schönheit, Wahrheit, Liebe. An den Stern richtet er eine Klage:

Моя кохана ясна зірко, 

Чому люди такі жорстокі,

Чому брехні тут більше, аніж правди 

Чому від кохання тут лише слова!

Mein geliebter heller Stern,

Warum sind die Menschen so grausam,

Warum gibt es mehr Lüge als Wahrheit,

Warum gibt es von der Liebe nur Worte!

Hier wird offensichtlich, dass das Schreiben zum Ort des Überlebens wird. Das Schreiben hilft, im Krieg ein Mensch zu bleiben, die Würde und die Hoffnung auf eine bessere Welt zu bewahren. „Das Schreiben wiederspricht dem Tod“ – das hat Serhij Žadan im Vorwort zu seinem Buch Himmel über Charkiv (2022) geschrieben. Nirgendwo gilt das Diktum Žadans so bedingungslos wie im Fall eines schreibenden Soldaten.

von Evgeniia Grach

3. Vorsicht, gefährliche Bäume

Der Krieg macht uns sprachlos. Er frisst Leben, Gebäude, ganze Städte – und auch die Sprache. Die Wörter, die er wieder ausspuckt, haben plötzlich eine andere Bedeutung. Der Alltag im Krieg findet in einer grotesken Realität statt, in der Stille zur Bedrohung, ein Badezimmer zum Bunker, Schönheit zur Gefahr werden können, wie Ostap Slyvynskys Slovnyk vijny deutlich macht.

Kateryna Jakovlenko, ukrainische Kuratorin, Autorin, Kunstwissenschaftlerin und Chefredakteurin des Kultursenders Suspilne Kultura erlebte persönlich, wie die Wörter ‚Pech‘ und ‚Glück‘ ihre Bedeutung verloren. Hatte sie Pech, weil ihre Wohnung in Irpin‘ am 18. März 2022 fast vollständig durch eine Granatenexplosion zerstört wurde? Oder hatte sie Glück, weil sie eben nur fast vollständig zerstört wurde, während 70 Prozent der Stadt Irpin‘ so gut wie dem Erdboden gleichgemacht wurde? Und wenn ihre Wohnung nun fast völlig zerstört ist, die Decke behelfsmäßig befestigt werden muss, die Wände kahl und verbrannt sind, die Fenster aus den Rahmen gesprengt wurden, die ganze Einrichtung zerstört, alle Erinnerungen verbrannt sind, ist es dann noch ihre Wohnung? Was hat dieser Raum, diese Ruine, noch mit ihr zu tun, fragt sie sich.

Jurij Andruchovyč beschrieb vor etwa 20 Jahren in seinem Essay Mittelöstliches Memento (2000) seine jugendlichen Streifzüge zwischen verlassenen, verfallenen Orten im ehemaligen Galizien. Ruinen sind für ihn Zeugen der Vergangenheit: Es sind nicht nur verwitternde Mauern, sondern Dinge, die einmal für den Menschen einen Nutzen hatten und dann verfallen oder in Vergessenheit geraten sind. Das Wort ‚Ruine‘ hört sich nach etwas längst Vergangenem und Geheimnisvollem an. Aber für Jakovlenko ist dieses Vergangene noch Gegenwart, und im kahlen Gemäuer spiegelt sich ihr Trauma: „Ich wollte weg, ich zweifelte und hatte Angst, diesen Raum irgendwem zu zeigen ‒ als würde die ganze Welt meine innersten Geheimnisse erfahren, all meine Narben und Wunden sehen können.” Dennoch eröffnet sie in ihrer zerstörten Wohnung am 26. August 2022 für einen Tag eine Ausstellung unter dem Titel „Jeder hat Angst vor dem Bäcker, aber ich bin dankbar“ (Vsi bojat’sja pekarja, a ja djakuju). In ihrem Essay „Vorsicht, gefährliche Bäume“ schreibt sie über die Ausstellung. Der Raum selbst sei zum wichtigsten Ausstellungsstück geworden ‒ durch sich verändernde Licht- und Schattenreflexe sowie Vögel und Insekten, die durch die offenen Fensterlöcher hineinflogen. Die ausgestellten Werke, eine Zusammenstellung aus Fotos, Zeichnungen und Installationen von Künstler*innen wie Anna Zvjaginceva, Katja Bučacka, Tamara Turljun, Roman Mychajlov und weiteren, wählte sie aus, weil sie vom Umgang mit Traumata und von Gesten der Dankbarkeit für Zusammenhalt und Fürsorge erzählen. Für Jakovlenko funktioniert Sprache allein nicht mehr: „Könnte man über Wörter stolpern, so könnte ich keinen Kilometer laufen, ohne mir blaue Flecken zu holen.“ Deshalb will sie die Sprache durch Bilder und Gesten ersetzen und ergänzen. So findet sich in der Ausstellung beispielsweise auch das Werk des Künstlers Stanislav Turina: Servietten, auf denen das Wort danke auf Ukrainisch geschrieben steht. Täglich schreibe er es auf Zettel und verteile sie, um seine Unterstützung zu zeigen. So wird ein Wort durch eine Geste zu einem Akt der Solidarität.

So zieht sich auch die Symbolik des Baums als Thema durch die Werke der Ausstellung und durch Jakovlenkos Essay. Der Baum wird für sie zu einem Sinnbild der Heilung, zu einer Stütze in der Traumabewältigung. Die Ukraine brauche auch etwas Ähnliches wie Harz ‒ diese klebrige Substanz, die wie Tränen die Wunden der Bäume verschließt. Das Harz für ihr traumatisiertes Heimatland sieht Jakovlenko in der Dankbarkeit, der Solidarität und dem Zusammenhalt der Menschen.

Das erste Werk, das sie für die Ausstellung auswählte, war das Bild „Einen Stock pflanzen“ (To Plant a Stick, 2019-2022) von Anna Zvjaginceva. Die Künstlerin habe es ihrem Großvater gewidmet, der in der Westukraine in einer ländlichen Gegend lebte. Sie habe einmal bei ihm ein handschriftlich notiertes Zitat eines ukrainischen Schriftstellers gefunden: „Wie ein Baum ohne Blätter steht meine Seele in den Feldern.” Ausgestellt ist das gerahmte Bild in einem Zimmer auf dem Boden, lehnt wie beiläufig abgestellt an der kahlen Wand. Darauf zu sehen: ein Foto von einem Stock, der aus einer Wiese ragt. Es sieht fast so aus, als würde er in dem mit einer Plane bedeckten und sandigen Boden der verbrannten Ruine stecken. Wieso sollte aus dem Stock nicht doch noch ein Baum werden können?

von Stella Breitbach

4. Lyrik des Donbas: Fragmentierte Wörter über den Krieg

Adorno sagte, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben sei barbarisch. Doch was ist zu tun, wenn sich jemand nicht in einem ‚Nach‘, sondern in einem ‚Während‘ befindet? Wenn ein Krieg dein Zuhause zerstört, dich vertreibt, deine Familie und Freunde bedroht oder tötet? Wenn ein übermächtiger Feind dir deine Identität abspricht und die Vernichtung deiner Kultur anstrebt? Darüber nicht zu schreiben wäre wohl auch barbarisch. Die literarische Bearbeitung der Kriegsereignisse und Erfahrungen ist für ukrainische Schriftsteller*innen von größter Wichtigkeit, gleichwohl mit tiefstem Schmerz verbunden. Beispielhaft dafür ist die Lyrik von Ljuba Jakymčuk (Lyuba Yakimchuk), die in der Oblast Luhansk geboren und aufgewachsen ist. Gleich zu Beginn des Krieges im Donbas im Jahr 2014 versuchte sie, die Lebensrealität ihrer Heimat durch das Prisma der Lyrik darzustellen.

Der Krieg in der Ukraine ist in erster Linie ein Kampf des Landes um sein politisches und territoriales Überleben. Es ist aber auch ein Krieg, bei dem insbesondere die kulturelle Identität der Angegriffenen im Mittelpunkt steht. Und genau diese beiden Aspekte des Krieges greift die Dichterin und Journalistin Ljuba Jakymčuk in ihrem Gedicht rozkladannja (Zerstückelung) auf. Zum einen beklagt sie am Beispiel von ukrainischen Städten im Osten des Landes wie Donezk und Luhansk, dass die Ukraine ihres rechtmäßigen Staatsgebietes beraubt wird. Und zum anderen geht es der Autorin darum zu zeigen, wie zerstörerisch die Gewalt sich auch auf die Kultur – hier konkret auf die Sprache – auswirkt. Jakymčuk zerlegt im Gedicht die Namen der Orte in einzelne Silben, wodurch sie ihre eigentliche Bedeutung verlieren. Die Zerstückelung der Wörter wird zum Spiegel der Zerstückelung des Landes und der Desintegration von dort lebenden Menschen. Übrig bleiben nur noch amputierte Teilwörter, die ebenfalls zu den Opfern dieses Krieges werden (hier und folgend: Übersetzung des Autors):

не кажіть мені про якийсь там Луганськ
він давно лише ганськ
лу зрівняли з асфальтом червоним
erzählt mir nichts von Luhansk
es ist nur noch hansk
Lu wurde dem roten Erdboden gleich gemacht

Wie in einen Dialog mit Adorno tretend, stellt Jakymčuk fest, dass die Sprache auf die Grausamkeiten des Krieges nur in einer entstellten Form antworten kann. Es ist keine schöne Dichtung mehr, die Wörter verkommen zu einem einzigen grimmigen Laut:

про війну не буває поезії
про війну є лише розкладання
лише літери
і всі вони – ррр
über den Krieg gibt es keine Poesie
im Krieg gibt es nur Zerstückelung
nur Buchstaben
und sie sind alle gleich – rrr

Das Gedicht wirkt wie eine Klage, wobei durch die persönliche Perspektive für uns als Lesende eine unmittelbare Nähe zu den Erfahrungen der Autorin entsteht. Sie berichtet zum Beispiel von ihren Freunden, die Handschellen tragen, und vom zerbombten Pervomajs‘k, dem Ort, wo sie als Kind aufwuchs. Einige semantische Probleme zeigen sich jedoch, wenn diese ‚misshandelte‘ Sprache ins Deutsche übersetzt wird. Rozkladannja ist eines von mehreren Gedichten Jakymčuks, die gemeinsam mit den Werken mehrerer ukrainischer Autor*innen in der Anthologie Words for War, einer Publikation des Harvard Ukrainian Research Institute, veröffentlicht wurde. Dort findet man das Gedicht im ukrainischen Original und in der englischen Übersetzung. Ins Deutsche hat Beatrix Kersten das Gedicht unter dem Titel „Zerfall übersetzt. Man kann einen eigenen Versuch der Übertragung ins Deutsche wagen; bei den ‚zerstückelten‘ Wörtern im Gedicht stößt man einerseits schnell an sprachliche Grenzen, andererseits lassen sie viele Übersetzungsvarianten zu. Hier ein weiteres Fragment meines Versuchs:

а де бальцево?
де моє бальцево?
там більше не родиться Сосюра
уже більше ніхто з людей не родитьсяя дивлюся на колообрій
він трикутний, трикутний
і поле соняхів опустило голови
вони стали чорні й сухі, як і я
вже страшенно стара
і я більше не Люба
тільки ба
und Debaltse ist wo?
mein Debaltse ist wo?
dort wird kein neuer Dichter wie Sosjura mehr geboren
überhaupt kein Mensch wird dort geborenich schaue zum Horizont
er ist dreieckig, dreieckig
und die Sonnenblumen auf dem Feld lassen ihre Köpfe hängen, sie sind schwarz und vertrocknet, genau wie ich
so furchtbar alt
und ich bin nicht mehr Lyuba
nur ba

Das Beispiel von „Zerstückelung“ zeigt letztlich, dass, egal wie fragmentiert, entstellt und zerrüttet die Sprache im Krieg auch sein mag, aus ihr immer wieder etwas Neues und möglicherweise Heilendes entstehen kann. Ein Gedicht während des Krieges zu schreiben ist vielleicht nicht nur nicht barbarisch, sondern sogar notwendig.

von Alexander Sywasch

5. Die Stimmen der Nachbar*innen

Seit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat dieser Hunderttausende Menschenleben gefordert, nicht nur Soldat*innen, sondern auch Zivilist*innen, darunter Frauen, Kinder und ältere Menschen. Millionen Ukrainer*innen leiden an den Folgen des russischen Überfalls, sie verlieren ihr Zuhause und sind gezwungen, auf der Suche nach Hilfe und sicherem Schutz zu fliehen. Unbestreitbar wurde der Krieg in der Ukraine vom ersten Tag an zum Krieg des gesamten freien Europas. Daher schreibt man über den Krieg auch außerhalb der Grenzen der Ukraine. Am 24. Februar 2022 veröffentlichte die polnische Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk auf ihrer Facebook-Seite folgenden Eintrag: „Ich wiederhole meine Worte: Ich möchte mich vor den Ukrainern verneigen, die vom Moskauer Regime brutal angegriffen wurden, und obwohl es für diese Barbarei keine Worte gibt, möchte ich meine – unsere – Solidarität, Unterstützung und Ermutigung kundtun. Für mich ist der Angriff auf die freie Ukraine ein Angriff auf Europa.” Auf den Kriegsausbruch reagierten viele Autor*innen außerhalb der Ukraine nicht nur mit Interneteinträgen, sondern auch mit Essays oder Gedichten.

 

„Ich glaube an Worte als die letzte Waffe des Menschen”

Der belorusische Schriftsteller und Dichter Alhierd Bacharevič hat sich in seinen jüngsten Texten wiederholt an das ukrainische Nachbarland gewandt und seine Überlegungen geteilt, welche unter anderem in seinem offenen Brief an die Ukraine zu finden sind. In dieser Veröffentlichung bekundet Bacharevič seine Unterstützung und bringt seinen Schmerz über den „Tod, der gleichzeitig aus mehreren Richtungen kommt, auch vom Staatsgebiet meiner Heimat” zum Ausdruck. Indem er über die Scham und Schande spricht, bekennt er sich zur kollektiven Schuld: als Schriftsteller, der aus einem Land kommt, das zum Verbündeten des Aggressors wurde. Das Bild von Belarus hat sich heute kategorisch verändert: Vom Bild einer zivilen Gesellschaft, die die Demokratie im Jahr 2020 verteidigte, wandelte es sich in den Augen der Welt zum Bild eines treuen Anhängers des Putin’schen Regimes. Bacharevič versucht jedoch klarzustellen, dass es nicht die belorusische Gesellschaft ist, sondern Lukašenka, der Belarus und sein Volk in eine Sackgasse führt. Der Feind von Belarus und der Ukraine ist schlussendlich ein gemeinsamer – der russische Imperialismus.

„Das, was ich kann, sind eben nur Worte. Worte, für die ich mich verantworte. Ich glaube an Worte als die letzte Waffe des Menschen”, schreibt Bacharevič in seinem Essay „Der Pazifismus ist tot“ (Originaltitel: Pacyfizm pamjor, ins Deutsche übertragen vom Autor). Die vom Schriftsteller erwähnte „letzte Waffe“ wird auch in seinem Text eingesetzt:

 

Ich wünsche ihnen den Tod: wegen Charkiw und Mariupol, wegen Butscha und Tschernihiw. Ich will ein neues Nürnberg für sie. Der Krieg verhilft meiner dunklen Seite so rasch zur Rechtfertigung, als ob ich keine Werte, keinen Verstand und keinen Namen mehr hätte.

 

Der Krieg hat demzufolge einen bedeutenden Einfluss auf die Sprache: In extremen Situationen werden auch ‚schamlose‘ Worte verwendet. Was früher unmöglich schien, wird heute ohne Skrupel ausgesprochen. Ein starker Wunsch nach Rache und ein aufrichtiger Hass gegen diejenigen, die den Ukrainer*innen gewaltsam die Freiheit nehmen, kommen darin zum Ausdruck. In einem späteren Interview stellt Bacharevič fest:

 

Das Massaker von Butscha war für mich der Moment, in dem ich meine Sprache verloren habe. Im März habe ich vielleicht fünf Texte geschrieben über die Ereignisse in der Ukraine. Nach Butscha habe ich kein Recht weiterzuschreiben. Es gibt keine Worte, um so etwas zu beschreiben. Erst später kommt die Sprache, kommen die Worte wieder.

 

„Dort bei euch ist die Last der Nacht anders”

Das Gedicht „Dort bei euch“ (Tam u was) des polnischen Dichters, Prosaautors und Literaturkritikers Karol Maliszewski, das am 27. Februar 2022 in der renommierten Literaturzeitschrift Twórczość veröffentlicht wurde, ist eine lyrische Bekundung von Solidarität. Der Autor schreibt aus der Perspektive eines Polen und macht auf den Unterschied zwischen ukrainischem und polnischem Alltag in der Zeit des Krieges aufmerksam. Er beginnt sein Gedicht mit einer Beschreibung dessen, was die Ukrainer*innen am eigenen Leib erleben, in einfachen Worten (hier und folgend: Übersetzung der Autorin).

Tam u was ciężar nocy inny,

snują się godziny, czerwone plamy

na sufitach piwnic, wstrząsy, pomruki

odległego boga, i nie ma kto

opowiadać bajek, batalion bajarzy

formuje się zbyt wolno, więc dzieci

płaczą, nic ich ukoić nie może

Dort bei euch ist die Last der Nacht anders,

Stunden schweifen, rote Flecken

an den Decken der Keller, Erschütterungen, Gemurmel

eines fernen Gottes, und es gibt niemanden,

der Märchen erzählen kann, das Bataillon der Geschichtenerzähler

bildet sich zu langsam, also Kinder

weinen, nichts kann sie beruhigen

Danach kommen Zeilen, die der „Last der Nacht“ in der Ukraine eine polnische Nacht gegenüberstellen: eine Lieferung morgens verspätet sich wegen „Schlange für Sprit“, das wars. Damit enden die Turbulenzen für die Einwohner Polens. Und dennoch: „wir gehen auf steifen Beinen / in den nächsten Tag“. Wie lässt sich Solidarität ohne Pathos Bekunden? Maliszewski tut dies dezent in den letzten Zeilen seines Gedichts:

u nas noc jest połknięta niczym

sucha bułka, maślanki jeszcze nie

dowieźli, wóz dostawczy utknął

w kolejce po ropę, i to wszystko,

cała wojna, przechodzimy do

następnego dnia na sztywnych nogach,

jak apatyczne krokusy za oknem,

 

i nic nie cieszy;

może choć to was pocieszy.

bei uns wird die Nacht wie

ein trockenes Brötchen verschluckt, die Buttermilch wurde noch nicht

geliefert, der Lieferwagen blieb stecken

in der Schlange für Sprit, und das wäre

der ganze Krieg, wir gehen auf steifen Beinen

in den nächsten Tag,

wie apathische Krokusse vor dem Fenster,

 

und alles bleibt freudlos;

vielleicht tröstet das euch etwas.

Das Verbindende sind somit nicht die während des Krieges gesammelten Erfahrungen; zweifellos sind diese unvergleichlich. Was verbindet, ist die gemeinsame Trauer: „Und alles bleibt freudlos“ – obwohl sich der polnische Alltag nicht allzu sehr verändert hat. Was zählt, ist das Mitfühlen.

Es scheint, dass das poetische Wort nötig ist, um die Zeit des Krieges jenseits eines faktographischen Berichts zu beschreiben. Dies ist auch für Menschen, die außerhalb der Ukraine leben, hilfreich – da die poetische Reflexion uns ermöglicht, das zu verstehen, was wir jeden Tag auf unseren Fernsehbildschirmen oder in den sozialen Medien sehen. Das poetische Wort sensibilisiert uns für das Leid der Ukrainer*innen und macht uns unsere eigenen Emotionen bewusst. So können Literatur und die Kraft der Worte auch zu einem Mittel der Solidarität werden.

von Wiktoria Janecko

Literatur:

Andruchowytsch, Juri: Mittelöstliches Memento, in: Ders. / Stasiuk, Andrzej: Mein Europa. Zwei Essays über das sogenannte Mitteleuropa. Aus dem Ukrainischen von Sofia Onufriv, Frankfurt am Main 2004, S. 9-74 (ukr.: Central’no-schidna revizija).

Bacharevič, Alhierd: Brief an die Ukraine, in: Dekoder, 2022. Übersetzung von Alhierd Bacharevič und Tina Wünschmann, https://www.dekoder.org/de/article/ukraine-krieg-belarus-lukaschenko.

Bacharevič, Alhierd: Der Pazifismus ist tot, in: Dekoder, 2022, https://specials.dekoder.org/bacharevic-ukraine-belarus-krieg-pazifismus/.

Iakovlenko, Kateryna: Vorsicht, gefährliche Bäume. Aus dem Ukrainischen von Lydia Nagel, in: Mishchenko, Kateryna/Raabe, Katharina (Hg.): Aus dem Nebel des Krieges. Die Gegenwart der Ukraine, Berlin 2023, S.125-142.

Maksymchuk, Oksana / Rosochinsky, Max (Hg.): Words for War. New Poems from Ukraine. Boston 2017.

Maliszewski, Karol: Tam u was, in: Twórczość, 6 (919), 2022, https://tworczosc.com.pl/artykul/tam-u-was/ (Übersetzung des Gedichts im Text von Wiktoria Janecko).

Most: Vtomyvsja buty ja žyvym…; Moja jaskrava zirka v nebi…, in: Julia Varčuk: Vtomyvsja buty ja žyvym: istorija vijs’kovogo, jakyj v okopi pyše virši, Gluzd, 25.02.2023: https://gluzd.org.ua/articles/vtomyvsia-buty-ia-zhyvym-istoriia-viiskovoho-iakyi-v-okopi-pyshe-virshi/ (Übersetzung der Gedichte im Text von Evgeniia Grach).

Slyvynsky, Ostap: Wörter im Krieg. Aus dem Ukrainischen von Maria Weissenböck. Berlin 2023 (ukr. Slovnyk vijny. Charkiw 2023).

Žadan, Serhij, Himmer über Charkiv, aus dem Ukrainischen von Juri Durkot, Sabine Stöhr und Claudia Dathe, Berlin 2022.

 

Beitragsbild:

Zerstörtes Townhaus in Irpin‘, Kyjiv Oblast. September 2023. Credits: Elisabeth Bauer.

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